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Popkultur

Jim Jones – Vom Bürgerrechtler zum Anführer einer Selbstmordsekte

Bevor er den größten Massenselbstmord in der US-Geschichte befehligte, war der Prediger ein Menschenrechtsaktivist und Sozialist.
Foto: Nancy Wong | Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Der größte Massenselbstmord in der modernen US-Geschichte ereignete sich nicht auf amerikanischem Boden, sondern tief im Dschungel von Guyana. Am 18. November 1978 starben mehr als 909 Anhänger des Predigers Jim Jones, nachdem sie auf sein Geheiß ein mit Zyankali versetztes Getränk zu sich nahmen. Viele tranken das Gift freiwillig, andere wurden gezwungen. Unter den Toten waren 276 Babys und Kinder.

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Diese Menschen, darunter auch viele Schwarze, waren dem charismatischen Führer und seiner Vision von einer sozial gerechteren Welt nach Südamerika gefolgt, um dort ein alternatives Leben zu führen.

Am Tag vor der schrecklichen Tat war der amerikanische Kongressabgeordnete Leo Ryan mit einem Tross aus Journalisten und Familienangehörigen in dem hermetisch abgeriegelten Sektendorf Jonestown eingetroffen. Nach einem herzlichen Empfang durch Jones und seine Anhänger wurden dem Politiker jedoch schon bald von Bewohnern heimlich Zettel zugesteckt. Jones würde sie dort gefangen halten und sie wollten das Camp unbedingt verlassen. Nachdem sich den Besuchern immer mehr offenbarte, dass die heile Welt von Jonestown ein Trugschluss war, gab der Kongressabgeordnete bekannt, alle mitzunehmen, die nicht länger dort bleiben wollten.

Als der Politiker zusammen mit der Gruppe von Aussteigern, Medienvertretern und Familienangehörigen das Flugzeug besteigen wollte, eröffneten Jones' Anhänger das Feuer. Fünf Menschen, darunter der Kongressabgeordnete Leo Ryan, starben. Jim Jones, der in diesem Moment das Ende seines Kults gekommen sah, gab daraufhin den Befehl zum Massenselbstmord.

Natürlich überschattet dieses beispiellose Ereignis die Anfänge von Jim Jones und seinem Peoples Temple, dem Volkstempel. Dabei war seine religiöse Bewegung keineswegs als morbides Himmelfahrtsunternehmen gestartet. Zu Beginn seiner Karriere war Jones ein progressiver und durchaus erfolgreicher Anführer der aufkeimenden Bürgerrechtsbewegung. Zwischenzeitlich war er sogar kurz davor, eine Politikerkarriere zu starten.

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In seinem neuen Buch, The Road to Jonestown: Jim Jones and Peoples Temple, erforscht der Investigativ-Journalist Jeff Guinn die Geschichte von Amerikas zweitberüchtigtstem Sektenführer. Zuvor hatte er bereite einen Bestseller verfasst: Manson: The Life and Times of Charles Manson. Nun erzählt er von Jones' Anfängen als idealistischer Prediger in Indianapolis über seinen Sündenfall mit Sex, Drogen und dubiosen Heilpraktiken in Kalifornien bis hin zu seinem vermeintlichen Dschungelparadies in Guyana. Und er zeigt: Jones war alles andere als ein herkömmlicher Scharlatan. Wir haben mit Guinn über den Mann gesprochen, der vom amerikanischen Möchtegern-Gandhi zu einem der berüchtigtsten Sektenführer der Welt wurde.


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VICE: Jim Jones' Anfänge als junger Pastor in Indianapolis haben mich fasziniert. Wie war er damals und gab es dort schon Anzeichen für das, was er später werden würde?
Jeff Guinn: Es gab definitiv schon in seiner Kindheit Hinweise darauf, dass wir es mit einer in mancherlei Hinsicht zutiefst außergewöhnlichen Person zu tun haben. Bereits als Kind war er durchtrieben und manipulativ. Er war zu allem bereit, um sich selbst zum Anführer zu machen und andere seinen Befehlen folgen zu lassen.

Wenn du dir seine prägenden Jahre in den 1940ern und 1950ern in Indianapolis anschaust, ist aber viel schockierender, dass dieser Mann fast im Alleingang für die Aufhebung der Rassentrennung in der Stadt verantwortlich war – und das Jahre bevor Bürgerrechtsgesetze die Integration zur Pflicht machten.

