Honey Dijon hat keinen Bock auf Techno-Prolls
Jake Lewis

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Honey Dijon hat keinen Bock auf Techno-Prolls

Pillen schmeißen, Koks ziehen und versuchen, Mädels abzuschleppen? Das kann doch nicht alles sein, findet die DJ. Wir haben mit ihr einen Nachmittag verbracht.

Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP UK erschienen

Honey Dijon ist die große Schwester, die du dir immer gewünscht hast: witzig, intelligent und manchmal kratzbürstig. Und sie spielt heute in London, meiner Stadt. Die Genregrenzen sprengende DJ, Fashion-Ikone und Aktivistin für Transrechte hat sich vorher aber noch bereiterklärt, einen Nachmittag lang mit mir der wohl schwesterlichsten aller Aktivitäten nachzugehen: Magazine shoppen und über Jungs lästern – genauer, Techno-Prolls.

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"Es sind immer weiße Heterotypen, die einem die Party zu versauen scheinen!", sagt sie zu mir, während wir die Regale von magCulture durchstöbern, Londons größtem unabhängigen Magazinladen.

Wenn Dijon direkt ist, dann weil sie es sein muss.

Wir sprechen hier von einer Frau, die keine Zeit für Umschweife hat. Natürlich sind alle DJs die Jetlag-induzierte Müdigkeit gewohnt, aber Dijon summt geradezu vor dieser nervösen Energie, die nur die ernsthaft Erschöpften ausstrahlen. Den ganzen Weg zum Laden über ist Dijon an ihrem Handy – und es ist eine wahre Freude, ihrem Gespräch zu lauschen.

Während der zehnminütigen Fahrt redet sie über die exakte Definition des englischen Worts shade; diskutiert ihre Dinner-Pläne mit einem Clubbesitzer (es wird ein veganes Restaurant in Dalston) und sagt Sachen wie: "Keine Ahnung, ich gehe einfach dahin, wo mein Agent mich hinschickt" – ein Satz, den ich hoffentlich eines Tages selber sagen werde.


Aus dem VICE-Netzwerk: "i-D goes Beyond Clubbing" mit Lyra:


Hier sind ein paar Sachen, die in jedem Artikel über Honey Dijon stehen:

Sie kommt aus Chicago und hat ihr Handwerk bei House-Legenden wie Derrick Carter und später Danny Tenaglia gelernt. Sie ist eine der wenigen echten Underground-DJs, die enge Verbindungen zur Fashionwelt hat (sie ist mit Ricardo Tisci befreundet und feiert mit der Fashion-Elite). Sie wuchs in der New Yorker Clubszene der 1990er auf und weigert sich, in irgendwelche Genreschubladen gesteckt zu werden, spielt aber größtenteils House und Techno. Sie ist trans*.

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Folgendes liest du hingegen eher selten:

Sie ist teuflisch schlau und intellektuell wissbegierig – was einen ziemlich einschüchtern kann. Sie hat eine coole und bedachte Art zu sprechen, die etwas an eine Universitätsdozentin erinnert. Sie hat tadellose Manieren. Sie ist genervt, wenn du ihr eine Kamera zu nah vor die Nase hältst (wie unser Fotograf Jake bald herausfinden muss). Sie weiß unglaublich viel über zeitgenössische Kultur. Sie ist unfassbar müde.

"Als ich aufwuchs, wurde ich extrem geächtet, weil ich anders war. Magazine waren meine Flucht, meine Freunde."

Ich hatte Dijon einen Nachmittag im magCulture vorgeschlagen, weil es heißt, während ihrer Kindheit und Jugend in Chicagos Southside habe sie wie eine Besessene alle Magazine gelesen, die sie in die Hände kriegen konnte. Wie sie mir bestätigt, kaufte sie diese größtenteils in einem kleinen Buchladen, der sich direkt über dem legendären Wax Trax-Plattenladen befand.

