Wie Haitis Voodoo-Priester gesunde Menschen zu willenlosen Zombies machen
Voodoo-Zeremonie auf Haiti im Jahr 2000. Bei den Frauen auf dem Bild handelt es sich nicht um die im Artikel behandelten Zombies. Foto: imago/Danita Dellmont

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Wie Haitis Voodoo-Priester gesunde Menschen zu willenlosen Zombies machen

Der Forensiker Philippe Charlier brach zu einer düsteren Forschungsreise in die Karibik auf. Im Gespräch erzählt er uns, wie es war, die "lebenden Toten" zu treffen, und was hinter Haitis Zombie-Kult steckt.

Elegantes Tweed-Jackett, eng anliegende Weste, karierte Krawatte: Philippe Charlier sieht genauso aus, wie wir uns einen echten Professor immer vorgestellt haben. Sein Look passt auch zu den zahlreichen akademischen Qualitäten, die er in sich vereint: Doktor der Medizin, Forscher am Labor für Medizinethik der Universität Paris V, Anthropologe, Forensiker und Dozent.

Doch das ist noch nicht alles. Charlier ist unter Akademikern auch als "Indiana Jones der Friedhöfe" bekannt. Denn mit Ende 30 hat der Franzose schon so manche prominente Leiche untersucht: den Schädel von Heinrich IV., die angeblichen Überreste der Johanna von Orleans oder die Gebeine von Ludovico Sforza, einem Förderer Leonardo da Vincis. Tatsächlich ist Charlier mit Ende 30 so etwas wie ein Rockstar unter den Forensikern.

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Haitis Voodoo-Priester sollen ihre Opfer durch Gift in willenlose Sklaven verwandeln

Eine seiner jüngsten Forschungsreisen führte ihn nach Haiti. Auf der Karibikinsel wollte Charlier uralte Voodoo-Bräuche und Zombies erforschen – und wir meinen damit nicht die menschenfressenden Gestalten, die willenlos durch US-amerikanische TV-Produktionen schlurfen. Charlier interessiert sich nämlich für ein Phänomen, das in der haitianischen Kultur fest verankert ist: Angeblich verwandeln Haitis Voodoo-Priester ihre Opfer durch ein Gift in willenlose Sklaven.

Dazu stellen die Bokor, so werden die Priester genannt, ein Pulver auf Tetrodotoxin-Basis her – ein potentes Gift, das aus dem Kugelfisch gewonnen wird. Dieses Gift wird meist heimlich auf der Kleidung des Opfers verteilt. Wenn es dann mit der Haut in Berührung kommt, versetzt es den Körper in einen Starrezustand, so dass das Opfer von seinen Mitmenschen für tot gehalten und begraben wird. Weniger als 24 Stunden nach der Beerdigung gräbt der Voodoo-Hexer sein Opfer dann wieder aus und erweckt es mit einem Gegengift zum Leben. Durch weitere Mittel wird der "Zombie" dann gefügig gemacht und an einer Flucht gehindert. Auch wenn Mythos und Realität schwer auseinanderzuhalten sind, werden in Haiti jedes Jahr schätzungsweise 1.000 neue Fälle derartiger Zombifizierungen gemeldet.

Wir wollten von Charlier wissen, was er in Haiti erlebt hat und wie sein Zusammentreffen mit den Zombies aussah.

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Motherboard: Du hast auf Haiti also Zombies getroffen?

Philippe Charlier: Mehrere sogar! Den ersten Zombie – es war eine Frau – traf ich in einer Nervenheilanstalt. Denn das war der einzige Ort, an dem sie aufgenommen wurde und betreut werden konnte. Sie heißt Adeline und ist 40 Jahre alt. Sie war ungepflegt, scheute Augenkontakt und wirkte insgesamt recht abwesend. Sie malte ununterbrochen Voodoo-Symbole an die Krankenhauswände, die als "Vévés" bezeichnet werden. Sie erzählte, dass sie nach ihrem Tod mit den Voodoo-Geistern "Baron Samedi" und "Maman Brigitte" im Untergrund zu Abend aß. Die beiden hätten ihr auch diese geheimen Zeichen gezeigt, die sie nun überall zeichnet. Seit Kurzem darf sie die Anstalt tagsüber verlassen,. Sie nutzt diese Ausgänge, um überall in der Umgebung zu malen.

Dr. Philippe Charlier | Foto: David Abiker

Und Adeline ist überzeugt davon, dass sie tot war?