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Seinen Ruf hatte er sich verdient, indem er wirklich großartige Dinge erreicht hatte – den gleichen Ruf, den er später dazu verwendete, zahllose Menschen in den Ruin oder Tod zu treiben. Wenn Jim Jones Ende der 1950er in einem Autounfall gestorben wäre, würden wir uns heute an ihn als einen der großen Vorreiter der Bürgerrechtsbewegung erinnern – und das durchaus zu Recht.

Das macht das Geschehene aber noch trauriger und noch tragischer. Er hatte die Fähigkeit, Großes zu tun, aber setzte sein Talent ein, um Menschen zu manipulieren. Deswegen erinnern wir uns heute an ihn als einen schrecklichen Menschen. Auch diesen Ruf hat er sich, ehrlich gesagt, verdient.

Wie hat Jim Jones in seinen Predigten Glaube und Marx vereint? Warum hat ihm gerade das so viele Anhänger beschert?
Nicht alle hatten sich dem Peoples Temple aus den gleichen Gründen angeschlossen. Jones war ein wahrer Meister darin, etwas für einen Teil seiner Anhänger darzustellen und etwas anderes für einen anderen. Seine Bewegung basierte anfangs gleichermaßen auf der Bibel und dem Versuch, seine Anhänger noch zu Lebzeiten so etwas wie soziale Gerechtigkeit erfahren zu lassen. Er vertröstete sie nicht mit Heilsversprechen fürs Jenseits. Als seine Gemeinde immer größer wurde, begann er, sich mit seinen Anhängern für sozialen Wandel einzusetzen.

Sie wurden politisch und gesellschaftlich sehr aktiv und es gab Menschen, die ihm genau deswegen gefolgt sind. Der religiöse Aspekt war ihnen ziemlich egal, sie wollten eine Veränderung bewirken. Jones war Sozialist – nicht Kommunist, wie manchmal behauptet wird. Die Aufgabe des Peoples Temple hätte er wohl folgendermaßen beschrieben: die Hungrigen zu speisen, die Nackten zu kleiden und einen Standard zu setzen, der jedem Würde und eine Chance gibt. Der Peoples Temple sollte ein leuchtendes Vorbild sein – eins, dem der Rest der Welt letztendlich folgen würde, ja zwangsläufig folgen müsste.

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Er behauptete von sich selbst auch, Gott zu sein und Wunderheilkräfte zu haben. Das war natürlich alles inszeniert. Ein gewisser Anteil seiner Anhänger folgte ihm allerdings tatsächlich, weil sie ihn für etwas hielten, das mehr war als nur ein Mensch.

Gab es einen bestimmten Wendepunkt, an dem es anfing, zu kippen? Jones' Verfehlungen scheinen sich über viele Jahre zu erstrecken. Wie konnte er das so lange durchziehen?
Es hat so lange bei ihm funktioniert, weil er es schrittweise getan hat – nicht auf einmal. Einer seiner Anhänger beschrieb es einmal so: Wenn du einen Frosch in einen Topf heißes Wasser wirfst, versucht er sofort rauszuspringen. Wenn du ihn aber in einen Topf lauwarmes Wasser wirfst und es nur langsam erhitzt, bleibt der Frosch so lange drin, bis er totgekocht ist. Erst als es schon zu spät ist, merkt er, dass er hätte rausspringen sollen. Jones hat das Wasser in seiner Gemeinde nur langsam erhitzt.

Er hatte so viele loyale Anhänger, weil der Peoples Temple viele sinnvolle Dinge machte. Sie halfen den Menschen, die Hilfe brauchten. Erst nach und nach entpuppte sich Jones als das Monster, das er letztendlich war. Wenn wir heute zurückblicken, denken wir natürlich schnell, dass er schon die ganze Zeit so gewesen sein muss – dass seine ganze Gefolgschaft nur aus gehirnamputierten Idioten bestand. So war es aber nicht. Bis hin zu seinen letzten Monaten in Jonestown, als die Drogen und seine persönlichen Dämonen schließlich die Überhand gewannen, hatte Jones die Fähigkeit, quasi jeden, der ihm über den Weg lief, davon zu überzeugen, dass er einer der besten und sozial engagiertesten Menschen auf der ganzen Welt ist.

