Die sexistische Geschichte von Frauen, die sich selbst verletzen
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Die sexistische Geschichte von Frauen, die sich selbst verletzen

Auch wenn Ritzen heute nicht mehr als "symbolischer Ersatz für Masturbation" gesehen wird: Wie wir mit dem Thema umgehen, ist immer noch problematisch.

In den 1580er-Jahren nahm eine junge Novizin, die sich erst kurz zuvor einem italienischen Orden angeschlossen hatte, eine Peitsche in die Hand und begann damit, auf sich einzuschlagen. Sie war der festen Überzeugung, dass ihr Körper von Dämonen besessen wäre und sie sich Gottes Liebe würdig erweisen müsste, indem sie sie austreibt. Nach ihrem Tod ging sie als Heilige in die Geschichte ein.

Vor etwas mehr als hundert Jahren legte eine junge Frau im Viktorianischen England ihre halbfertige Stickerei beiseite, stellte sicher, dass sie allein war und stach sich dann immer wieder mit der Nadel ins Handgelenk. Als ihre Familie davon erfuhr, brachten sie sie zum Arzt, der die Diagnose Hysterie stellte.

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Erst vor wenigen Jahren rutschte eine Studentin vor ihrem Psychiater tief in den Sessel und sah ihn von der Seite an. "Sie wollen wissen, warum ich mich selbst verletze?", fragte sie. "Es ist der einfachste und schnellste Weg, um meine Angststörung in den Griff zu kriegen."

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Geschichten von Männer, die sich selbst verletzen, gibt es in der Literatur zuhauf. Die meisten von ihnen scheinen sich durch ihre selbstzerstörerisches Verhalten von einem sündhaften erotischen Verlangen befreien zu wollen. Beispiele dafür gibt es in Der scharlachrote Buchstabe (1850), Schöne neue Welt (1931), das Musical Sweeney Todd (1973) und verschiedenen Adaptionen von Der Glöckner von Notre Dame (1831). Ihr masochistisches Verhalten wird dabei fast immer als brutale, treibende Kraft dargestellt, die die Überlegenheit des Mannes über die verderbliche, sexualisierte Macht einer Frau demonstriert.

Geschichten von Frauen, die sich selbst verletzten, sind hingegen meist Geschichten von Selbstverleugnung und Selbstvernichtung. Im Mittelalter verstümmelten sich weibliche Märtyrerinnen selbst, um ihre Keuschheit zu bewahren – wie die Heilige Kümmernis, die gegen ihren Willen verlobt wurde und unter den sexuellen Annäherungsversuchen ihres Vaters litt. Sie versuchte, sich selbst zu Tode zu hungern und flehte Gott immer wieder an, sie von ihren körperlichen Reizen zu befreien. Während sie immer weiter abmagerte, wuchsen ihr am ganzen Körper Haare. Sie bekam sogar einen kleinen Bart am Kinn. Ihr adliger Verlobter reagierte entsetzt auf die Folgen ihrer Askese und verschmähte sie. Ihr brutaler Vater geriet deswegen vollkommen außer sich und ließ seine Tochter schließlich kreuzigen. Während sie am Kreuz starb, sprach Kümmernis von "der Leidenschaft, deren Last alle Frauen tragen" und beschwor die Frauenwelt, zu ihr zu beten, um von ihrer Eitelkeit und ihrem erotischem Verlangen befreit zu werden.

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In den Medien wurden Frauen, die sich selbst verletzten, fast immer darauf reduziert, 'hübsche, schlaue, weiße Mädchen aus dem Mittelstand zu sein'.

