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Rechtsextremismus

Die Neonazis sind nicht das Problem in Chemnitz

"Da waren viel mehr normale Leute", sagen Rechte. Und genau das ist die Tragödie.
Screenshot aus dem VICE-Video "Chaos in Chemnitz"

Ein paar haben es vielleicht übertrieben mit der Gewalt, findet Judy. "Aber wir brauchen die Rechtsextremen", sagt sie. "Wir brauchen Menschen, die mal in den Stadtpark gehen und einen umklatschen."

Die 32-Jährige Chemnitzerin hat das einem Spiegel-Reporter erzählt, der sie am Montagmorgen an der improvisierten Gedenkstätte für den getöteten Daniel H. angesprochen hatte. Und Judy ist nicht die einzige in Chemnitz, die so denkt.

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"Es sind nur die Moslems, die hier mit dem Messer rumlaufen, Angst und Schrecken verbreiten", sagt ein Mann mit Laptopkoffer und "südosteuropäischen Akzent" dem Reporter. "Denen muss man zeigen, wer hier das Sagen hat. Wenn sie heute wieder protestieren, gehe ich auch mit." Ein Rentner mit Deutschlandflagge an der Mütze sagt, er wolle mitgehen, weil man "ein Zeichen setzen" müsse. Auf die Frage, ob es ihn störe, dass bei der Kundgebung auch zahlreiche Neonazis dabei sein werden, antwortete der Mann erfrischend ehrlich: "Nein, da habe ich keine Berührungsängste."

So kam es dann auch: Tausende Menschen – die Schätzungen reichen von 5.000 bis 12.000 – versammelten sich am Montagabend zu der von der rechten Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" organisierten Kundgebung. Mit dabei: massenweise Neonazis. Mobilisiert hatten unter anderem die NPD, die rechtsextreme Kleinpartei "Der III. Weg" und rechtsextreme Hool-Gruppen wie "Kaotic Chemnitz" oder die "NS Boys", aber auch die Leipziger Hooligans um das "Imperium Fight Team". Die Crème de la Crème aus Sachsen also, dazu Leute, die extra aus "Berlin, Brandenburg, Thüringen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen" angereist waren, wie die Chemnitzer Polizei mitteilt.



Und dann machten diese Neonazis das, was sie immer machen: Sie brüllten rum, sie gingen auf Einsatzkräfte, Medien und Herumstehende los, zeigten Hitlergrüße und amüsierten sich prächtig auf ihrer "Trauerfeier". Klingt brutal, ist aber wahr: Die Schlägereien, mit der Polizei, die offen zur Schau gestellte Verfassungsfeindlichkeit, und ja, natürlich auch die "Jagdszenen", über die Deutschland sich jetzt so entsetzt zeigt – all das ist weder überraschendend noch neu. Das hat es, vor allem in Sachsen, schon oft gegeben.

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Das Problem ist nur: Normalerweise stehen dabei nicht Tausende Bürger drumherum und feuern sie an. Selbst wenn alle sächsischen Rechtsextremen in voller Stärke auftreten, würden sie nie über 6.000 Menschen zusammenbekommen. Das ging nur, weil sich eine sehr große Menge "normaler" Bürger ihnen angeschlossen hat. Das ist das Neue in Chemnitz, und das ist, worüber man sich wirklich Sorgen machen muss: die zahlreichen Menschen, die null Problem damit haben, Neonazis hinterherzulaufen.

Es ist eine Entwicklung, die mit den ersten Anti-Flüchtlingsheim-Bürgerbewegungen angefangen hat, bei denen man sich schonmal daran gewöhnen konnte, Mütter mit Kinderwagen neben drei volltätowierten, organisieren Neonazis laufen zu sehen. Weiter ging das mit Pegida, wo die spezielle "sächsische Mischung" aus wütenden Spießbürgern, "erlebnisorientierten" (und meistens besoffenen) jungen Männern und richtigen Neonazis vollends normal wurde.

Wenn diese Mischung auf einen zündenden Funken – zum Beispiel einen messerstechenden Flüchtling – trifft, dann bekommt man das, was man in Chemnitz beobachten konnte: einen enthemmten Mob, "Pegida auf Amphetaminen", aus dem heraus Dinge wie "Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!" gerufen werden. Ein Mob, in dem Leute, die nicht wie Neonazis aussehen, plötzlich wie besessen den Arm zum Hitlergruß hochreißen. Ein Mob, in dem es OK ist, wenn "mal einer umgeklatscht" wird, weil er eben so aussieht wie "einer von denen".

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Wie soll man eine solche Demo nennen? Rechte Beobachter reagieren jedesmal mit heiliger Empörung, wenn Medien diese Leute als "rechts" bezeichnen oder bemerken, dass Neonazis das Bild der Demo geprägt haben. Sie kritisieren, dass die Medien das Bild verzerren, wenn sie sich auf die paar krakeelenden Volltätowierte konzentrieren, und kramen selbstgefällig Fotos von den "normalen" Leuten hervor, die den Platz füllen. Und sehen dabei nicht, dass genau das das Riesenproblem ist.

Man dürfe die besorgten Bürger nicht so einfach "in die rechte Ecke stellen", erklärte der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach bei Sandra Maischberger, und die Bild griff das begeistert als Titelzeile auf. Das Problem ist gerade nur, dass diese besorgten Bürger sich faktisch dauernd selbst in diese Ecke stellen – und sich dort offenbar wohl fühlen.

Deshalb klingen die verzweifelten Appelle an die "Zivilgesellschaft" auch immer hohler, denn die Zivilgesellschaft wird nunmal von der Mehrheit gemacht. 2017 stimmten 56 Prozent der Menschen im Freistaat der Aussage zu, dass die Bundesrepublik "durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet" sei. Statt das Problem weiter kleinzureden, täten Politiker wie Bosbach, vor allem aber der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer gut daran, diese Leute ernst zu nehmen. Die Rechtsextremen haben ihr Angebot für ein neue Sachsen nämlich schon gemacht – auf Kosten des Rechtsstaates und der modernen Gesellschaft. Und im Moment scheint es so, als würden Menschen wie Judy und der Rentner mit Deutschlandflagge an der Mütze dieses Angebot gerne annehmen.

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