Wir haben uns 'Murer' mit einem Verwandten des Schlächters von Vilnius angesehen
Foto: Karl Fischer © Prisma Film/Ricardo Vaz Palma

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Wir haben uns 'Murer' mit einem Verwandten des Schlächters von Vilnius angesehen

Franz Murer war mitverantwortlich für die Tötung von 80.000 Juden, wurde in einem geschobenen Prozess aber freigesprochen. Der Film über die Ereignisse gewann bei der Diagonale den Großen Spielfilm-Preis.

Schon die Reservierung der Karten sorgt für Verwirrung, Alex wollte das unbedingt selbst machen.

"Ich möchte drei Karten heute für Murer reservieren."

"Auf welchen Namen läuft die Reservierung?"

"Murer."

"Ja, aber auf welchen Namen?"

"Murer."

Das geht eine Weile so, bis der Mann am anderen Ende der Leitung irgendwann aufgibt. Erst beim Abholen der Karten klärt sich alles auf. Am Schalter dachte man, es wäre ein Fehler passiert. Alles richtig so, Murer sieht sich Murer an. Was er sich von dem Film erwartet, weiß er selbst nicht so genau, oder er will es nicht preisgeben. Seine Freundin ist auch dabei und will sich die Reaktion nicht entgehen lassen. Schließlich hat nicht jeder einen bekannten Funktionär der NSDAP in der Verwandtschaft.

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Ich selbst habe mir nie wirklich Gedanken gemacht, was meine Verwandten im Krieg wohl so verbrochen haben. Ob ihre seicht gewaschenen Geschichten für uns Kinder auch nur annähernd der Wahrheit entsprochen haben. Jetzt ist es zu spät, um nochmal nachzufragen. Schon im Vorhinein wirft Murer die Frage auf, ob wir alle Kriegsverbrecher in der Verwandtschaft haben – weil das damals nun mal so war. Doch selbst, wenn die Schreckenstaten der Zeit bekannt sind, heißt das noch lange nicht, dass jemals Konsequenzen gezogen wurden, wie uns Murer (der Film, nicht Alex) eindrucksvoll zeigt.

Franz Murer gefürchtet als der "Schlächter". Wenn er im Ghetto war, war auch der Tod nicht weit.

Der Film stellt den Grazer Prozess um Franz Murer anhand originaler Gerichtsdokumente nach. Zeugen werden nacheinander aufgerufen und erzählen ihre persönlichen Horrorgeschichten. Stationiert im Ghetto der Juden in Vilnius/Wilna (Litauen), war Franz Murer gefürchtet als der "Schlächter". Wenn er im Ghetto war, war auch der Tod nicht weit. Es wird vom Spaß beim Töten gesprochen, von Demütigung und von Willkür. Ein Vater versuchte, mit seinem Sohn Kartoffeln ins Ghetto zu schmuggeln. Als diese entdeckt werden, lässt Murer den Vater niederknien und schießt ihm vor den Augen des Sohns ins Genick.

Der Arzt des jüdischen Krankenhauses schildert, dass er alle Schwangerschaften beenden musste, weil jüdische Frauen keine Kinder bekommen durften. Wenn doch, wurden die Babys sofort getötet. Die Beweislast wirkt erdrückend, als unbehelligter Zuseher würde man eine Verurteilung erwarten. Doch Murer beharrt starr auf seiner Unschuld. Er wäre doch nur ein kleiner Bauer, der aus Dienstverpflichtung in Vilnius (auch Wilna) gelandet war. Wenn sich Zeugen nicht an die Farbe seiner Uniform erinnern konnten, dann mussten sie ihn verwechseln. Bestimmt mit dem Martin Weiß, der für seine Untaten ja bereits verurteilt wurde.

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Murer stellt die Verhandlung nach, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Das ist auch gar nicht nötig. Die furchtbaren Erzählungen reichen, um den Glauben an die Menschheit zu verlieren. Dass ein ganzes System so konsequent darauf hinarbeiten konnte, einen offensichtlichen Kriegsverbrecher zu decken, wirkt heute unfassbar – und gleichzeitig auf perfide Art nachvollziehbar, im Paktierland Österreich.