Die Magazine waren ein schimmerndes Portal in eine andere Welt – eine Welt, in der schwarze Jugendliche nicht drei verschiedene Ausweise vorzeigen müssen, um in einen Club zu kommen, während Weiße einfach durchgewunken wurden; eine Welt des Glamours, der Schönheit und eines Hauchs Erotik. Im Grunde waren sie die perfekte Aufwärmübung für die New Yorker Clubszene der 80er und 90er – einem Ort der Dekadenz, des Exzesses und, als die AIDS-Epidemie wütete, auch der Tragödie.

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"Als ich aufwuchs, wurde ich extrem geächtet, weil ich anders war", sagt Dijon ruhig. Dabei blättert sie durch eine Ausgabe des japanischen Modemagazins Whatever. "Magazine waren meine Flucht. Ich habe keine Drogen genommen, sondern Magazine und Zeug gesammelt und mich über Kultur, Kunst und Musik gebildet. Cover für Cover habe ich sie verschlungen. Sie waren meine Rettung. In einer Zeit, als ich das Gefühl hatte, dass niemand mit mir spielen oder in Verbindung gebracht werden will, waren die Magazine meine Freunde."

Ich frage Dijon, welche Publikationen sie in ihrer Jugend besonders inspiriert haben und sofort geht es im Stakkato los: " i-D, italienische Vogue, britische Vogue, französische Vogue, amerikanische Vogue, französische Elle, italienische Elle, Details Magazine, Interview Magazine … wie heißt das eine noch mal, für das Mapplethorpe Bilder gemacht hat?"

Sichtlich gequält sucht sie nach dem Namen – als er ihr einfällt, schnippst sie zufrieden mit dem Finger, an dem sie einen Louis Vuitton-Ring trägt. "Splash!"

Dijon trägt einen Louis Vuitton-Ring weil sie eng mit dem Modelabel verbandelt ist. Vor Kurzem erst hat sie die Musik für die Schau der Herrenmode beigesteuert. Ich kenne keine andere Underground-DJ, die sich so selbstverständlich in der Modewelt bewegt, aber Dijon ist schließlich auch eine Universalgelehrte – und Sammlerin.

"Als ich aufwuchs, waren Musik, Mode und Kunst meine Welten, weil ich so ein Sonderling war", erklärt Dijon ohne Umschweife. "Ich sage das mit dem allergrößtem Respekt. Alle meine Freunde sind Sonderlinge und Außenseiter. Dementsprechend war das hier [sie macht mit ihrer Hand eine ausladende Geste durch den Laden] meine Schule, meine Ausbildung."

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"AIDS hat zwei Generationen queerer und kreativer Menschen ausgelöscht – Schwarze, Außenseiter. Ich führe Traditionen fort, die mir Menschen beigebracht haben, die nicht länger da sind."

Vor Kurzem ist für Dijon der wohl größte Albtraum aller Sammler wahr geworden. Bei einer Überschwemmung ihrer Lagereinheit wurde ein Großteil ihrer Platten zerstört. Dijon scheint aber mittlerweile die meisten Phasen der Trauer schon hinter sich gebracht zu haben und reagiert mit Gleichgültigkeit, als ich sie darauf anspreche.

"Ich habe dadurch realisiert, dass ich nichts besitze. Was auch immer du zu besitzen glaubst, es gehört dir nicht. Alles, was wir haben, ist eine Erfahrung – von den Häusern, in denen wir leben, bis hin zu unseren Anziehsachen: nichts davon ist wirklich unseres. Es ist einfach Leihgaben, auch wenn du dafür zahlst", sagt sie nobel und selbstaufopfernd wie ein Wandermönch.

Dijon hat eine aufgeklärte Meinung über solche Dinge, weil sie schon erfahren musste, was richtiger Verlust bedeutet. "Ich führe Traditionen fort, die mir Menschen beigebracht haben, die nicht länger da sind", erklärt sie. "AIDS hat zwei Generationen queerer und kreativer Menschen ausgelöscht – Schwarze, Außenseiter. Es ist toll, noch hier zu sein und etwas davon weitergeben zu können."

