Bei der "Mahnwache" für den Hund, der zwei Menschen getötet hat
Alle Fotos: Hakki Topcu

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Kampfhunde

Bei der "Mahnwache" für den Hund, der zwei Menschen getötet hat

"Ich muss sagen, ich kann nicht um die Leute trauern, die da gestorben sind", sagt Astrid, 49.

Guillermo Schwiete versucht gar nicht, seine Wut unter Kontrolle zu halten. "Die Zeit des Redens ist hiermit vorbei! Die haben uns verarscht! Für dumm verkauft!", schreit der Mittvierziger in sein Mikrofon. "Jetzt bleibt uns nur noch, den Behörden das zurückzugeben, was sie uns gegeben haben!"

Und dann zieht er gut hörbar seinen Rotz hoch und spuckt ihn vor den Eingang des Veterinäramts der Stadt Hannover, vor dessen Aufgang er seine Rede hält. Aus dem Amt kommt keine Reaktion, weil sonntags natürlich niemand da ist. Umso begeisterter klatschen und jubeln die knapp 60 Menschen, die sich an diesem Nachmittag vor dem Gebäude versammelt haben, um den Tod des Staffordshire-Terrier-Mischlings Chico zu betrauern. "Für uns ist Chico unser Held! Unser Freiheitskämpfer!", ruft Guillermo Schwiete jetzt. "Er ist Chico-vara! Chico-vara, ob’s euch gefällt oder nicht!" Den Versammelten gefällt es außerordentlich, sie pfeifen und rufen: "Ja! Ja!"

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Die Begeisterung der Menschen hier ist für viele Außenstehende ein Rätsel, oder auch einfach nur völlig geschmacklos. Denn Chico, der Freiheitskämpfer, hat am 3. April seinen 27-jährigen Besitzer und dessen 52-jährige, im Rollstuhl sitzende Mutter in ihrer Wohnung in Hannover totgebissen. Nachdem die Stadt zuerst angekündigt hatte, den Hund einzuschläfern, zog man nach massiven Protesten und einem missglückten, nächtlichen Befreiungsversuch dann doch in Erwägung, ihn in einem Spezialheim in München unterzubringen. Am Montag verkündete die Stadt schließlich, Chico sei nun doch eingeschläfert worden. Der Grund: Das Tier habe, vermutlich aufgrund des Kampfes, so schwere Verletzungen am Kiefer gehabt, dass der notwendige "Wesenstest" ohne mehrere Operationen gar nicht durchführbar gewesen wäre. Und dann brach die Hölle los.


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Vor allem auf Facebook rasteten die Leute aus. Auf Seiten wie "Ein Herz für Pitbull & Co" und "Freie Hunde" e.V." ereiferten sich Tierfreunde in Rage, als wäre vor ihren Augen ein Justizmord geschehen. "GLEICHES RECHT FÜR ALLE", trieb die Seite Animal-Peace die Forderungen schließlich auf die Spitze und forderte: "Todesstrafe für die Mörder von Chico". Und es dauerte nicht lange, bis die ersten Morddrohungen gegen die Angestellten des Hannoveraner Tierheims eintrafen.

Dann folgte die Gegenreaktion: Auf Facebook warfen andere Nutzer den Chico-Fans Doppelmoral, Menschenhass und Dummheit vor. Und dann schalteten sich auch die großen Medien ein: Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte eine Doppelseite über die "irrwitzige Diskussion", in der Welt warf der Kolumnist Peter Huth den Chico-Verteidigern "eiskalte Herzen, weichen Verstand" vor. Chicos Schicksal regt Deutschland gerade mindestens so auf wie die antisemitischen Übergriffe auf Menschen, die Kippa tragen – wenn nicht mehr.

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"Kein Tier ist von Grund auf böse"

Bis zu Guillermo Schwietes Auftritt ist davon am Sonntagnachmittag nicht viel zu merken. Die Stimmung ist ausgesprochen friedlich, gerade mal ein Streifenwagen beobachtet die kleine Truppe vor dem Tierheim.

Versammelt hat sich hier eine relativ bunte Mischung von Menschen, die sich aber alle einig sind, dass der Hund Chico ein unschuldiges Opfer ist. "Wenn man den Hund rechtzeitig aus der Familie entfernt hätte, dann könnten beide Seiten jetzt noch leben", erklärt die 52-jährige Sabine S. Sie wittert eine Verschleierung: "Ich weiß, dass es Tiere gibt, bei denen es nicht anders geht, als sie einzuschläfern", sagt sie, "aber in dem Fall wollten die einfach unangenehmen Nachfragen entgehen." Auch das Ehepaar A., beide um die 50, sagen, dass der Terrier im richtigen Umfeld noch ein gutes Leben hätte haben können – und dass er nur sterben musste, um "das Versagen der Stadt" zu vertuschen.

Herr und Frau A.

Tatsächlich hat die Stadt mittlerweile "gravierende Fehler" eingeräumt: Schon 2011 lag ein Gutachten vor, dass Chicos Halter nicht in der Lage war, sich um den Hund zu kümmern. Passiert ist trotzdem nichts, und der Hund blieb weiter bei dem Mann, der ihn offenbar über lange Zeiträume in einem Stahlzwinger in seinem Zimmer einsperrte. Diese falsche Haltung, da sind sich Teilnehmer der Mahnwache einig, habe den Hund zum Äußersten getrieben.

