Wie rassistische Gewalt nach Chemnitz zunimmt – Update
"Chemnitz Stabil 14/88": Unbekannte beschmieren eine Schule in Braunschweig mit Nazi-Sprüchen | Foto: Facebook/Bündnis gegen Rechts Braunschweig

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Rassismus

Wie rassistische Gewalt nach Chemnitz zunimmt – Update

Opferberatungsstellen sprechen von "einer Dimension, die wir so noch nie erlebt haben", doch kaum jemand berichtet darüber.

Einschusslöcher in den Fenstern der Container-Wohnung eines Asylbewerbers, eine Eisenkette, die über das Gesicht eines Syrers gezogen wird, "Ausländer raus"-Rufe, die in einer Massenschlägerei vor einer Eisdiele münden. Nach den Vorfällen in Chemnitz vor zwei Wochen sind überall in Deutschland rechte Angriffe passiert, Menschen schlugen, traten, knüppelten auf Menschen ein, weil sie anders aussehen oder eine andere Meinung haben.

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Allein in Chemnitz registrierte die Opferberatungsstelle des RAA Sachsen rund um den ersten Neonazi-Aufmarsch am 26. August sowie den vier folgenden Demonstrationen der nächsten sechs Tage 30 rechte Gewalttaten. Im gesamten letzten Jahr gab es in der Stadt nur 20 vergleichbare Angriffe. "Das ist eine Dimension, die wir so noch nie erlebt haben", sagt Robert Kusche vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) gegenüber VICE. Er befürchte, dass Neonazis besonders in rechten Hochburgen im Osten nun noch aktiver werden. "Chemnitz war für Mitglieder der rechten Szene ein Erfolgserlebnis. Es hat den Rechten gezeigt, dass sie auch ohne großen Widerstand aus der Zivilgesellschaft, Polizei und Politik aufmarschieren können und nur eine Gelegenheit brauchen, um ihre Gruppen zu mobilisieren."


Auch bei VICE: Chaos in Chemnitz


Doch auch ohne direkte Anlässe, etwa Todesfälle wie in Köthen und Chemnitz, lebten rechte Gewalttäter in den letzten Wochen ihre Weltanschauung aus. Sie suchten sich Orte, an denen sie davon ausgingen, potenzielle Opfer oder Ziele ihrer Gewalt zu finden, zum Beispiel Flüchtlingsunterkünfte oder Restaurants jüdischer Besitzer. "Wir haben in kürzester Zeit bundesweit Angriffe in einer Intensität und Häufigkeit erlebt, die es so vorher nicht gab", sagt Kusche.

VICE hat 34 bereits ermittelte und mutmaßliche rechtsmotivierte und rassistische Angriffe in Deutschland zwischen dem 26. August und 11. September gesammelt, über die meist – wenn überhaupt – nur die Lokalpresse berichtet hat. Betroffene und Zeugen hatten Videos und Bildmaterial an Opferberatungsstellen und örtlichen Organisationen geschickt oder über Twitter verbreitet. Wir haben alle Fälle in einer Deutschlandkarte festgehalten. Nachfolgend zudem eine Auswahl:

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In der Nacht zum 28. August, nur wenige Stunden nach dem zweiten Aufmarsch von Rechtsextremen in Chemnitz, wirft ein 27-Jähriger Pflastersteine durch mehrere Fenster einer Containeranlage für Asylbewerber in Peiting, Oberbayern. Im Anschluss prügelt er sich mit einem Bewohner. Einen Tag später, schlagen drei Männer einen 20-jährigen Syrer in Wismar, Mecklenburg-Vorpommern, mit Schlagringen ins Gesicht, sie schlagen auf seinen Oberkörper ein und beleidigen ihn rassistisch. Am selben Tag greifen vier Männer im thüringischen Sondershausen einen 33-jährigen Eritreer an und verletzen ihn schwer. Laut Polizei sind alle vier dem rechten Spektrum zuzuordnen. Am 30. August findet ein Asylsuchender aus Eritrea drei Einschusslöcher in den Fenstern seiner Wohnung in einer Gemeinschaftsunterkunft in Dresden-Gorbitz.

Am 31. August sollen zwei Rostocker eine 48-jährige Syrerin mit ihrem Baby auf dem Arm in einen Teich geschubst haben. Gegen die Männer wird wegen versuchter Körperverletzung, Volksverhetzung, Beleidigung und Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen ermittelt. Einen Tag später soll dieselbe Frau mit ihren 27- und 18-jährigen Töchtern im Stadtteil Toitenwinkel von einer Gruppe ausländerfeindlich beschimpft worden sein.

Ebenfalls in Rostock, aber im Stadtteil Marienehe, greift ein 45-jähriger Mann am 3. September an der S-Bahnstation drei Studierende aus Aserbaidschan mit einem Knüppel an, brüllt rassistische Parolen und verletzt einen Studenten. Am selben Tag grölen zwei maskierte Männer rassistische Parolen in einer knapp 350 Kilometer entfernten Kleinstadt bei Leipzig. Sie versuchen in die Wohnung eines pakistanischen Menschenrechtsaktivisten einzubrechen, ziehen dann zum Kleingarten der Familie weiter und schlagen dort auf deren Pkw ein.