Ihr heutiges Set im Village Underground ist ihr erster London-Auftritt seit einiger Zeit. Wir kommen auf die Gentrifizierung und die grassierende Verbürokratisierung in London zu sprechen, die droht der britischen Clubszene die Seele auszusaugen. Mit der Schließung des Dance Tunnel und der Beinaheschließung des Fabric läuft das Londoner Nachtleben Gefahr, so ausgelaugt und dröge zu werden wie das von New York. Mit einer unauffälligen aber gleichzeitig extravaganten Bewegung nimmt Dijon eine Ausgabe vom Artforum in die Hand und zeigt mir einen Essay über die Gefahren der Gentrifizierung, den sie dort vor Kurzem eingereicht hatte.

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"Die größte Sache, die gerade in unseren Städten passiert, ist die Gentrifizierung, die Verdrängung von Menschen aus Räumen, in denen sie laute Musik spielen konnten. All diese Menschen, die für Veränderungen sorgen – Künstler, Musiker, Menschen, die für ihre Kunst Platz brauchen –, werden verdrängt. Die Immobilienpreise sind so hoch, dass kreative Menschen nicht mehr Teil dieser Veränderung sein können. Und so leben sie nicht mehr in unseren Städten. Unsere Städte werden von sehr, sehr reichen Menschen übernommen und mit Gourmet-Schokoladengeschäften vollgestopft; Gourmet dieses, Gourmet jenes."

Und:

"Reiche konsumieren. Sie kreieren nicht."

"Die größte Sache, die gerade in unseren Städten passiert, ist die Gentrifizierung, die Verdrängung von Menschen aus Räumen, in denen sie laute Musik spielen konnten. Und Reiche konsumieren. Sie kreieren nicht."

Dann wären da aber noch die Techno-Prolls …

Techno-Prolls machen, laut Honey, alles kaputt. Ich frage sie, warum die Tanzflächen dieser Welt so hetero-männlich, so blass und uniform geworden sind – überall sind Asos-Typen, die einen Schluck aus deiner Wasserflasche wollen und deine Freundin anbaggern. "Das passiert immer, wenn irgendetwas von der breiten Masse eingenommen wird", erklärt sie gelassen.

"Ich denke, es liegt an der Musik, die gemacht und gespielt wird. Nichtweiße können damit einfach nicht so viel anfangen, sie machen dann Werkzeuge statt Musik. Ihr Sound ist extrem monoton", sagt sie. "Das sind einfach nur Loops über Stunden und Stunden ohne Ende – Musik für Menschen, die Drogen nehmen. Anstatt die Nacht zu verstärken, nehmen die Drogen den Platz der Nacht ein."

Wir bringen unser Interview zum Ende und Dijon kauft einen Stapel Magazine, deren Namen ich kaum erkennen kann, bedankt sich bei magCulture-Besitzer Jeremy dafür, dass wir seinen Laden belagern durften, und quatscht noch locker mit uns im Taxi, als wir auf dem Weg zurück zu ihrem Hotel im Stau stecken.

Gerade als ich sie nach der Milan Fashion Week fragen will, wo sie am nächsten Tag hinfliegt, entdeckt Dijon aus dem Fenster des stehenden Taxis ein Schreibwarengeschäft und springt am Old Street-Kreisverkehr raus, um ihn etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich interpretiere ihren unerwarteten Abgang so: Als die Universalgelehrte, die sie ist, hat Dijon immer ein Auge auf die Gegenwart gerichtet – und mit dem anderen schaut sie stets um die Ecke.

Honey Dijon spielt auf dem Farago Festival, das am 18. und 19. August in der Schweppermannsburg bei Nürnberg stattfindet.

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