"Kein Tier ist von Grund auf böse", sagt Sebastian Glaubitz, der die Mahnwache organisiert hat. "Jeder Mensch, der acht Jahre in einem Käfig gehalten wird und nur zum Scheißen auf den Balkon gehen darf, würde genauso durchdrehen." Im Vorfeld der Mahnwache hatte die Polizei Hannover erklärt, dass dort möglicherweise auch Leute mit rechtsextremen Hintergrund "mitmischen" würden. Glaubitz hat auf seinen Arm "Arbeit macht frei" tätowiert, auf dem linken Arm den Namen einer bekannten rechtsextremen Hooligan-Band. Aber er sagt, dass das Überreste seiner Vergangenheit seien – und dass es heute "wirklich nur um Chico gehen soll".

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"Menschen sind schlecht"

Ein bisschen um die beiden Verstorbenen solle es dann aber doch gehen, sagt Glaubitz: "Die sind uns ja auch nicht scheißegal." Am Mikrofon liest gerade eine Frau mit brüchiger Stimme eine Botschaft an die beiden Getöteten vor: "Ich würde gerne die Zeit zurückdrehen und euch kennenlernen – vielleicht wart ihr ja ganz nett." Danach folgt noch ein Gedicht an Chico. "Augen, aus denen so viel Sehnsucht und Verzweiflung sprechen – und Hoffnung auf Güte und Liebe und Glück", trägt die Frau vor. Mindestens ein Dutzend Menschen im Publikum und die Dichterin selbst haben feuchte Augen, ein, zwei Frauen weinen richtig , als sie mit "Schatten liegt auf meiner Seele – Schatten liegt auf vielen Seelen" schließt.

Es ist nicht ganz leicht nachzuvollziehen, warum die Menschen hier das Schicksal eines einzelnen, extrem gefährlichen Hundes so bewegt. Und warum es ihnen offenbar so viel leichter fällt, sich mit dem Hund zu identifizieren als mit den Menschen. Für Guillermo Schwiete, der heute extra aus dem Ruhrgebiet angereist ist, geht es um "Empathie" – das Wort betont er immer wieder. Zum Beispiel auch, wenn er alle, die diese Mahnwache kritisieren, als "ein Haufen empathieloser, fauler Facebook-Rambos" beschimpft. In dem sozialen Netzwerk hatten immer wieder Leute angemerkt, dass es genug andere Tiere in Deutschland gebe, gegen deren Leid man protestieren könne. Für diese Menschen hat Guillermo Schwiete nur eine Botschaft: "Bewegt doch euren fetten Arsch von der Couch und tut selber was!"

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Guillermo Schwiete

Drei Gegner der Mahnwache sind tatsächlich persönlich erschienen. Charlotte, Timon und Paul, alle zwischen 18 und 20, sind gekommen, weil sie die Veranstaltung "lächerlich" finden. "Die haben heute bestimmt alle ihre Aldi-Frühstückseier aus Massentierhaltung genossen, und jetzt ist dieser Hund hier der Held", sagt Timon. "Es ist halt viel einfacher, hier Kerzen aufzustellen, als darüber nachzudenken, wie viel tierisches Leid die eigene Lebensführung anrichtet", findet Paul.

Die drei "Gegendemonstranten"

Tatsächlich geben mehrere Leute auf der Chico-Mahnwache zu, keine Vegetarier zu sein. "Klar, das sind auch Tiere, die getötet werden, irgendwo tun die mir auch leid", sagt Sebastian Glaubitz. "Aber was soll mein Hund sonst essen? Der kann ja nicht nur Nudeln fressen." Es ist offenbar schwer, für jedes Lebewesen gleich viel Empathie aufzubringen. Viele der Leute, die hier hinter dem Tod eines einzigen Hundes gleich eine Verschwörung von Medien und Politik ausmachen, haben anscheinend keine Probleme damit, dass deutsche Betriebe jeden Tag zwei Millionen Tiere schlachten.

Rechts: Astrid

Die 49-jährige Astrid ist auch keine Vegetarierin, und das Leid ihrer Mitmenschen geht ihr offenbar auch nicht so nahe. "Ich muss sagen, ich kann auch nicht um die Leute trauern, die da gestorben sind", sagt sie. "Da bin ich ganz ehrlich. Der Hund steht für mich über den Menschen, die den so gehalten haben." Auch Astrid isst Fleisch. Eine ältere Dame mit Fahrrad erklärt, dass sie Tiere umso mehr liebe, je besser sie die Menschen kenne. "In einem brennenden Haus würde ich die Tiere retten, nicht die Menschen", sagt sie. "Menschen sind schlecht."

Am Ende sitzen die Mahnwachenden noch ein bisschen vor dem Amt herum. Eine pensionierte Beamtin, die sich vorhin in einem der mildesten Redebeiträge für weiteren Dialog mit den Verantwortlichen ausgesprochen hat, zieht Bilanz: "Es ist schön, dass so viele gekommen sind. So haben wir am Ende doch noch etwas Positives in die Welt gebracht", sagt sie. "Alles, was bisher passiert ist, war ja einfach schrecklich." Etwas entfernt sitzt Sebastian Glaubitz und verspricht, den Kampf für Chico nicht aufzugeben – "definitiv so lange, bis die Verantwortlichen vor Gericht sind."

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