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Popkultur

Was es Insassen eines Todestrakts bedeutet, wenn Wärter freundlich zu ihnen sind

Auch zum Tode Verurteilte sehnen sich nach menschlicher Wärme. Ein Häftling erzählt, wie ungeschriebene Regeln in US-Knästen die beinahe unmöglich machen.
Illustration: Sally Deng

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden, einer gemeinnützigen Nachrichtenorganisation, die sich mit dem US-amerikanischen Justizsystem beschäftigt.

Es war ein harter Schlag, als Kaplan Chestnut uns verließ. Er wolle ein neues Kapitel beginnen, erzählte er uns. Und seine Ehe retten. "Leute", sagte er eines Tages, "ich verbringe mehr Zeit im Todestrakt als draußen mit meiner Frau. Sie hat mich vor die Wahl gestellt: sie oder meine Arbeit." Weil er sie liebte, entschied er sich gegen uns.

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Der Abschied des Geistlichen war niederschmetternd. Chestnut hatte uns Insassen, die zum Tod verurteilt waren, immer fair, ja fast schon bevorzugt behandelt. Ihm war es wichtig, mit uns auf Augenhöhe umzugehen. Er sah uns als vollwertige Gemeindemitglieder an. Vor und nach Hinrichtungen stand er uns zur Seite, als es niemand anderes tat. "Vielleicht verstehen wir Gottes Plan nicht immer", sagte er. "Aber seid euch sicher, dass jeder Tod eines geliebten Freundes – egal wie ungerecht er auch sein mag – nicht unbemerkt bleiben." Wenn jemand hingerichtet worden war, trauerte er mit uns und hinter den verschlossenen Türen seines Büros vergoss er oft selbst Tränen.

Einige Aufseher störten sich allerdings sehr daran, wie Chestnut mit uns umging. "Die Zeit ist um, Kaplan", sagte zum Beispiel einer, bevor er mich hastig von einer Trauerrunde zurück in meine Zelle brachte.

Der Geistliche verließ uns im Jahr 2004. Seitdem ähnelten die Nachfolger mehr dem Großteil der Wächter: Paragraphenreiter, denen es vor allem darum ging, den Gefängnisangestellten den Arbeitsalltag so bequem wie möglich zu machen. Auf deren Rat legte niemand von uns Wert.

Auch wenn damals niemand von uns daran dachte: Chestnuts Abschied war eine Folge der ungeschriebenen Gesetze, die im Gefängnis den Kontakt zwischen Insassen und Angestellten regeln. Dass romantische Beziehungen oder jede andere Form von näherem Kontakt verboten sind, ist nachvollziehbar. Aber Menschen sind und bleiben soziale Wesen – egal, wie sehr man uns auch umerziehen oder erniedrigen will. Und genauso wenig, wie wir Insassen des Todestrakts auf unsere Verbrechen reduziert werden können, sind die Aufseher Roboter ohne Emotionen.

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Es gibt Angestellte, die uns freundlich, geduldig, respektvoll und mitfühlend behandelt haben. Die Aufseherin Johnson zum Beispiel ließ uns immer extra viel Zeit im Innenhof. Sie holte uns erst wieder rein, wenn sie von einem anderen Aufseher angefunkt wurde. Ihr Kollege Sutherland freute sich als leidenschaftlicher Angler immer darüber, mit jemandem über sein Hobby zu diskutieren – bei der Essensausgabe drückte er auch mal ein Auge zu, wenn sich jemand für einen Nachschlag ein zweites Mal in die Schlange stellte. Es sind genau solche kleine Gesten, die sowohl unseren als auch ihren Alltag erleichtern. Dazu gehören auch mehr Fernsehzeit, eine etwas länger offen stehende Zellentür oder mal ein Film, den ein Aufseher von zu Hause mitbringt.

Bevor mein Freund Earl 2005 hingerichtet wurde, ließ sich die Aufseherin Williams in die Küche versetzen. Sie konnte es nicht ertragen, dass sie auf ihrem vorherigen Posten quasi etwas zu dieser Hinrichtung beitragen würde. Einige Monate später verließ uns auch ihr Kollege Mr Beryl, weil er nicht länger den Anweisungen seines Chefs Wallace folgen und uns für belanglose Regelverstöße bestrafen wollte.

Wallace genoss es, uns eine Zehn-Dollar-Strafe (im Gefängnis ist das viel Geld) sowie Extra-Arbeit aufzubrummen. Meistens bedeutete das, im Innenhof Steine aufzusammeln und in einer Ecke auf einen Haufen zu legen. Beryl fand das lächerlich. Er ignorierte auch regelmäßig die anderen Regelverstöße, die sein Chef für inakzeptabel hielt – ein ungemachtes Bett, Familienfotos an den Wänden oder zu viele Bettlaken. "Ihr seid zum Tode verurteilt", sagte er immer. "Für mich ist das Strafe genug."