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Am 5. September schlägt ein 20-Jähriger einem 15-jährigen syrischen Schüler eine Bierflasche auf den Kopf. Das passiert in einer Regionalbahn im Harz, der Schüler wurde zuvor rassistisch beleidigt und muss später im Krankenhaus behandelt werden.

Am 6. September, schubst ein Deutscher in Sebnitz, Sachsen, einen 20-jährigen Syrer, schreit ihm von hinten rassistische Parolen nach, zieht ihm dann eine Eisenkette durch das Gesicht und prügelt auf ihn ein. Am selben Tag versucht ein Mann, eine junge Syrerin am Hauptbahnhof in Leipzig vor eine Straßenbahn zu stoßen. Dabei soll er "Scheiß Ausländer, scheiß Muslime! Geht in eure Heimat" geschrieben haben. Die Polizei Sachsen bestätigt den Sachverhalt so auf Twitter, der Staatsschutz ermittele wegen Körperverletzung und Beleidigung.

Kurz vor Mitternacht am 7. September stürmt eine Gruppe von etwa zehn vermummten Neonazis mit Baseballschlägern, Teleskopschlagstöcken und Schlagringen in das Kulturzentrum "Hanseat" in Salzwedel. Sie zerstören die Inneneinrichtung, ein 17-jähriger Besucher bekommt einen Schlag auf den Kopf und wird schwer verletzt.

In der Nacht zum 8. September attackieren zwei Männer eine syrische Familie in Demmin, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Einer der Männer klettert in das Zimmer des 13-jährigen Sohnes der Familie und packt ihn an der Schulter. Zuvor brüllten die Angreifer, die Bewohner sollten "abhauen und in ihr Land zurückkehren."
Eine Gruppe von Männern greift in Wiesloch bei Heidelberg während ihres Junggesellenabschieds am 9. September die Besitzer einer Eisdiele an, sie schmeißen mit Stühlen und schlagen um sich. Es entsteht eine Massenschlägerei. Die Männer sollen zuvor laut Augenzeugen Nazi-Parolen, "Ausländer raus" und "Deutschland gehört den Deutschen" gerufen haben. "Wir haben erst gedacht, die machen Spaß," sagt ein Familienmitglied der Eisdieleninhaber gegenüber Reportern. In der Nacht auf Montag, den 10. September, beschmieren Unbekannte eine Schule in Braunschweig mit Nazi-Sprüchen und beziehen sich auf die Vorfälle in Chemnitz.

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Am 11. September tritt ein unbekannter blonder Fahrgast in einer Straßenbahn eine 17-jährige Afghanin gegen den Unterschenkel und beleidigt sie. Anschließend verlässt er die Bahn. Der Dresdner Staatsschutz ermittelt wegen Körperverletzung und Beleidigung.

"Es hängt auch davon ab, wie die Lokalpolitik, die Polizei und die Zivilgesellschaft nun reagieren"

Dies ist nur eine Auswahl dessen, was in den 14 Tagen seit Chemnitz passiert ist. Vor allem im Osten werden derzeit viele Angriffe gemeldet, ein Grund dafür sei jedoch nicht nur eine stärker vorhandene Neonazi-Struktur, betont Robert Kusche vom VBRG, sondern auch, dass es dort bereits seit längerer Zeit Beratungsstellen für Betroffene gibt: "Dort, wo Beratungsstellen entstehen, wird genauer hingeguckt und werden auch mehr Angriffe gemeldet".

Weder Polizei noch Opferberatungsstellen wollen sich momentan auf eine genaue Zahl festlegen. Manche Übergriffe werden von Betroffenen und Beobachtenden erst Tage später gemeldet, einige kommen gar nicht erst zur Anzeige und tauchen später in keiner polizeilichen Kriminalstatistik auf.

Offizielle Zahlen zu Hasskriminalität und insbesondere zu fremdenfeindlichen Straftaten geben die Innenministerien der Länder erst mit der Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistiken 2019 bekannt, erste Zahlen finden man jedoch bereits in den Antworten auf vereinzelte Kleine Anfragen der Linksfraktionen in den Landtagen.

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Robert Kusche vom Verband der Beratungsstellen befürchtet, dass weitere Angriffe folgen und die Zahlen des letzten Jahres übersteigen werden. Aber: "Es hängt auch davon ab, wie die Lokalpolitik, die Polizei und die Zivilgesellschaft nun reagieren."

Update vom 28. September, 17:02 Uhr: 93 Vorfälle rassistischer, rechter und antisemitisch motivierter Gewalt und Bedrohungen haben die Opferberatungsstellen bundesweit seit dem Tod von Daniel H. registriert.

Judith Porath, wie Robert Kusche im Vorstand des VBRG, sagt in einem Pressestatement vom 26. September: "Die Allgegenwart rassistischer Hetze führt dazu, dass es keine sicheren Orte mehr gibt", Geflüchtete, Familien mit Migrationshintergrund und Schwarze Deutsche müssten derzeit überall damit rechnen, von organisierten Neonazis und Rassisten angegriffen zu werden.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel und die eingebundene Karte werden fortlaufend um weitere Fälle ergänzt, die sich zwischen dem 26. und 11. September ereignet haben und erst nach Veröffentlichung des Artikels bekannt wurden.

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