Max Zirngast ist ein österreichischer Journalist und Aktivist. Er steht in der Türkei unter Terror-Anklage und darf das Land nicht verlassen. Am 11. September wird der Prozess gegen Zirngast fortgesetzt. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 7,5 Jahre Haft.
Im September 2018 wurde Max Zirngast von der türkischen Polizei sogar verhaftet und für mehr als drei Monate ins Gefängnis geworfen. Zu Weihnachten 2018 wurde er dann zwar aus dem Gefängnis entlassen, muss aber weiter in der Türkei bleiben. Nach seiner Freilassung hat VICE mit ihm über seine Zeit im Gefängnis gesprochen. Doch wie geht es nun weiter?
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Die türkischen Behörden behaupten, dass der 30-Jährige der verantwortliche Leiter der verbotenen Organisation Türkiye Komünist Partisi/Kıvılcım (TKP/K, deutsch: Kommunistische Partei der Türkei/Funke) in Ankara sein soll. Es wäre eine beachtliche Karriere für einen jungen Österreicher, der zum Zeitpunkt der Anklage gerade einmal rund drei Jahre in der Türkei gelebt hat. Beweise für ihre Behauptungen haben die türkischen Behörden bis jetzt keine vorgelegt.
Entsprechend scharf wurde seine Verhaftung kritisiert. So haben etwa rund 600 Kunst-, Kultur- und Medienschaffende einen Appell für die Freilassung von Zirngast unterzeichnet. Vor dem Prozesstermin am 11. September haben wir mit ihm per Skype gesprochen.
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VICE: Wenn du verurteilt wirst, könntest du bis zu 7,5 Jahre ins Gefängnis gehen. Hast du Angst?
Max Zirngast: Nein. In Wirklichkeit wäre es derzeit auch völlig sinnlos, Angst zu haben. Es ist einfach nicht vorhersehbar, was beim Prozess passieren wird. Hier regiert komplette Willkür. Falls ich verurteilt werde, müsste ich für ein paar Jahre in ein Hochsicherheitsgefängnis, aber das erscheint mir nicht sehr wahrscheinlich.
“Es regiert die komplette Willkür.”
Fakt ist: Es gibt keinerlei Beweise gegen mich. Ich hoffe auf einen Freispruch oder eine geringe Strafe, also keinen weiteren Gefängnisaufenthalt. Bisher hatte ich vor Gericht auch das Gefühl, dass der Richter die Anklage selbst nicht ernst nimmt. Ich habe den Eindruck, dass er selbst nicht genau weiß, was er eigentlich mit mir tun soll.
Der Staatsanwalt, eigentlich die Antiterrorpolizei, hat ihm die Anklage einfach auf den Tisch gelegt. Sogar dem Richter ist offenbar klar, dass die Anklage völlig unsinnig ist. Aber das ist in der Türkei noch überhaupt keine Garantie für einen Freispruch.
Es könnte auch sein, dass die Anklage während des Prozesses einfach heruntergeschraubt wird. Beispielsweise könnte ich wegen Propaganda für eine terroristische Vereinigung angeklagt werden. Und die türkischen Terror-Gesetze sind so willkürlich und dehnbar, dass sie potentiell bei jedem Linken etwas finden, das sie verurteilen können.
Wenn die Polizei keinerlei Beweise gegen dich hat, warum wurdest du dann verhaftet?
In der Türkei kannst du derzeit für Monate oder Jahre ins Gefängnis gehen, wenn du auf Facebook oder Twitter einen Witz machst, der den Behörden nicht gefällt. Inoffiziell gibt es Verhaftungsquoten für die Polizei. Ich bin da vermutlich eine Art Kollateralschaden.
Das macht es derzeit auch gleichzeitig einfach und schwierig. Ich muss und kann mich gar nicht auf weitere Prozesstermine vorbereiten. Es gibt keinerlei konkrete Vorwürfe, deshalb kann ich auch keine Anschuldigungen widerlegen. Ich muss einfach mal warten, ob noch etwas Neues erfunden wird oder was noch weiter vorgelegt wird.