Jeder kleine Fehler in den Zeugenaussagen wird als angebliches Zeichen für Murers Unschuld ausgenutzt. Die Erzählung wirkt so weit entfernt von der heutigen Realität, dass man sie für Fiktion halten würde, wüsste man nicht, dass sie auf wahren Begebenheiten beruht. Dann wird im Film plötzlich von der "Lügenpresse", die gegen Murer arbeite, geredet – und auf einmal wirkt das alles gar nicht mehr so fern.

Die Jury, bestehend aus acht Heinzelmännern und -frauen, kann sich nicht vorstellen, dass "der Murer" so etwas gemacht haben soll. Auch wenn in einigen Anklagepunkten Gleichstand zwischen den Geschworenen herrscht, folgt ein Freispruch in allen Punkten. Murer verzieht zum ersten Mal seine starre Miene für einen Freudenschrei, im Saal herrscht tosender Applaus. Zumindest auf einer Hälfte. Auf der anderen: Emotionen jenseits von Gut und Böse.


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Nachher herrscht im Kinosaal Stille. Beim Anziehen traue ich mich kaum, ein Geräusch zu machen, wegen der Leute, die sich noch den Abspann ansehen wollen oder einfach noch einen Moment Ruhe brauchen. "Und, wie hat dir der Film gefallen?", erscheint als denkbar unpassende Frage. Wir sind bedrückt und können unsere Gedanken schwer in Worte fassen. "Unglaublich gute Schauspieler", sagt jemand, "sehr bedrückende Stimmung" jemand anders.

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Auch Alex merkt man an, dass er nicht recht weiß, was er sagen soll, wenn er davon redet, dass es nicht nachvollziehbar sei, welche Umstände zu einem Milieu geführt haben könnten, in dem ein derart geschobener Prozess verhandelt wurde. Er mutmaßt, es könnte daran liegen, dass "im Krieg alle Scheiße gebaut" haben, die sie vergessen und verdrängen wollten.

Wenn jedem ein fairer Prozess gemacht worden und jeder Kriegsverbrecher hinter Gittern gelandet wäre, gäbe es die Hälfte von uns heute vielleicht nicht. Der Film vermittelt das Gefühl, dass die Gesellschaft aufgrund ihrer Kollektivschuld beschlossen hatte, dass keine Kriegsverbrechen, egal wie grausam, aufgearbeitet werden sollten. Wir entscheiden uns, erstmal drüber zu schlafen und morgen weiter zu reden.

Am nächsten Tag kommt Alex mit einer Flasche Wein bewaffnet vorbei. Kennengelernt hab ich Alex etwa vor einem Jahr, irgendwo beim Fortgehen, da war Alex 29. Darauf folgten unzählige Partys und Feste, ein gemeinsamer Urlaub.

Als der Film rauskommt und ich im Spaß frage, ob er zufällig mit dem Franz Murer verwandt ist, bejaht er zu meiner Überraschung. Gleichzeitig bin ich schockiert, dass ich das nicht wusste. "Ist halt nie aufgekommen", sagt er. Nichts, was man beim Feierabendbier ins Gespräch einwirft, schon klar. Noch überraschender ist nur Alex‘ Antwort, wann er erfahren hat, dass er mit Franz Murer verwandt ist.

"Das war vor zirka zwei Jahren. Eine damalige Freundin aus Gaishorn hat mich gefragt, ob ich mit ihm verwandt bin." Er erzählt, dass er erstmal selbst recherchieren und bei seiner Familie nachfragen musste. Es sei dort kein großes Gesprächsthema, da er nicht in derselben Gegend wie Franz Murer aufgewachsen war.

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Auf meine Frage, ob es ihm jemals komisch vorgekommen ist, dass die Geschichten von damals nie angesprochen worden waren, antwortet er zögerlich. "Wahrscheinlich spricht man nicht gerne über ferne Verwandte, die für ihre Verbrechen bekannt sind. Es braucht den richtigen Moment, um mit solchen Geschichten anzufangen. Und im Alltag ist es nie so präsent, wenn nicht gerade ein Film darüber gedreht wird."