Ja, sie wurde sogar beerdigt. Sie sagt, dass sie in ihrem alten Leben Kinder und einen Ehemann hatte. Doch dann wurde sie zombifiziert und starb – das erzählt sie zumindest. Nach einer Weile – es müssen ein paar Stunden oder Tage gewesen sein – wurde sie von einem Bokor, so heißen die Voodoo-Zauberer, aus der Erde geholt. Er setzte sie dann als Haushaltshilfe ein.

Kann sie sich an an diese Zeit als Zombie erinnern?

Sie kann sich sehr genau an das Haus erinnern, in dem sie arbeitete. Es war ein großes Haus mit zwei Stockwerken. Dort musste sie sich um die Kinder kümmern, aber diese durften sie nicht berühren. Denn sie symbolisierte den Tod, das Unsaubere und den "bösen Blick". Als man sie bat, das Erlebte aufzumalen, zeichnete sie Kinder ohne Arme, weil sie keinen physischen Kontakt mit ihnen hatte.

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Wie ist sie dieser Situation entkommen?

Während des schweren Erdbebens in Haiti 2010 stürzte das Haus ein, während sie gerade einkaufen war. Wir wissen nicht, ob die anderen Bewohner des Hauses starben, aber damals kam sie frei und war plötzlich auf sich allein gestellt . Entweder kam sie durch das Erdbeben zu sich und beschloss zu fliehen, in der Hoffnung, dass ihre Unterdrücker sie nicht verfolgen würden. Oder aber sie kehrte zum Haus zurück und erkannte, dass es kein "Zuhause" mehr gab und wurde so wieder Herr über sich selbst. An dieser Stelle wird sie in ihren Erzählungen unklar.

Und dann wurde sie als 'Lebende Tote' von ihren Verwandten wieder erkannt?

Ja. Ihre Familie identifizierte sie als die Person, die sie beerdigt hatte. Ihre Kinder und zwei ihrer Schwestern haben sie wiedererkannt. Für Adelines Familie gibt es da keinen Widerspruch: Sie ist gestorben, sie war tot, dann hat sie jemand wieder aus der Erde geholt und wiederbelebt. Und nun ist sie wieder da.

Okay, aber wie wurde sie überhaupt zum Zombie?

Praktisch gesehen war sie natürlich nie tot. Sie wurde durch eine giftige Substanz in einen totenähnlichen Zustand versetzt, für tot erklärt, begraben und nach einigen Stunden durch einen Bokor zurückgeholt – all das ist Teil eines "rechtmäßigen" Voodoo-Verfahrens. Doch in der haitianischen Folklore wird dieser Vorgang als echter Tod betrachtet, auf den eine Auferstehung folgt, die durch Magie herbeigeführt wird.

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Was genau verstehen Haitianer unter einem Zombie?

Tatsächlich gibt es auf Haiti drei verschiedene Arten von Zombies. Der erste ist der "psychiatrische Zombie": Patienten, die sich einbilden, tot zu sein. Dabei handelt es sich um chronische Psychosen, eine Art der Schizophrenie, denn diese Leute sind davon überzeugt, dass sie gestorben sind und begraben wurden. Nichts davon ist wirklich passiert, aber diese Menschen werden trotzdem als Zombies bezeichnet.

Die zweite Art ist der magisch-religiöse Voodoo-Zombie. Zu dieser Kategorie gehört Adeline, die Frau, über die wir eben gesprochen haben: Ich habe noch einen weiteren Zombie dieser Art getroffen: Einen Doktor namens Jacques Ravix, der von seiner Schwiegermutter vergiftet wurde, weil er seine Frau verlassen wollte.

Das Nervengift wird aus Kugelfischen gewonnen | Bild: imago | Nature Picture Library

Die Voodoo-Zombies sind also psychisch gesunde Personen, die von einer anderen Person zum Zombie gemacht wurden?

Ja, genau. Doktor Ravix wurde von einem Zauberer mit dem Gift des Kugelfisches, Tetrodotoxin, vergiftet. Es ist ein Pulver, das Substanzen enthält, die Juckreiz auslösen. Wenn sich die Leute dann kratzen, entstehen kleine Risse in der Haut, durch die das Gift eindringen kann.

Das Opfer wird in einen schlafenden Zustand versetzt, so dass Außenstehende glauben, es sei gestorben. Aufgrund des Klimas und aus hygienischen Gründen werden Beerdigungen auf Haiti noch am Tag des Todes abgehalten. Es gibt keine Möglichkeit, die Leichname zu lagern. In der Nacht holen die Bokor die Opfer dann aus ihrem Grab und "erwecken" sie mit verschiedenen Mitteln und Peitschenhieben "zum Leben". So wird aus dem vermeintlich Toten ein Zombie.