Wie mehrere Quellen berichten, soll sich Maria Magdalena von Pazzi Mitte des 16. Jahrhunderts heimlich eine Dornenkrone aufgesetzt und sich selbst ausgepeitscht haben. Angeblich war sie damals gerade mal zehn Jahre alt, praktizierte aber bereits eine religiöse Form der Selbstverleugnung. Knapp zehn Jahre später trat sie dann einem Kloster bei und nahm nur noch Wasser und Brot zu sich. Wenn man ihrer eigenen Aussage glauben will, erhielt sie den Auftrag dazu direkt von Gott. Um die Dämonen auszutreiben, geißelte sie sich weiterhin selbst – zum Teil sogar in der Öffentlichkeit. Sie überredete die anderen Novizinnen dazu, sie auszupeitschen und sich auf ihrem Mund zu stellen. Manchmal verbrannte sie sich selbst auch mit heißem Wachs. Mit 37 Jahren lag sie mit Verletzungen und Hämatomen auf dem Sterbebett. Sie bat die anderen Schwestern, sie nicht zu berühren – es sei denn, sie wurden von einem sexuellen Verlangen heimgesucht.

Zugegeben, die Geschichten der Heiligen Kümmernis und der Heiligen Maria Magdalena von Pazzi sind ziemlich drastisch, es sind aber längst nicht die einzigen. Laut des Wissenschaftlers Robert Mullen waren 88 Prozent der Menschen, die davon überzeugt waren, dass sie die Wundmale Christi tragen würden, Frauen. "Die gängige christliche Meinung war, dass das Blut der Stigmata nicht nur die Frauen von ihren Sünden reinigen würden, sondern sie auch stellvertretend für alle anderen Christen Buße leisten würden", schreibt er. Die heiligen Frauen waren so eine Art verunreinigtes Gefäß, gleichzeitig aber auch eine Quelle spiritueller Erlösung. Ihr Elend wurde als Segen begriffen.

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Doch auch Jahrhunderte später wurden Frauen, die sich absichtlich selbst verletzten, noch immer als Bühne sexueller Ausschweifungen betrachtet. Das Viktorianische Zeitalter war berüchtigt dafür, jede sexuelle Regung unterdrückt und sich zugleich unermüdliche mit Sex beschäftigt zu haben. Damals rätselten verschiedene medizinische Zeitschriften, was es mit den sogenannten "Nadel-Mädchen" auf sich haben könnte – junge Frauen, die sich selbst mit Nadeln stachen und sie sogar durch die Haut zogen. Die meisten Experten sahen darin "eine absonderliche Form der Selbstverstümmelung […], die manchmal bei hysterischen Personen auftritt".

Doch nicht alle Frauen, die vermeintlich unter Hysterie litten, nutzten Nadeln, um sich selbst zu verletzen. Im Jahr 1896 erschien in der Zeitschrift Anomalies and Curiosities of Medicine ein Bericht der beiden Ärzte George Gould und Walter Pyle über ihre Beobachtungen einer 30-jährigen Frau aus New York. Sie schrieben, dass sich die Frau zuletzt im September 1876 "selbst ins Handgelenk und die rechte Hand geschnitten hatte." Nachdem man ihr drei Wochen lang kein Opium gegeben hatte, begann sie angeblich wieder, "sich in die Arme oberhalb des Ellenbogens zu schneiden, die Haut und die Faszie glatt zu durchtrennen und die Muskeln in alle Richtungen zu durchtrennen". Angeblich zeigte sie dieses selbstzerstörerische Verhalten in Intervallen von mehreren Wochen und drückte manchmal sogar Objekte wie Glasscherben und Splitter in die Wunden. (Laut des Artikels verletzte sich die Frau zum letzten Mal im Juni 1877.)

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Damals stellten die Ärzte solchen Frauen häufig die Diagnose Hysterie. Sie sahen in ihrem selbstverletzenden Verhalten ein Symptom ihrer Weiblichkeit und einen grundlegenden emotionalen Überschuss. Um ihrem Leiden einen Namen zugeben, wurden sie als hysterisch bezeichnet. Viele von ihnen wurden unnötigerweise in psychiatrische Anstalten gesperrt oder für unheilbar krank erklärt – und das nur, weil ihnen niemand zugehört hat. In der 1914 erschienenen Studie The Case of Miss A versuchte der Psychoanalytiker L. E. Emerson eine 23-jährige Patientin zu verstehen. Miss A. sagte gegenüber den Ärzten, dass sie sich selbst "28 oder 30 Schnitte" zugefügt hätte. Wie sich herausstellte, war ihr bisheriges Leben ziemlich traumatisch gewesen: Sie wurde über "viele Jahre (fünf oder sechs)" von ihrem Onkel vergewaltigt und Jahre später versuchte auch einer ihrer Cousins, sie sexuell zu missbrauchen. Am Ende wurde sie von einem ihrer Verehrer verlassen, als er herausfand, dass sie keine Jungfrau mehr war. Laut Emerson nannte der erboste Mann sie eine Hure. Diese Ablehnung setzte Miss A. so zu, dass sie sich ein großes "H" ins Bein ritzte.

