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sex oder politik?

Diese Schweizerinnen wurden zu den schönsten liberalen Politikerinnen gewählt – und finden das OK

Wieso? Wir haben sie gefragt.
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Vor knapp einem Monat prangte eine Karikatur auf dem Titelblatt der Tageszeitung Schaffhauser Nachrichten. Eine zeternde Frau mit nacktem Oberkörper schreit zwei junge Männer an: "Warum ruft ihr mich nicht an??" Die Frau soll Juso-Präsidentin Tamara Funiciello darstellen, die beiden Männer die Musiker Lo und Leduc. Funiciello hatte deren Sommerhit "079" in einer Rede über Gewalt gegen Frauen in einem Nebensatz als "problematisch" im Kontext mit Alltagssexismus bezeichnet. In der Zeichnung steht die echte Handynummer der Politikerin. Dass eine Frau nach einer solchen Äusserung derart plump und verachtend dargestellt wird, ist bezeichnend und hat System: Bist du laut und unbequem, wirst du bestraft. Bereits Anfang Jahr berichteten Schweizer Politikerinnen im Rahmen der #metoo-Bewegung davon, von ihren Kollegen immer wieder verbal herabgesetzt zu werden.

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Dass es bis zur Gleichberechtigung in der Schweiz noch ein weiter Weg ist, zeigen auch die Betreiber des Blogs Die Zürcherin. Hier schreiben acht junge Männer – und keine Frau. Der Name des Blogs klingt "gleichzeitig frisch und traditionell", es sollen beide Geschlechter angesprochen werden, schreiben die Herausgeber in ihren publizistischen Leitlinien auf der Webseite. Die Zürcherin sei ein Onlinemagazin "mit einer klassisch liberalen, oder anders ausgedrückt, libertären Ausrichtung. Berichtet wird über Zürich und die Welt". Zum Beispiel am 12. September darüber, welche liberalen Politikerinnen der Schweiz die zehn schönsten sind – bereits zum zweiten Mal. Was denken die Frauen, die in der Liste "geehrt" werden, selber über diese Liste?

Wir haben sie gefragt.


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Camille Lothe, Präsidentin der Jungen SVP Zürich, wird in der Liste nicht nur für ihr Aussehen, sondern auch für ihren "liberalen Kompass" gelobt, die Blogger prophezeien ihr eine "vielversprechende Politkarriere". Sie fühle sich geschmeichelt, dass man ihr liberales Engagement anerkennt, schreibt sie auf Twitter. Dass dabei vor allem das Aussehen der Frauen im Vordergrund steht und nur sehr oberflächlich ihre politische Leistung, müsse man mit einem Schmunzeln nehmen, findet sie. "Besser, man ist die 'schöne Liberale' als gar niemand. Wenn dich niemand kennt, wird dich auch niemand wählen."

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Lothe hat Erfahrung mit medialer Aufmerksamkeit, die sich vor allem um ihr Aussehen dreht. Im Januar dieses Jahres war der Instagram-Account der Jungpolitikerin – beziehungsweise die "freizügigen" Fotos darauf – 20Minuten, der reichweitenstärksten Zeitung der Schweiz, einen Artikel wert. "Die Kommentare der User waren wirklich unter aller Sau", sagt Lother. Für sie steht aber fest: "Es wird immer schlimme Kommentare über das Aussehen von Frauen geben. Das ist schliesslich einfacher, als sich auf eine politische Diskussion einzulassen."

Dem Schönheits-Ranking von Die Zürcherin kann Lothe aber auch etwas Gutes abgewinnen: "Hier wird das Aussehen quasi als Mittel zum Zweck genutzt. Jetzt kennen die Leute, die den Artikel angeklickt haben, diese Politikerinnen. Und vielleicht setzen sie sich in einem zweiten Schritt auch mit ihrer politischen Arbeit auseinander."

