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Urban Dictionary ist zu einem Eldorado für Frauenfeinde und Rassisten geworden

Das Online-Wörterbuch sollte eigentlich mal die Schnelllebigkeit und Kreativität moderner Sprache dokumentieren. Dann wurde es von wütenden weißen Männern gekapert.
Illustration: Lia Kantrowitz

Urban Dictionary dürfte auch hierzulande vielen als ein unendlicher Quell an absurden Erklärungen für mal mehr, mal weniger absurde Phänomene bekannt sein. Das englischsprachige Internet-Wörterbuch dürfte das sein, was passiert, wenn der Duden und Reddit aufeinandertreffen – und sehr viel Speed nehmen.

Gleichzeitig tauchen immer wieder Beiträge auf, die klingen, als seien sie von frauenfeindlichen Vertretern der Alt-Right-Bewegung formuliert worden. Ex-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton beispielsweise wird als "Schwänze jonglierende Megaschlampe" bezeichnet und mit einem Strap-on-Dildo verglichen, "den Lesben anziehen, wenn sie den Mann spielen wollen". Die beliebteste Definition des Wortes "Rassismus"? "Absoluter Schwachsinn."

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Laut den Einträgen auf der Seite ist soziale Gerechtigkeit ein Wunsch, der für alle Teile der Gesellschaft gilt – "außer für weiße, heterosexuelle Cis-Männer". Und, bevor wir es vergessen: Feminismus ist natürlich nicht mehr als die Lüge der Geschlechtergerechtigkeit, die eigentlich nur Männer unterdrücken möchte.

Was in den Kommentarbereichen einschlägiger Seiten nichts Ungewöhnliches sein dürfte, ist hier ziemlich problematisch. Urban Dictionary ist schließlich nicht nur irgendein Online-Wörterbuch, sondern zählt laut dem Webanalytik-Tool Quantcast zu den 31 meistbesuchten Seiten in den Vereinigten Staaten. Im April 2017 kam die Seite auf knapp 130 Millionen Seitenaufrufe.

"Urban Dictionary soll zeigen, dass wir unsere Sprache selbst definieren, indem wir sie sprechen."

Die Webseite wurde 1999 von Aaron Peckham ins Leben gerufen, um normale Wörterbücher zu parodieren. "Wörterbücher können ziemlich schwülstig sein und nehmen sich selbst oft viel zu ernst", erklärte er 2011 gegenüber dem Absolventenmagazin der California Polytechnic State University. Am Anfang stammte der Großteil der Definitionen von ihm und seinen Freunden. Der Webserver stand damals noch unter seinem Bett. Im Jahr 2014 hatte die Seite aber schon mehr als sieben Millionen Definitionen von verschiedenen Wörtern, Akronymen und Redewendungen.

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"Andere Wörterbücher sind zwar vielleicht besser recherchiert, die wahre sprachliche Kompetenz und Bedeutung wird aber eigentlich von den Menschen geprägt, die die Sprache sprechen", erklärte er 2013 gegenüber der New York Times. "Urban Dictionary soll zeigen, dass wir unsere Sprache selbst definieren, indem wir sie sprechen."


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Die Nutzer sind überwiegend Männer zwischen 15 und 24 Jahren. Aufgelistet werden bekannte englische Slang-Ausdrücke wie "struggle bus" ("eine metaphorische Umschreibung von einer schwierigen Situation, wie zum Beispiel einer schwierigen Prüfung in der Schule") und "moobs" ("das Phänomen, dass Männer Fett im Bereich der Brust ansetzen, sodass es aussieht, als hätten sie Brüste; vor allem bei übergewichtigen Männern, kann aber seltsamerweise aber auch bei Männern auftreten, die eigentlich nicht übergewichtig sind"). Es gibt aber auch einige Wortkreationen, die weniger weit verbreitet sind, wie zum Beispiel "starwank" ("der Akt, sich selbst zu befriedigen, während man konzentriert in den Nachthimmel starrt").

Letztendlich kann jeder, der einen Facebook- oder einen Gmail-Account hat, ein neues Wort oder eine Redewendung vorschlagen. Außerdem können freiwillige Redakteure – also im Grunde jeder, der die Seite besucht und auf "Bearbeiten" klickt – entscheiden, ob Vorschläge angenommen werden oder nicht. Die Nutzer brauchen dazu nichts weiter tun, als sich zwischen "Hinzufügen", "Kann weg" oder "Noch unentschlossen" zu entscheiden.

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"Frauen: Dinge mit Vaginas, die Männer belügen und ihnen ihr Geld klauen."

Laut eines Berichts der New York Times aus dem Jahr 2013 genügt die Meinung von fünf Nutzern, um eine neue Definition in das Online-Wörterbuch aufzunehmen. Zu manchen Begriffen gibt es Hunderte von Vorschlägen. Allerdings wurden offenbar schon immer rund zwei Drittel der Vorschläge abgelehnt. Welche der Umschreibungen am treffendsten sind und es bis ganz nach oben schaffen, wird demokratisch durch Daumen hoch oder Daumen runter entschieden.