“Ich habe nichts zu verbergen.”
Beim Prozesstermin am 11. September werde ich dem Richter auch das neue Buch mit meinen gesammelten Schriften übergeben, das die Solidaritäts-Kampagne #FreeMaxZirngast dankenswerterweise herausgegeben hat. Da steht alles drinnen, was ich politisch denke. Ich habe nichts zu verbergen.
Würdest du nach dem Prozess die Türkei verlassen, wenn du nicht ins Gefängnis musst?
Auch das ist noch völlig unklar. Es ist sehr gut möglich, dass ich das ohnehin nicht selbst entscheiden kann. Es wäre etwa möglich, dass ich nach dem Prozess sofort ausreisen muss. Es ist aber genauso möglich, dass ich selbst nach Prozessende gar nicht ausreisen darf. Das wäre etwa der Fall, wenn ich mit geringem Strafmaß verurteilt werde und zwar nicht ins Gefängnis, aber wöchentlich zur Polizei muss, um mich zu melden.
Ich habe prinzipiell kein Problem, mich dem Prozess zu stellen. Ich weiß ja, warum ich angeklagt bin und dass es nichts mit tatsächlichen Straftaten zu tun hat. Ich würde aber nach dem Ablauf des ganzen Prozesses gerne grundsätzlich wieder in die Türkei reisen können.
Wie läuft eigentlich derzeit dein Leben in der Türkei?
Das ist derzeit ziemlich absurd. Einerseits darf ich das Land nicht verlassen, andererseits habe ich aber keinen Aufenthaltstitel. Und somit rechtlich keinen wirklichen Status. Rein rechtlich gesehen hat jede Person, die in der Türkei um Asyl angesucht hat, mehr Status als ich. Das relativiert sich etwas, weil ich Europäer und weiß bin. Es ist aber dennoch extrem nervig.
Ich kann mich etwa nirgends versichern, auch nicht privat. In der Türkei gibt es aber viel Solidarität und starke linke Strukturen, gerade auch für solche Probleme, die ja nicht nur ich habe. Beispielsweise hat mir eine befreundete linke Ärztin einen Weisheitszahn gezogen.
Das Problem mit der medizinischen Versorgung habe aber nicht nur ich. Das Gesundheitssystem ist bereits völlig privatisiert. Sogar die privaten Versicherungen decken etwa Probleme mit den Augen und den Zähnen nicht ab – oder nur mit Zusatzversicherungen, die so teuer sind, dass es kaum einen Sinn macht, sie abzuschließen.
Dann gibt es noch andere Probleme. Ich kann etwa mein Masterstudium nicht fortsetzen, weil ich mich ohne Aufenthaltstitel nicht wieder auf der Uni anmelden kann.
Ich kann nicht einmal meine Telefonnummer bei der Bank ändern, weil ich dazu eine Art Meldezettel bräuchte. Den bekomme ich aber nicht ohne Aufenthaltstitel. Und deshalb kann ich auch auf mein Konto nicht voll zugreifen.
Was bedeutet deine derzeitige Situation für dein Sozialleben? Du weißt ja eigentlich überhaupt nicht, wie lange du noch in der Türkei leben wirst und kannst.
Die Unsicherheit und Unplanbarkeit ist tatsächlich ein großes Problem. Gleichzeitig gibt es auch Leute, die Angst haben, sich mit mir zu treffen. Ich verstehe das. Das sind aber in meinem Fall wenige, weil ich irgendwie halt auch exotisch bin.
Aber alle verstehen, dass es nicht in meiner Hand ist. Viele Menschen haben derzeit Erfahrungen mit dem Justizsystem, daher gibt es auch viel Verständnis für meine Situation.
Wie wirkt sich die Repression in der Türkei auf das tägliche Leben aus?
