Aufputschmittel und Todesängste: Junge Soldaten erzählen, was sie bei der Bundeswehr erlebt haben
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Armee

Aufputschmittel und Todesängste: Junge Soldaten erzählen, was sie bei der Bundeswehr erlebt haben

"Wenn du ein Problem meldest, bist du das Problem."

Ende Juli dieses Jahres kollabierten vier Rekruten der Bundeswehr im niedersächsischen Munster bei einem Marsch an Überhitzung – einer von ihnen starb. Wenige Tage danach kam in Österreich ein Rekrut ums Leben, ebenfalls wegen Überhitzung auf einem Marsch.

Die Wiener Redaktion von VICE veröffentlichte daraufhin Geschichten aus dem österreichischen Bundesheer, in denen jungen Rekruten von Demütigungen erzählen, von Neonazis in Uniform und Ausbildern, die sagen, sie würden sich auf den Suizid eines Rekruten freuen.

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Auch in Deutschland hat VICE einen Aufruf gestartet, um Erfahrungen von Soldaten zu sammeln. Wir wollten wissen, wie es wirklich zugeht bei der Bundeswehr.

Die deutschen Soldaten, ehemalige und aktive, die uns geschrieben haben, wollen anonym bleiben. Wir haben drei Geschichten ausgewählt, die einen Querschnitt von dem zeigen, was junge Rekruten erleben: Steroide in Kasernen, Todesangst im Auslandseinsatz und lebenslange psychische Schäden.

Jonas, Feldjäger

"Der Tod des Kameraden in Munster hat mich nicht überrascht. Es ist tragisch, natürlich, aber bei den Mengen an Substanzen, die ich in meiner knapp zehnjährigen Karriere gesehen habe, war das eine Frage der Zeit.

Als ich bei den Feldjägern war, sozusagen der Polizei innerhalb des Militärs, habe ich selbst Steroide und Fatburner wie Ephedrin genommen. Es ist nämlich so: Wenn du als Soldat schlapp machst, müssen deine Kameraden dich und deinen Krempel tragen – was deinen Status in der Gruppe nicht gerade steigert. 'Willste was reißen, musste was schmeißen' war so ein Spruch bei uns.

Ein Kamerad, der dieselben Präparate einnahm wie ich, bekam eine Gürtelrose, zwei andere Depressionen. Deshalb habe ich aufgehört, leistungssteigernde Mittel zu nehmen.

Dann gibt es noch Präparate, die dich weniger Schmerz fühlen lassen. Ein Soldat, den ich kenne, hat vor einem Marsch sehr viele davon genommen – obwohl er gar keine Schmerzen hatte, sondern nur Angst vor den Schmerzen, die ihn erwarteten. Mehrere Stunden später haben sie ihn gefunden, wie er orientierungslos völlig abseits der Marschstrecke herumirrte. Und eine Kameradin ist süchtig nach Schmerztabletten geworden. Sie ging in den Entzug, heute ist sie nicht mehr bei der Armee.

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Als Soldat willst du guten Dienst leisten, aber du hast nun einmal nur bestimmte körperliche Reserven. Dann nimmst du eine Handvoll Pillen und merkst: 'Hey, ich atme ja nach fünf Kilometern Laufen ganz locker. Ich kann plötzlich anderthalb Bahnen tauchen. Nach zwei Stunden im Alarmposten – also ganz still liegen und die Umgebung beobachten – fallen meine Augen immer noch nicht zu.'

Ich frage mich manchmal, wie viele Soldaten an Herzproblemen gestorben sind, die durch solche Substanzen ausgelöst wurden. So wie der Kamerad in Munster. Wirklich hinterfragen tut das aber keiner. In der Bundeswehr gilt immer noch das Prinzip: Wenn du ein Problem meldest, bist du das Problem."


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David, Gebirgsjäger

"Nach meiner Grundausbildung, da war ich 19, schickte die Bundeswehr meine Einheit in den Norden Afghanistans. Die Aufgabe war die Geländesicherung, mal im Fahrzeug, mal zu Fuß. Eines wusste ich dabei immer: Wenn etwas passiert, werden meine Kameraden ihr Leben geben, um meins zu schützen. Und umgekehrt. Diese Sicherheit ist das stärkste Gefühl, das mir aus meiner Bundeswehrzeit geblieben ist.

Beim Einsatz in Afghanistan gab es Situationen, die mich an den Rand meines Verstandes getrieben haben. Da habe ich Dinge erlebt, die ich vorher nur aus Filmen oder Videospielen kannte: Kameraden von mir wurden getötet, teilweise mussten wir als Ersthelfer die Verwundeten versorgen. Dreck, Staub, der Lärm der Fahrzeuge und Helikopter, ein unfassbares Wirrwarr. Mittendrin erwachsene Menschen, die nach ihren Eltern geschrien haben.

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Wieder zurück in Deutschland war das Verhältnis zu unseren Vorgesetzten spürbar anders. Wir gingen jetzt zusammen ins Kino oder was Essen. Wenn man den Krieg als Gruppe erlebt, verbindet das.

Ein paar Monate später wurde bei mir eine Posttraumatische Belastungsstörung in Verbindung mit Depressionen und Angstzuständen diagnostiziert. Die Bilder kamen zurück, die Geräusche, die Gerüche, die Angst vor dem eigenen Tod und dem Tod mir nahestehender Menschen. Selbst nach meiner Dienstzeit hörte es nicht auf. Ich trank zu viel und nahm Drogen. Ich hatte keinen Appetit mehr, schlief nicht und wenn doch nur mit Albträumen. Ich war aggressiv, habe mich und andere verletzt. Oft dachte ich daran, mich umzubringen.

Seit mittlerweile drei Jahren bin ich in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. Ich habe verstanden, dass ich diese Dinge nie wirklich vergessen oder verarbeiten kann. Und das der innere Tumult nie aufhören wird."

Rico, Wachbataillon

"Ich habe die Berichte der österreichischen Soldaten auf VICE gelesen und muss sagen: Sie beschreiben keine katastrophalen Zustände, sondern Erfahrungen von Menschen, die das Militär nicht verstanden haben. Befehl und Gehorsam, Gruppenbestrafung und an körperliche Grenzen zu gehen – das sind elementare Bestandteile des Militärs.

Disziplin ist wichtig, Neulinge müssen sich an Autorität gewöhnen. Die Grundausbildung ist ja nicht nur dafür da, Rekruten auf den Dienst vorzubereiten. Sie soll aussortieren. Nicht jeder, der es durch die Musterung schafft, ist auch geeignet für den Militärdienst.

Vielen erscheint es sinnlos, stundenlang auf einen Fleck an der Wand zu starren. Auf lange Sicht macht es aber Sinn. Man testet so, ob ein Rekrut einer physischen und psychischen Belastung gewachsen ist, gerade bei mir im Wachbataillon, wo wir oft stundenlang Spalier stehen müssen.

Seit Beginn des Jahres 2016 gelten in der Bundeswehr die EU-Arbeitszeitrichtlinien. Der Dienst dauert jetzt von 6:45 bis 16:30 Uhr. Alles, was darüber hinausgeht, sind Überstunden, die die Rekruten abbauen können. Früher hat der Tag um 5:00 begonnen und ging auch mal bis in den späten Abend. Da kann man heute nicht mehr von übermäßiger Belastung reden.

Insgesamt ist die Bundeswehr durch die Umgestaltung in eine Freiwilligenarmee menschenfreundlicher geworden – vorausgesetzt, man hat keine böswilligen Vorgesetzten. Das kann einem aber in jedem Beruf passieren."

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