Ob die Definitionen beleidigend oder grammatikalisch und inhaltlich nicht korrekt sind, spielt dabei nicht zwingend eine Rolle. "Ich liebe die Unvollkommenheit daran", sagte Peckham 2011 in einem Interview mit dem Guardian. "Die Grammatik, die Zeichensetzung und die Rechtschreibung der Leute – das ist so roh. All das kommt direkt aus den Herzen der Menschen, die die Beiträge schreiben, ohne Korrekturen. Vielleicht liegt nicht nur Bedeutung im Auge des Betrachters, sondern auch Rechtschreibung und Zeichensetzung."

Trotzdem gibt es natürlich gewisse Kriterien, nach denen die "Nutzer entscheiden sollen, ob ein Vorschlag auf Urban Dictionary veröffentlicht werden soll oder nicht. Diese schreiben vor, dass die Namen von Prominenten veröffentlicht werden dürfe, die von Freunden hingegen nicht; Nonsens, Insider und Beiträge in Großbuchstaben abgelehnt werden sollten; und ethnische oder sexuelle Verunglimpfungen zwar erlaubt sind, aber keine rassistischen oder sexistischen Einträge.

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Wo der Unterschied zwischen "ethnisch und sexuell" und "rassistisch und sexistisch" liegt, scheint für viele der Nutzer allerdings nicht ganz klar – oder wird bewusst anders interpretiert.

Beispielsweise hat der Begriff "skank", zu deutsch "Schlampe", knapp 200 Definitionen, die offenbar "Diskriminierung dokumentieren, aber nicht billigen", wie es in den Richtlinien so schön heißt. In einer der Definitionen heißt es: "Abwertende Beschreibung einer (gewöhnlich jungen) Frau, die ihre Wertlosigkeit oder Vulgarität und fehlende Körperhygiene impliziert und nahelegt, dass sie der Unterschicht angehört, Schuppen oder Pockennarben hat und dürr ist; kann auch Promiskuität implizieren, muss aber nicht. [Der Begriff] ist auf alle Bevölkerungsgruppen anwendbar, wird aber überwiegend verwendet, um 'White Trash' zu beschreiben."

Ein anderer Nutzer umschreibt den Begriff mit "Kim Kardashian" und erklärt das folgendermaßen: "Eine wertlose Schlampe, die durch ein Sextape berühmt wurde und unerklärlicherweise durch dieselbe Gesellschaft berühmt wurde, die Amerika wegen all der Idioten, die diese Hure aus unerfindlichen Gründen verehren, noch viel dümmer aussehen lässt." Wir haben Urban Dictionary zu einer Stellungnahme zu dieser Definition gebeten, haben allerdings keine Antwort bekommen.

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"Es hilft niemandem, so zu tun, als würden bestimmte Worte nicht existieren, indem wir sie aus dem Wörterbuch streichen", verteidigte Peckham vor sechs Jahren im Gespräch mit dem Guardian die Entscheidung, beleidigende Umschreibungen zu veröffentlichen. "Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mit zwölf in einem normalen Wörterbuch nach solchen Begriffen gesucht habe. Es war frustrierend, weil man ja wusste, dass es sie gibt."

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Peckham hat sich in der Vergangenheit immer wieder als Verfechter der Redefreiheit im Internet präsentiert und schrieb in einem Amicus Curiae der ACLU: "Jeder verdient die Chance, sich zu äußern und jeder verdient die Chance, die anderen zu verstehen. Urban Dictionary versucht dieses Verständnis zu ermöglichen (und gleichzeitig witzig zu sein). Ein Wörterbuch, das die Realität widerspiegelt, weil es Menschen die Freiheit gibt, die Welt mit ihren eigenen Worten zu definieren." Das rechtfertigt allerdings noch lange nicht die Veröffentlichung von eklatant sexistischen Begriffen und Kommentaren.

Die fünfte Definition von "Frauen" lautet beispielsweise: "Dinge mit Vaginas, die Männer belügen und ihnen ihr Geld klauen." Darüber hinaus werden "Frauen" auch als "manipulative menschliche Wesen" und "das Gegenteil von Mann" bezeichnet, "das in der amerikanischen Gesellschaft gepriesen und verehrt wird, aber in Wahrheit genauso schlecht und verdorben ist wie der Mensch selbst."

Urban Dictionary mag ein extremes Beispiel sein, tatsächlich wurden Frauen in lexikalischen Nachschlagewerken aber schon seit jeher diskriminiert. Im Jahr 2016 geriet das englischsprachige Oxford Dictionary in die Kritik, weil ein Anthropologe anmerkte, dass einige der Beispiele extrem sexistisch wären. "Warum stellt das Oxford Dictionary Frauen wie 'fanatische Feministen' mit mysteriösen 'Psychen' und 'schrillen Stimmen' dar und impliziert, dass sie weder forschen noch promovieren, dafür aber 'sämtliche Hausarbeiten' erledigen können?", fragte sich Michael Oman-Reagan in einem Beitrag auf der Webseite Medium.