Emerson betonte die "sexuelle Natur ihrer Handlungen" und sah eine interessante Verbindung zu Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe. Er vertrat die Freud'sche Schule der Psychoanalyse und kam zu der Schlussfolgerung, dass es mehrere Gründe für ihr selbstverletzendes Verhalten geben musste: Zum einen sah er "im Ritzen einen symbolischen Ersatz für Masturbation", zum anderen vermutete er, dass Miss A "durch den Wunsch angetrieben wurde, ihrem seelischen Leid zu entkommen" und versuchte, sich selbst zu bestrafen. Emerson nahm auch an, dass sie absichtlich bluten wollte, weil sie sich "eine regelmäßige Menstruation wünscht."

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Wenn die Verzweiflung besonders schlimm wurde, blieb mir noch immer die Möglichkeit, meinem Körper Schaden zuzufügen.

Seine Schlussfolgerungen waren vielleicht nicht komplett falsch, aber sie zeigen doch, wie eingeschränkt und schon fast vorhersehbar die Rückschlüsse der Ärzte waren. Wenn Frauen litten, sah man darin primär eine medizinische Kuriosität. Eine Kuriosität, die wiederum durch die Linse des psychoanalytischen Diskurses betrachtet wurde, nach dem Frauen als grundsätzlich minderwertig galten. Was hätten diese Frauen wohl gesagt, wenn die Ärzte ihnen die Gelegenheit gegeben hätten, für sich selbst zu sprechen?

In den 1960er-Jahren hatten die Theorien von Freud noch immer einen großen Einfluss auf die Psychiatrie, was die Disziplin nicht weniger sexistisch machte. Die Art und Weise wie Ärzte damals anfingen, "selbstverletzendes Verhalten" zu untersuchen, wäre eine eigene Untersuchung wert. Ihre Studien konzentrierten sich größtenteils auf Frauen und schufen ein fetischiertes Bild von "Ritzerinnen". In den Medien wurden Frauen, die sich selbst verletzten, fast immer darauf reduziert, "hübsche, schlaue, weiße Mädchen aus dem Mittelstand zu sein", sagt Liz Frost in Young Women and the Body. Sie kritisiert, dass "Fragen nach der Gesellschaftsschicht, der Sexualität und der ethnischen Herkunft vollkommen außer Acht zu lassen" oft vollkommen außer Acht gelassen würden. Außerdem lässt der Fokus auf das Geschlecht nur eine ziemlich begrenzte Betrachtung zu.

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Der Soziologe Chris Millard schreibt, dass Männer, die sich selbst verletzten, in den 1970er-Jahren von vielen Forschern als "hübsche Jungs" oder "weibisch" bezeichnet wurden. Damit haben sie letztendlich nicht nur geschlechtsspezifische Verurteile bestärkt und Zweifel an ihrer eigenen Objektivität gestreut, sondern männliche Patienten gleich in doppelter Hinsicht stigmatisiert.

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Auch der Begriff "Selbstverstümmelung" scheint durch die stereotypen Vorstellungen der 1960er- und 1970er-Jahre geprägt zu sein. Wie die Wissenschaftlerin Barbara Brickman feststellte, "pathologisiert der medizinische Diskurs über 'labiles' Ritzen den weiblichen Körper und beruht auf der Vorstellung, Weiblichkeit sei eine Krankheit […] Man beginnt sich zu fragen, ob man den Begriff 'Verstümmelung' auch zur Beschreibung des Phänomens an einem vermeintlich weniger anziehenden Körper verwendet hätte." Eine klassische Ritzerin galt immer als sehr vornehm, liebenswert und gebildet – und da sie nicht zwangsläufig unter Selbstmordgedanken litt, wurde sie auch als rettenswert angesehen. Tatsächlich gaben Ritzerinnen, die normalerweise als unverheiratet und intelligent beschrieben wurden, nach der damaligen Charakterisierung ziemlich gute Ehefrauen ab. Vorausgesetzt natürlich, sie gingen regelmäßig zur Therapie.