Viele Menschen fühlen sich von den reaktionären Vorgaben der Regierungspartei AKP einfach in ihrem Alltag enorm eingeschränkt. Da geht es um Beziehungen, da geht es um Alkohol, da geht es um Sexualität. Für Männer ist es dabei noch etwas leichter, weil sie sich angesichts patriarchaler Strukturen noch mehr erlauben können. Doch ich kenne kaum Frauen, vor allem junge Frauen, die nicht enorm genervt sind.
Das gilt übrigens genauso für Frauen, die das Kopftuch tragen. Es gibt etwa Demos unter dem Motto “Lass meine Kleidung in Ruhe”. Da demonstrieren dann Frauen gemeinsam dafür, dass es ihre Entscheidung ist, ob sie Kopftuch oder Minirock tragen.
“Ich kenne kaum junge Frauen, die nicht enorm genervt sind.”
Berichten die Medien über solche Proteste?
Es gibt kaum noch Leute, die Tageszeitungen lesen, denn da steht eigentlich überall das gleiche drinnen. In der Türkei gibt es eigene Programme im Fernsehen, wo die Titelseiten aller Tageszeitungen vorgelesen werden. Die Überschriften sind teilweise bis hin zu den Satzzeichen identisch.
Die meisten jungen Leute beziehen ihre Informationen vor allem über soziale Medien. Einige beliebte Sender und TV-Serien sind einfach komplett ins Netz gewandert, weil sie nicht mehr im staatlich kontrollierten Fernsehen gezeigt werden können. Das sind beispielsweise kritische Krimiserien oder Serien und Filme, die soziale Themen direkt ansprechen. Im staatlich kontrollierten Fernsehen werden Alltagssprache und Flüche, aber auch Alkohol und Zigaretten, meist zensiert.
Kritische Medien im Internet sind oft mit Sperren konfrontiert. Die Leute, vor allem jüngere, wissen üblicherweise aber auch, wie sie Internet-Sperren umgehen können.
Hast du das Gefühl, dass die Regierungspartei AKP und die rechten Kräfte die gesellschaftliche Auseinandersetzung endgültig gewinnen könnten?
Ich glaube, dass die AKP von Präsident Erdoğan am Anfang vorgehabt hat, ihr konservativ-reaktionäres Gesellschaftsmodell tief in der Gesellschaft zu verankern. Das hat aber letztlich nicht in der Form funktioniert, wie sie das erhofft hatten. Seit einigen Jahren versuchen sie nur noch, irgendwie auf 51 Prozent zu kommen, alles andere ist zweitrangig. Das erklärt auch, warum sie immer mehr auf das Bündnis mit NationalistInnen und FaschistInnen setzen.
Trotz des reaktionären Drucks ist die Türkei in vielen Bereichen weiter eine sehr offene Gesellschaft. In Ankara gibt es etwa einen schönen Park, da kommen jeden Abend unglaublich viele Leute, um Bier zu trinken, zu plaudern, zu flirten. Viele Leute, auch solche, die nicht sonderlich politisch und links sind, wollen weiter eine demokratische und säkulare Lebensweise.
Es gibt sogar Statistiken, wie zuverlässig auch immer, dass das Bekenntnis zur Religion abgenommen hat und dass der Atheismus zunimmt. Die ständigen Belehrungen und Eingriffe ins Privatleben durch staatliche und religiöse Vertreter gehen extrem vielen Leuten einfach auf die Nerven oder zumindest zu weit.
Gleichzeitig stößt auch die Korruption der AKP immer mehr Menschen ab, das geht bis in erzreligiöse Kreise. Aktuell gibt es auch starke Fraktions-Auseinandersetzungen in der AKP, angeblich hat die Partei allein in den letzten Monaten über eine Million Mitglieder verloren.
Das klingt nach einer aufgeheizten Situation?
Das ist auch so. Auch die Alltagsgewalt hat enorm zugenommen. Vor allem Frauen werden Opfer von oft tödlicher Gewalt. Allein im August 2019 etwa wurden 50 Frauen ermordet, das ist eine erschreckende Zahl.