Auch Jessica Brestel – laut Die Zürcherin auch "Anarcho-Jessie" genannt – wird als eine der zehn schönsten liberalen Frauen aufgeführt. Sie ist Vizepräsidentin der Jungfreisinnigen der Stadt Zürich und sagt gegenüber VICE: "Ich sehe das als Kompliment, schliesslich werden neben dem Aussehen auch die liberalen Leistungen honoriert."

Auf Social Media stehe man als Politikerin heute stärker mit seinem Gesicht in der Öffentlichkeit als früher, daher sei es naheliegend, dass solche Listen erstellt werden. Für Brestel steht aber auch fest: "Wird Kritik an Männern geäussert, findet die schon auf einer anderen Ebene statt. Bei Frauen geht es schneller ums Aussehen."

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Sie selber hat das im Rahmen der No-Billag-Kampagne erlebt, musste sich damals anhören, sie sei dumm und asozial – unter anderem von der SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, vor allem aber in Online-Kommentaren, mehrheitlich von Männern geschrieben. "Da hatte ich schon das Gefühl, dass das damit zu tun hat, dass ich eine Frau bin. Und dazu noch eine Blondine!"

Das Gefühl, unterschätzt zu werden, kennt auch Jill Nussbaumer. Sie arbeitet bei den Jungfreisinnigen Schweiz als Kassierin und erzählt von dem triumphalen Gefühl, "wenn ich besser argumentieren kann, als mein Gegenüber anfangs dachte". Dass eine solche Liste Frauen auf ihr Aussehen reduziert, findet Nussbaumer nicht. Sie sieht darin eine Chance: "Vielleicht klicken einige Leute die Liste an, die sich bisher nicht für Politik interessiert haben." Gleichzeitig könne eine solche Liste eine Diskussion ankurbeln darüber, warum es bei Frauen in der Politik öfter um das Aussehen geht als bei ihren Kollegen – und so der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten.

Dem stimmt Rahel Landolt, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Aussenwirtschaft bei Economiesuisse, zu: "Ich gönne dem Autor, dass er in wohl sehr kurzer Zeit einen Artikel veröffentlicht hat, der offenbar viele Reaktionen auslöst und oft gelesen wird. Das ist doch positiv für ein Magazin und für die vielen Leser – die das offenbar aufregt, die es amüsant oder interessant finden und die es zu Diskussionen anregt."

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Auf ihr Äusseres reduziert fühlt sich Landolt nicht. Im Gegenteil, dass bei Frauen mehr über Äusserlichkeiten diskutiert wird als bei Männern, überrascht die Zürcherin nicht. Und sie ergänzt: "Ich finde es toll, dass sich der Autor auch heute, in Zeiten der überhöhten Political Correctness, die Freiheit nimmt, ein solches Ranking zu erstellen. Die Empörung war vorprogrammiert. Wenn Dinge nicht ausgesprochen werden, die andere empören könnten, kann keine Auseinandersetzung entstehen. Weder in der Gesellschaft noch in den eigenen Gedanken. Das finde ich verheerend."

Die "schöne Livia Wyss" von den Jungfreisinnigen Ausserrhoden steht ebenfalls auf der Liste: "Mich stört es nicht wirklich, dass ich auf der Liste bin, messe dem Ranking jedoch keinerlei Bedeutung zu. Was mich jedoch stört ist die Tatsache, dass man ein Bild von mir verwendet hat, ohne mich vorher zu fragen." Dass man als junge, politisch aktive Person stets auf gewisse Parameter reduziert wird – sei es auf das Geschlecht, das Aussehen, die Herkunft oder den Beruf – beobachte Wyss auch in ihrem Umfeld bei zahlreichen Kollegen und Kolleginnen: "Ein solches Ranking hilft da sicherlich nicht gerade, dieses Problem zu lösen. Schliesslich hat das Aussehen keinerlei Einfluss auf die politische Leistung einer Frau."

Auf Twitter wurden die Herausgeber des Blogs übrigens gefragt, warum es keine entsprechende Liste von liberalen Männern gibt. Sie hätten es probiert, war die Antwort, aber: "Bei Männern ist es einfach nicht das Gleiche."

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