Ich will wissen, ob er seinen eigenen Kindern davon erzählen würde. Er wirkt unsicher, aber "wenn es sich ergibt und es gerade aktuelle Ereignisse wie einen Film dazu gibt, dann schon. Aber ich werd‘s nicht forcieren." Auf meine Frage nach der politischen Gesinnung seiner Familie, erhalte ich nur die knappe Antwort, dass ihm "jedenfalls keine FPÖ-Wähler" bekannt wären.

Zusammen probieren wir, seinen komplizierten Familienstammbaum zu entwirren. Dabei kommen wir darauf zu sprechen, dass Alex eventuell gar nicht blutsverwandt mit Franz ist. Als Alex mit seinen Eltern über die Veröffentlichung des Films sprach, hätten diese zunächst gesagt, dass "wir wahrscheinlich gar nicht so richtig verwandt sind mit dem."

"Ich fand es lustig, dass das natürlich als erstes erwähnt wurde", erinnert sich Alex. Ich frage genauer nach und erfahre, dass Franz Murers Oma gerüchteweise auch "Kontakte mit einem anderen Mann gehabt haben soll", wodurch Alex väterlicherseits nicht mit Franz Murer blutsverwandt wäre. Er fügt aber auch hinzu, dass man das nicht sicher wissen könne. DNA-Tests wurden bekanntlich erst später erfunden. Darauf will ich spaßhalber wissen, ob er denn einen DNA-Test durchführen lassen würde, um herauszufinden, ob das "Verbrecher-Gen" auch in ihm steckt. Lachend sagt er nur, dass ihm kein solches Gen bekannt wäre.

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Wie verbunden fühlt sich Alex mit dem Thema? Zum ersten Mal wirkt er nachdenklich, als er antwortet: "Ich habe mich schon gefragt, ob in meinem Erbgut auch etwas von so einem Menschen steckt. Kann das sein? Grundsätzlich betrifft es mich schon, weil man denselben Namen trägt. Aber inwieweit ist man für seine Verwandtschaft verantwortlich? Natürlich erzeugt es ein mulmiges Gefühl, wenn man mit dem Schlächter von Vilnius in Verbindung gebracht wird – und es macht schon was mit dir, wenn dein Familienname plötzlich in dem Zusammenhang in der ganzen Stadt plakatiert ist."

Alex spricht dabei von Dingen, die "man" erlebt; als wolle er seine Distanz zum Thema wahren. Auch die im Film dargestellte überschwänglich positive Reaktion des Publikums zum Freispruch von Franz Murer wollte er nicht zu sehr an sich ran lassen: "Ich hab versucht, nicht zu urteilen, sondern darüber nachzudenken, was für ein Mikrokosmos die ganze Gesellschaft damals war. Sicher waren unter den Leuten, die den Freispruch bejubelt haben, genug dabei, die Dreck am Stecken haben. Das nationalsozialistische Gedankengut hat die Gesellschaft durchsetzt, und es war wohl nicht unüblich, die ganzen Beweise zu ignorieren und an eine große Judenverschwörung zu glauben, selbst in den 60er-Jahren."

Mir fallen gleich mehrere Politiker ein, die sich Murer mehrmals ansehen sollten.

Soweit Alex weiß, lebte Franz Murer nach seinem Freispruch weiterhin auf seinem Hof in Gaishorn und war für den Bauernbund der ÖVP tätig. In der Zivilgesellschaft sei er angesehen gewesen, was auch dazu geführt haben könnte, dass hohe Politiker der beiden damaligen Großparteien SPÖ und ÖVP intervenierten, damit kein "Schauprozess" zu Stande kommen konnte. Das deutet auch der Film an: Nur nichts aufarbeiten, lautete die Devise.

Als sich die Weinflasche langsam leert, kommen wir auf die heutige Relevanz des Films zu sprechen. Für Alex ist es wichtig, sich an die Vergangenheit zu erinnern, auch wenn wir uns heute für Taten unserer Vorfahren nicht mehr mitschämen müssten. Mir fallen gleich mehrere Politiker ein, die sich Murer mehrmals ansehen sollten.

Abschließend frage ich Alex noch, was für ihn die wichtigste Botschaft des Films war. "Dass der Nationalsozialismus mit Ende des Kriegs keineswegs vorbei war, sondern die Gesellschaft noch lange mit dem Gedankengut infiziert war – und es teilweise auch heute noch ist." Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.

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