Neben den zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Phänomen gab es in den 60er- und 70er-Jahren allerdings kaum nicht-klinische Quellen über selbstverletzendes Verhalten. Ausnahmen sind dabei der halbbiografische Roman Ich hab' dir nie einen Rosengarten versprochen von Joanne Greenberg aus dem Jahr 1964 oder das 1962 erschienene Gedicht "Cut" von Sylvia Plath. Erst mit der Veröffentlichung von Elizabeth Wurtzels Buch Prozac Nation und dem Aufstieg des Internets meldeten sich immer mehr junge Frauen zu Wort, um zu erklären, warum sie sich selbst verletzen. In ihrem 1994 erschienen Buch Prozac Nation stellt Wurtzel selbstverletzendes Verhalten als eine Art Druckventil dar. "Wenn die Verzweiflung besonders schlimm wurde", schrieb sie, "blieb mir noch immer die Möglichkeit, meinem Körper Schaden zuzufügen".

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Szene aus 'Prozac Nation'. Foto: imago | EntertainmentPictures

Laut den Soziologen Patricia und Peter Adler hatte diese öffentliche Diskussion einen großen Einfluss auf Personen, die unter selbstverletzendem Verhalten litten. Vor 1996 dachten die meisten Patienten, dass sie dieses Verhalten "selbst erfunden" hätten. Später gaben die Meisten an, dass sie in den Medien oder von ihren Freunden davon gehört und deswegen beschlossen hätten, es selbst auszuprobieren.

Mittlerweile wird selbstverletzendes Verhalten im ICD-10 als "Vorsätzliche Selbstschädigung" aufgelistet. Das DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) definiert nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten derweil ganz konkret als bewusste Verletzung von "Körpergewebe", um "mit negativen Emotionen und affektiven Zuständen umzugehen, insbesondere Wut und Depressionen". Dieses Verhalten, so das Handbuch, betrifft Männer und Frauen gleichermaßen, obwohl Frauen im Vergleich zu Männern eher dazu neigen, sich selbst zu verletzen.

Da muss mein Körper sein, weil das Blut aus meiner Haut kommt und ich weiß, wo die Grenzen meines Körpers sind.

Wie Janis Whitlock von der Cornell University zeigen konnte, ähnelt sich das Verhalten der meisten Betroffnen allerdings sehr stark. Von 5.000 untersuchten Personen aus mehreren amerikanischen Universitäten berichteten 20 Prozent der Frauen und 14 Prozent der Männer, dass sie sich schon mindestens einmal selbst verletzt haben. Es gibt zahlreiche Auslöser für ein solches Verhalten: Einige Menschen kämpfen mit Depressionen und Angstzuständen oder mit einer Essstörung. Andere leiden unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, Autismus oder Angststörungen.

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Professor Armando Favazza von der Universität in Missouri ist einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet von selbstschädigendem Verhalten und Autor von Bodies Under Siege: Self-mutilation and Body Modification in Culture and Psychiatry. Er sagt, dass die Selbstverletzung in vielen Fällen die Rückkehr zum eigenen Körper nach einer dissoziativen Episode darstellt. "Einer der sichersten Wege, Episoden der Depersonalisation zu beenden, ist, sich selbst zu ritzen", erklärte er gegenüber dem amerikanischen Radiosender NPR. "[Wer sich selbst verletzt] sieht das Blut und denkt: 'OK, da muss mein Körper sein, weil das Blut aus meiner Haut kommt und ich weiß, wo die Grenzen meines Körpers sind.'"