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Über allem steht der Status Quo: Die Insassen sind grundsätzlich weniger wert. Jede andere Haltung wird nicht akzeptiert.

Die meisten Aufseher im Todestrakt halten sich allerdings an die ungeschriebenen Gesetze: Zeige keinerlei Interesse, halte dich strikt an die Vorschriften, verhindere durch häufige Personalwechsel, dass Vertrautheit entsteht. Und über allem steht der Status Quo: Die Insassen sind grundsätzlich weniger wert. Jede andere Haltung wird nicht akzeptiert.

Einige Angestellte baten um eine Versetzung, weil sie diese ungeschriebenen Gesetze nicht länger akzeptieren wollten. Perry, der Leiter des Todestrakts, wechselte zum Beispiel in einen anderen Teil des Gefängnisses. Der Direktor der Haftanstalt hatte jeden seiner Versuche im Keim erstickte, etwas an unserem Alltag zu ändern. Perry war irgendwann klar geworden, dass er keinen guten Stand bei seinen Vorgesetzten hat, solange er uns Insassen nicht bestraft.

Das Gleiche passierte Dr. Kuhn, zwischen 2010 und 2017 Leiter der psychologischen Betreuung. Zunächst hatte alles noch gut ausgesehen: Kuhn startete mehrere Therapie-Programme: kreatives Schreiben, Schach, Yoga oder Kunst. Dadurch wuchsen unser Selbstvertrauen und unsere emotionale Reife. Das Verhalten des gesamten Trakts besserte sich.

Doch das Problem von Kuhns Programmen war: Sie standen im Widerspruch zu den ungeschriebenen Gesetzen. Nachdem ein Direktor, der noch mehr Wert auf Sicherheit legte, die Gefängnisleitung übernommen hatte, standen Kuhn und zehn seiner ehrenamtlichen Helfer unter strenger Beobachtung – wegen ihres freundlichen Umgangs mit fünf Insassen des Todestrakts (ich war einer von ihnen). Der neue Chef strich alle ihre Programme. Die Helfer hatten schnell keine Lust mehr und auch Kuhn nahm bald einen anderen Job an. Die Psychologen, die ihn ersetzten, folgen bei den Therapiesitzungen der strengen Linie der Gefängnisleitung: "Jede Handlung hat Folgen", sagen sie immer.

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"So sterben sie zumindest im Beisein von einem Menschen, den sie kennen, und fühlen sich nicht so allein." – Aufseher Cross

Diesen Januar ging auch Aufseher Cross in den Ruhestand. Ich weiß noch genau, wie ich ihn im Jahr 1997 kennenlernte. Damals war ich 19 und stand kurz davor, wegen zweifachen Mordes zum Tode verurteilt zu werden. Cross sah, wie jung ich war, und nahm mich zur Seite. "Verhalte dich unauffällig und dir wird nichts passieren", sagte er.

Jahre später erfuhr ich, dass Cross einige meiner Freunde in den Tagen vor ihren Hinrichtungen begleitet hatte. In ihren letzten 72 Stunden auf dieser Welt blieb er bei ihnen und ersparte ihnen, vor ihrem Tod komplett alleine zu sein.

Die Wachen, die in diesen sogenannten "Death Watch"-Dienst eingeteilt werden, sind sich der Schwere einer Todesstrafe viel mehr bewusst als irgendwelche Richter, Geschworenen oder Politiker. Darüber sprach ich mit Cross, bevor er ging. "Einige Insassen wollten, dass ich bei ihnen bin", sagte er. "So sterben sie zumindest im Beisein von einem Menschen, den sie kennen, und fühlen sich nicht so allein."

Nach seiner Pensionierung kehrte Cross noch einmal in den Todestrakt zurück – in zivil und zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn. Er stellte ihnen mehrere Insassen vor, die er teilweise besser kannte als deren eigenen Familien. Insassen, mit denen er mehrere Jahrzehnte verbracht hatte. Dann sah er sich noch ein wenig in seiner ehemaligen Arbeitsstätte um und verabschiedete sich schließlich mit einem Winken. Es war die Verabschiedung von jemandem, der genauso zu einem Teil unseres Lebens geworden war wie wir von seinem. Den ungeschriebenen Regeln zum Trotz.

Der 40-jährige Lyle May sitzt im Todestrakt des Central Prisons im US-Bundesstaat North Carolina. Nachdem er eine Mutter und ihr vierjähriges Kind ermordet hatte, wurde er zum Tode verurteilt.

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