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Wie nah kam Jim Jones einer Politikerkarriere wirklich?
Sobald Jones in Kalifornien war, war er von Anhängern umgeben, die ihn für unfehlbar hielten. Alles, was Jim sagte, musste wahr sein. Niemand kritisierte ihn mehr. Er hörte nur noch, wie genial und wie großartig er sei. Es ist nur menschlich, das dann irgendwann selbst zu glauben, und Jones war für solche Sachen definitiv anfälliger als die meisten von uns.

Kurz bevor die ganzen Skandale in Kalifornien öffentlich wurden, die ihn schließlich nach Guyana brachten, begann Jones mit einem Einstieg ins Politgeschäft zu liebäugeln. In Interviews sagte er, er könne nicht für ein öffentliches Amt kandidieren … noch nicht. Aber vielleicht bald. Jones arbeitete hinter den Kulissen als Bürgerrechtler. Er kannte Senatoren, Kongressabgeordnete und den Gouverneur. Er überlegte, selbst in die Politik zu gehen. Ein Mann, der glaubt vielleicht Gott zu sein, denkt politisch allerdings in größeren Dimensionen. Jim Jones als Präsident der Vereinigten Staaten scheint aus heutiger Sicht eine wahnwitzige Vorstellung zu sein, aber wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Donald Trump jemals Präsident wird?

Du hast schon viel über Verbrechen geschrieben, aber das Massaker von Jonestown ist ein besonders dunkles Kapitel in der amerikanischen Geschichte. Hat dich das mitgenommen?
Das Kapitel über den 18. November 1978 zu schreiben, war das Schwierigste, was ich je getan habe. Ich beschäftige mich jetzt fast ein halbes Jahrhundert mit solchen Sachen, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Ich habe Betroffene kennengelernt, ich war selbst in dem Dschungel. Ich habe mich durch das Dickicht dorthin durchgeschlagen und ich weiß, was es bedeutet haben muss, in diesem November auf dem Höhepunkt der Regenzeit dort im Matsch gestanden zu haben.

Als ich das Kapitel fertig hatte, tat es mir beim Lesen weh. Ich wusste ja schon auf den ersten Seiten, was passieren wird. Nicht nur, was passiert, sondern warum es passiert und wem es passiert. Ich hoffe, dass die Menschen durch das Buch Jim Jones und den Peoples Temple besser verstehen – dass sie es nicht nur für eine Freakshow halten, sondern die vielen Facetten dahinter erkennen. Vielleicht sollten wir uns alle mehr Gedanken über Demagogen machen. Es hat sie nämlich immer gegeben und es wird sie immer geben.

Genau wie die Manson Family hat sich Jones' Sekte in das amerikanische Bewusstsein eingebrannt. Woran liegt das?
Jonestown ist auf seine Weise auf einer Stufe mit der Kennedy-Ermordung und 9/11. Es ist ein so schreckliches Ereignis, dass man kaum begreifen kann, dass es wirklich passiert ist. Durch Jonestown hat sich in den USA sogar die Redewendung "Don't drink the Kool-Aid" etabliert, weil der Gifttrunk mit dem Getränkepulver Kool-Aid angesetzt worden war. Es bedeutet in etwa: "Fall nicht auf verrückte Führer ein, die dich wahnsinnige Dinge tun lassen!" Dabei starben viele Opfer gar nicht durch den Trunk. Ihnen wurde das Gift gewaltsam injiziert. Das war Mord.
Darüberhinaus waren das nicht irgendwelche Idioten, die auf einen dahergelaufenen Scharlatan hereingefallen waren. Wenn wir zu verstehen versuchen, was diesen Menschen hier in einem größeren Zusammenhang passiert ist, bekommen wir ein besseres Bild davon, wie wir dazu tendieren, auf Demagogen hereinzufallen. Nur so können wir verhindern, dass sich sowas in Zukunft wiederholt.

Als der Kongressabgeordnete Leo Ryan mit den Medienvertretern nach Guyana kam, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Jones wartete nur auf diesen einen großen, finalen, dramatischen Akt, der seinen Namen für immer in der Geschichte verewigen würde. Ryan war zweifelsohne besagter Tropfen, aber dieser Tropfen wäre bald so oder so gefallen. Rückblickend können wir Jim Jones verachten. Wir können ihn dafür hassen, was er getan hat. Auf einer persönlichen Ebene hat er allerdings genau das erreicht, was er wollte. Er wollte berühmt sein. Er wollte, dass man sich an ihn erinnert. Und das tut man.

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