Die 19-jährige Rebecca Raye erklärt im selben Interview mit NPR, dass sie sich ritzt, um dem Schmerz zu entkommen. Eine im ersten Moment ziemlich paradoxe Aussage. "In diesem Moment kommt alles, was mich verletzt, gemeinsam mit meinem Blut nach draußen", sagt sie und erzählt, dass sie ein "Kästchen" hat, in dem sich alles befindet, was sie zum Ritzen braucht. Die Art und Weise, wie sie ihr Ritual beschreibt, macht deutlich, welche Anstrengungen sie unternimmt, um sich durch eine bewusste und wiederholte Handlung von ihren emotionalen Qualen zu befreien. Die NPR-Journalistin Alix Spiegel drückt es folgendermaßen aus: "Wenn Rebecca niedergeschlagen ist – sei es wegen der Arbeit oder ihrer Familie –, dann greift sie zu ihrem Kästchen. Bevor sie sich ritzt, hat sie, wie sie selbst sagt, das Gefühl, ihr Kopf würde explodieren. Wenn sie dann den Schmerz spürt, hat sie einen kurzen Augenblick Ruhe."

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Meine eigenen Erfahrungen mit selbstverletzendem Verhalten ähneln Rayes Geschichte. Über eineinhalb Jahrzehnte lang war Ritzen so eine Art Zuflucht für mich. Ruhe durch Schmerz. Ich habe nicht das Verlangen zu sterben, aber ich möchte Ruhe. Jedes Mal, wenn ich mich selbst verletzt habe, fühlte es sich an, wie ein Sprung in die dunkle Stille. Mich selbst zu ritzen, hat meine Melancholie und meine Angst gelindert – wie ein Luftballon, aus dem langsam die Luft herausgelassen wird. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich mich in diesem Moment an einem dunklen, undurchsichtigen Ort befand, der jenseits von Worten und jenseits jeder Wahrnehmung war. Allerdings habe ich es geschafft, diesen Kreis nach langer Zeit und mit der unerlässlichen Hilfe meines Therapeuten zu durchbrechen. Eine einfache Heilung gibt es nicht und wird es vielleicht auch nie geben. Stattdessen musste ich mich damit zufrieden geben, meine Probleme in der Psychotherapie Stück für Stück aufzuarbeiten und Medikamente zu nehmen. Mich selbst zu verletzen, hat mir sonst immer geholfen, in die Leere zu sinken. In der Therapie musste ich plötzlich lernen, Worte zu finden, um meine Bedürfnisse zu formulieren. Mit 31 Jahren bin ich noch immer nicht sicher, ob der Drang, mich selbst zu verletzten, irgendwann komplett verschwinden wird. Ich weiß nur, das ich mit all meiner Kraft dagegen ankämpfen werde.

Meine Erfahrungen decken sich mit denen vieler anderer Frauen, die sich mit ihrem selbstschädigendem Verhalten auseinandersetzen. Wir werden daran festgemacht und diagnostiziert. Unsere Probleme ähneln sich und werden dennoch innerhalb der verschiedenen theoretischen Schulen und medizinischen Modellen unterschiedlich benannt. Dennoch hat der Körper von Frauen nur sehr selten die Empathie der Gesellschaft katalysiert. Im Verlauf der Geschichte wurden wir immer wieder als Kuriositäten und Metaphern betrachtet, als Bühne permanenter Überlastung. Schon seit sich Frauen selbst verletzen, wurden sie deswegen in eine bestimmte narrative Form gepresst. All diese Geschichten unterstützen eine gesellschaftliche Mythologie, die darauf beruht, dass wir in Gefahr sind und durch unsere Weiblichkeit beeinträchtigt werden. Vielleicht wirken Frauen, die sich selbst verletzen, auch wie eine geschlechtsspezifische Unabwendbarkeit: das psychologische Ergebnis vom Leben in einer Welt, die nicht immer besonders einladend auf Frauen wirkt. Wir haben diese Geschichten nicht geschrieben, aber wir tragen ihre Bürde. Hoffentlich können wir sie eines Tages ablegen.


Foto: imago | Friedrich Stark