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Du hast eben gesagt, dass dieses Ritual zu einer Art "Rechtssystem" gehöre?

Es handelt sich tatsächlich um das Rechtssystem einer parallelen Gesellschaft, das von Geheimbünden ausgeübt wird. Diese geheimen Vereinigungen wurden von den ehemaligen Sklaven übernommen, die die Insel Ende des 18. Jahrhunderts befreiten. Von ihnen stammt auch das pharmazeutische und magische Wissen. Sie üben das "magisch-religiöse" Recht aus und können eine Strafe verhängen, die schlimmer ist als der Tod: Sie verurteilen Menschen dazu, ihren eigenen Tod zu erleben und dann in einem willenlosen Zustand gefangen zu sein. Denn das ist es, was das Dasein als Zombie ausmacht: Du stirbst sozial. Die Geheimbünde sagen, dass ein rechtschaffener Mensch nichts zu befürchten hat. Sie befolgen ihre eigenen Gesetze und schützen ihre Gesellschaft. Sie sagen, dass die Zombifizierung nur Leute trifft, die gefährlich für die Allgemeinheit sind: Vergewaltiger, Mörder, Diebe. Die Zombifizierung ist eine Strafe für jemanden, der Probleme macht, und diese Entscheidung wird gemeinschaftlich getroffen. Doch einige Bokors missbrauchen ihre Macht.

Indem sie das Ritual auch außerhalb der Geheimbünde anwenden?

Ja, sie wenden es nach eigenem Ermessen an. Entweder aus Rache an jemandem, der beispielsweise ein Geheimnis verraten hat, oder sie lassen sich von jemandem bezahlen, der einem anderen Menschen Schaden möchte. In diesen Fällen hat das Opfer meist gar kein Verbrechen gegen die Gesellschaft verübt. Wenn ein Bokor so einen Auftrag annimmt, wird das in den Geheimbünden sehr schlecht angesehen. Es gilt als Missbrauch göttlicher Kräfte oder gar als Todsünde. Entsprechend kommt es auch vor, dass der Geheimbund entscheidet, den Bokor selbst zu zombifizieren.

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Du hast noch eine dritte Form von Zombies erwähnt…

Der "soziale" Zombie. Er füllt eine menschliche Lücke. Wenn ein Mensch verschwunden ist, aber der Körper nie gefunden wurde, suchen die Hinterbliebenen nach einem Ersatz. Diese Lücke kann ein Zombie füllen. Ein solcher Zombie ist jemand, der umherzieht, der nichts tut, beispielsweise ein Obdachloser. Es kann aber auch jemand sein, der alles verloren hat, der allein ist. Mit der neuen Identität ersetzt er die vermisste Person. Durch das Konzept des Zombies kann er eine neue Identität annehmen, und alle sind damit glücklich: Die Hinterbliebenen, die eine Lücke in ihrem Leben füllen können und der "Zombie", der zuvor alleine war. In diesem Fall geschieht die "Zombifikation" einvernehmlich.

Da bekommt man den Eindruck, dass Zombies ein vollwertiger Teil der haitianischen Gesellschaft sind…

Es handelt sich um eine parallele Welt. Natürlich trifft man auf Haiti nicht an jeder Straßenecke einen Zombie, vor allem nicht in der Hauptstadt Port-au-Prince. Aber man hört mehrmals am Tag von Zombie-Fällen, liest davon in der Zeitung – das Phänomen ist komplett in der Kultur verwurzelt. Haitianer haben eine ganz andere Beziehung zum Tod als wir. Sie bereiten sich aktiv auf das eigene Ableben vor. Sie glauben sogar, dass man den Zeitpunkt des eigenen Todes auf keinen Fall verpassen sollte.

Und sie fürchten, dass ihre Verwandten zombifiziert werden könnten.

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Ja, Haitianer beschützen Gräber, sie zelten auf Friedhöfen und mieten manchmal sogar Gräber, um darin zu wohnen. Tatsächlich sind Friedhöfe auf Haiti genauso lebendig wie Schulen oder Gemeindehäuser. Vor allem auf dem zentralen Friedhof von Port-au-Prince spielt sich viel gemeinschaftliches Leben ab. Es ist dort sehr lebendig, der Friedhof ist immer in Bewegung. Es finden ständig Voodoo- oder christliche Rituale statt.