“Es gibt nun das Gefühl: Wir können die AKP loswerden.”
Die AKP hat kürzlich die Bürgermeisterposten in Ankara und Istanbul verloren. Wie wirkt sich das aus?
Der Wechsel ist im Alltag noch nicht so stark bemerkbar. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die CHP, also die türkische Mitgliedspartei der Sozialistischen Internationale [Anmerkung: der internationale Zusammenschluss der sozialdemokratischen Parteien], ebenso korrupt ist, etwa bei der Vergabe von Bauaufträgen.
Aber klar ist, dass sich die Stimmung dreht. Es gibt nun das Gefühl: Wir können die AKP loswerden.
Könnte es sein, dass die AKP putscht, wenn sie landesweit die Mehrheit verliert?
Möglich ist es natürlich und es ist der AKP auch absolut zuzutrauen. Unklar ist derzeit, ob die AKP dafür stark genug wäre und genug Unterstützung hätte.
Jüngst wurden auch die Bürgermeister mehrerer kurdischen Städte abgesetzt. Darunter auch der Bürgermeister der kurdischen Millionenmetropole Diyarbakır/Amed. Was bedeutet das für die Lage im kurdischen Teil der Türkei?
Diese Absetzung wurde offensichtlich vor allem vom Innenministerium vorangetrieben. Der Innenminister ist Teil einer erzfaschistischen Fraktion im Staat und der Polizei mit einem unglaublichen Hass auf die Linke und die kurdische Bewegung. Für die AKP könnte das aber noch Probleme aufwerfen. Denn diese Absetzungen stellen auch für viele kurdische AKP-SympathisantInnen die Legitimität der AKP erneut vehement in Frage.
Im kurdischen Südosten herrscht weiter Bürgerkrieg. Wie wirkt sich das im Alltag aus?
Die Türkei ist insgesamt ein Land im Krieg. Im Alltag ist das nicht so sehr zu bemerken – auch, weil sich die Bevölkerung daran gewöhnt hat. Klar ist, dass es etwa enorme Rüstungsausgaben gibt.
Es gibt ja auch nicht nur den Bürgerkrieg im Südosten. Die Türkei ist etwa auch in Syrien und im Nordirak in Kriege involviert und hält dort Gebiete besetzt. Im kurdischen Südosten habe ich den Eindruck, dass derzeit eher die PKK in der Offensive ist.
Aber es ist eine permanente Kriegssituation, die auch so schnell keine Seite für sich entscheiden wird. In den staatlich gelenkten Medien gibt es jedenfalls auffallend wenige Jubelmeldungen.
Wie wird sich deiner Meinung nach die Lage in der Türkei weiterentwickeln?
Es gibt verschiedene Tendenzen in der türkischen und kurdischen Gesellschaft: faschistische, bürgerlich-demokratische und sozialistische. Ich glaube aber nicht, dass sich eine Tendenz kurzfristig durchsetzen wird. Das ist für mich auch ein Spiegel der Weltlage.
Klar ist aber auch, dass immer mehr Menschen sozial sehr unzufrieden sind. Die Türkei ist in der wirtschaftlichen Rezession, das spüren die Menschen auch ganz konkret. Wenn der Funke kommt, kann es sein, dass es eine soziale Explosion gibt.
Würdest du nochmals genauso handeln, wenn du dich nochmals neu entscheiden könntest?
Auf jeden Fall! In der Türkei ist es aktuell eine Lotterie. Jede Person, die politisch aktiv ist, könnte verhaftet werden. Mein Fall ist auch nicht außergewöhnlich, Hunderttausende Menschen sind betroffen.
Doch das kann ja nicht bedeuten, die politische Aktivität für eine bessere Gesellschaft zu beenden. Ich glaube weiterhin, dass der Kapitalismus überwunden werden muss. Also hätte ich auch keinen Grund, irgendetwas anders zu machen.
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