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Schon 1987 prägte Mary Daly, die Autorin eines feministischen Wörterbuchs, den Begriff "dick-tionary". Gemeint war damit "jedes patriarchale Wörterbuch: jedes sekundäre, folgsame und stillschweigende Wörterbuch, das von 'Dicks' erstellt wurde." Tatsächlich gab es damals mehrere Personen wie Daly, die die uneingeschränkte Anerkennung der gesellschaftlichen Rollen von Frauen durch die Förderung von Wörtern und Definitionen von und über Frauen forderten.

Lindsay Rose Russell ist Assistenzprofessorin am Institut für Anglistik an der University of Illinois Urbana-Champaign. Sie erklärt, dass Wörterbücher traditionsgemäß immer eine männliche Sichtweise vertraten, weil "die englische Sprache viele Wörter enthält, die bestimmte Gesellschaftsgruppen abwerten" und Frauen seien nun mal eine dieser Gruppen, die mit am stärksten verunglimpft würden. Ein Beispiel sei die Überlexikalisierung (die Bildung unzähliger Wörter oder lexikalischer Begriffe für ein und dasselbe Konzept) im Hinblick auf Wörter und Wendungen, die mit der Promiskuität von Frauen zu tun haben, wie "Schlampe", "Prostituierte" oder "leichtes Mädchen".


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"Das spiegelt sich natürlich auch in Wörterbüchern wider und wird in manchen auch vollkommen übertrieben – das hängt unter anderem auch von dem vorherrschenden Stil des Wörterbuchs ab", sagt Russell. Natürlich muss man sehen, dass Urban Dictionary von männlichen College-Studenten erfunden wurde, Russel betont aber auch, dass "Anti-Feminismus, Sexismus und Androzentrismus immer in den Köpfen der Menschen beginnt."

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Urban Dictionary und ähnliche Online-Wörterbücher hätten dennoch ihre Berechtigung, weil sie eine lexikalische Lücke schließen. "Die meisten Wörterbücher waren immer sehr zimperlich im Umgang mit Wörtern, die explizite sexuelle Handlungen umschreiben", sagt sie. "Einige der ersten Wörterbücher, die Beschreibungen von verschiedenen Praktiken enthielten, waren extrem zurückhaltend mit ihren Definitionen. Viele von ihnen beschrieben das Wort in Latein. Wenn man also etwas nachschlagen wollte, aber kein Latein konnte, dann wusste man auch nicht, was in der Definition stand."

"Anti-Feminismus, Sexismus und Androzentrismus beginnt immer in den Köpfen der Menschen."

Wenig überraschend finden sich unter dem Begriff mehrere Einträge im Urban Dictionary. Unter "Tittenfick" findet sich aber auch auf Wikipedia eine Definition, die einen auf "Mammalverkehr" umleitet. Hier heißt es: "Eine Form des Geschlechtsverkehrs, bei der das Geschlechtsorgan des Sexualpartners an den Brüsten der Partnerin gerieben wird." Ähnlich wie im Urban Dictionary ist auch Wikipedia ein Crowd-Sourcing-Projekt. Allerdings betont die Online-Enzyklopädie in ihren Richtlinien ausdrücklich, "hochwertige Inhalte" produzieren zu wollen. Das Ganze basiert auf einem System der gegenseitigen Kontrolle, das Kreuzgutachten und automatische Programme miteinschließt.

Peckham sagte gegenüber dem Medieninstitut Poynter 2012, dass er einen Aspekt an dem Online-Wörterbuch besonders erhaltenswert findet: den Charakter. "Die Nutzer denken sich extrem originelle Definitionen aus und nehmen das Ganze nicht allzu ernst" – laut ihm ein klares Unterscheidungsmerkmal zu andere Wörterbüchern oder auch Wikipedia. "[Unser Wörterbuch] soll keine offizielle Instanz darstellen und es soll auch nicht wertungsfrei sein."

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Fakt ist aber auch, dass Urban Dictionary von vielen Menschen und sogar von amerikanischen Gerichten als offizielle Instanz angesehen wird. Laut der New York Times wurde das Online-Wörterbuch unter anderem schon vor Gerichte verwendet, um "iron" ("Handfeuerwaffe"), "catfishing" ("das Phänomen, dass sich Aasgeier im Netz falsche Identitäten schaffen") und "grenade" ("das einsame hässliche Mädchen in einer Gruppe voller Hotties") zu definieren. Der Ausgang eines Verfahrens wird zwar nicht durch die Definition eines Online-Wörterbuch entschieden, letztendlich stellt Urban Dictionary aber durchaus eine lexikalische Autorität dar, die auch schon bei rechtlichen Entscheidungen zitiert wurde.

Wenn man bedenkt, wie viele rassistische und sexistische Kommentare auf dieser Seite zu finden sind, dann ist das ziemlich beängstigend.

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