Wir haben ja schon über den Begriff "Rechtssystem" gesprochen , aber wie sieht es mit der haitianischen Justiz aus? In Deutschland wird auch der Versuch einer Vergiftung bestraft, selbst wenn das Opfer dabei nicht stirbt. Wie wird die Zombifikation auf Haiti rechtlich eingestuft?

Es ist ein Mordanschlag. Wenn die Person begraben wurde, selbst wenn sie noch lebt, dann ist es trotzdem ein Mord. Dafür gibt es auch juristische Lösungen. Ich habe auf Haiti einen Anwalt für Strafrecht, Mr. Jeanty, getroffen, der mit diesen Vorgängen sehr vertraut ist. Wenn ein Zombie sein Bewusstsein wiedererlangt hat, kämpft Jeanty dafür, dass auch seine rechtliche Identität wieder hergestellt wird. Es gibt zwar Todesurkunden, aber keine "Auferstehungsurkunden". Daher versucht er die ursprüngliche Familie des Zombies dazu zu bringen, eine Adoptionsurkunde auszustellen. Im Grunde adoptiert die Familie den Zombie und gibt ihm seinen Namen zurück. Das ist zwar ein juristischer Akt, aber es ist bisher die einzige Lösung.

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Haben Haitianer Angst davor, zu Zombies zu werden?

Solange sie Gutes tun, haben sie zumindest in der Theorie nichts zu befürchten. Bevor man von einem Geheimbund zombifiziert wird, erhält man eine Warnung, dass man zum Zombie werden wird, wenn man so weiter macht. Also hat man Zeit, sich zu bessern, bevor man bestraft wird. Doch wenn es um einen Bokor geht, der sich nicht an die Regeln hält, sondern aus Geldgier handelt, kann man nichts machen. Also ja, es gibt eine gewisse Angst. Darum versuchen sich einige Menschen zu schützen, indem sie einen Teil ihrer Seele, den "Ti Bon' ange" in Kreolisch, in eine Glasflasche füllen, die sie von einem Houngan, einem Voodoo-Priester, schützen lassen. Das bedeutet, dass ein Teil ihrer Seele intakt bleibt, selbst wenn sie zu Zombies werden, weil sie unter göttlichem Schutz steht.


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In welchem Verhältnis stehen diese haitianischen Zombies zu den menschenfressenden Zombies aus Produktionen wie 'The Walking Dead'?

Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Menschen sind von den Zombies aus der Popkultur fasziniert, weil sie die sichtbare Seite des Todes verkörpern. Sie verwandeln jeden in Zombies, den sie beißen. Sie sind die ultimative Gefahr, der übertragbare Tod. Aber darum geht es auf Haiti nicht.

Aber in beiden Fällen spricht man von Zombies.

Das stimmt. Die Amerikaner waren von diesem Phänomen fasziniert, als sie Anfang des letzten Jahrhunderts auf der Insel einmarschierten [von 1915 bis 1934 war Haiti von den Vereinigten Staaten besetzt]. Sie trafen auf den Voodoo-Zombie und adaptierten ihn in Filmen wie "The White Zombie" mit Bela Lugosi. Jahre später kam dann "Die Nacht der lebenden Toten" heraus und die weiteren Teile aus Romeros Zombie-Filmreihe, die den westlichen Zombie-Mythos weiter schürte. Aber das Konzept wurde völlig verändert und an unsere westliche Kultur angepasst. Für einen Haitianer haben diese Gestalten nichts mit den ursprünglichen Zombies zu tun.

Also gibt es da keine Ähnlichkeit?

Naja, einen Aspekt vielleicht. Das Konzept des "sozialen Todes" eines Zombies gibt es nicht nur auf Haiti. Einige meiner Patienten im Nanterre Krankenhaus könnten nach genau den gleichen Kriterien beurteilt werden wie Zombies auf Haiti: Sie befinden sich außerhalb der Gesellschaft, leiden unter psychischen Störungen, wurden von ihren Familien abgeschnitten, manchmal nehmen sie eine andere Identität an, kurz gesagt: Sie sind gesellschaftlich tot. Meine Patienten in Nanterre waren ebenfalls komplett aus der Gesellschaft verschwunden. Sie waren weggesperrt und ihre Familien besuchten sie nicht mehr. Sie waren im ursprünglichen Sinne des Wortes zombifiziert. Dieser soziale Tod trifft auch auf Menschen in Altersheimen zu, auf Obdachlose, Migranten, Komapatienten und einige Opfer sexueller Gewalt, die sich selbst als "innerlich tot" bezeichnen – all diese Menschen würden in Haiti als Zombies betrachtet werden.