Schlangen als Haare und ein kalter, stechender Blick: Selbst wenn du Prometheus nicht von Orpheus unterscheiden kannst, erkennst du Medusa sofort. Sie ist das vielleicht bekannteste Wesen der griechischen Sagenwelt, nicht zuletzt dank ihrer Frisur. Bis heute taucht die Medusa regelmäßig in Filmen, Serien, Bildern und Büchern auf. Ein Medusenkopf ziert das Logo des Modehauses Versace.
In ihrem Buch Literature and Fascination argumentiert Sibylle Baumbach, dass der Mythos auch deswegen so lange überdauert hat, weil wir immer hungriger nach großen Erzählungen werden, die uns faszinieren – und besonders viel Faszination gehe von gefährlichen Frauen und ihren Verführungskünsten aus. Medusa ist laut Baumbach zugleich ein “Bild der Intoxikation, Versteinerung und verlockenden Attraktivität”. Eine Google-Suche scheint dem Recht zu geben: Die meisten Medusa-Darstellungen bewegen sich zwischen schlangenartiger Femme fatale – siehe Rihannas GQ-Cover – und abgeschlagenen Köpfen, aus denen Blut und Gedärme schießen.
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Schon in der Antike war Medusa ein ähnlich vielschichtiges Geschöpf. Frühe Vasenmalereien und Gravuren aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert vor Christus stellen sie als eine der drei Gorgonen-Schwestern dar: eine schreckliche Gestalt, die als Monster auf die Welt gekommen war. Das änderte sich allerdings mit der Zeit. Der erste, der sich literarisch intensiv mit Medusas Ursprungsgeschichte auseinandersetzte, war der römische Dichter Ovid. In seinem Hauptwerk Metamorphosen, erschienen etwa acht Jahre nach Beginn unserer Zeitrechnung, beschreibt er Medusa, die einzige sterbliche Gorgone, als wunderschönes junges Mädchen. Durch ihre Schönheit auf sie aufmerksam geworden, stellt ihr der Meeresgott Poseidon nach und vergewaltigt sie im heiligen Tempel der Athene. Athene ist über die Entweihung ihres Tempels außer sich und bestraft schließlich Medusa, indem sie sie in ein schreckliches Monster mit Schlangenhaaren verwandelt, dessen Anblick alle zu Stein erstarren lässt.
Weitaus bekannter ist, was danach geschieht. Auftritt: Perseus, der Halbgott mit dem Knackarsch. Der Sohn des Zeus wird von König Polydektes mit dem Auftrag losgeschickt, ihm das Haupt der Medusa zu bringen. Polydektes hatte es auf Perseus’ Mutter Danaë abgesehen und weil ihr Sohn ihm die Tour vermasselte, wollte er den Halbgott aus dem Weg räumen. Damit Perseus bei seiner Selbstmordmission nicht zu Stein erstarrt, schenkt Athene ihm einen blitzeblank polierten Bronzeschild. Anstelle Medusa direkt anzuschauen, benutzt Perseus den Schild als Spiegel, arbeitet sich zu ihr vor und schlägt der Gorgone den Kopf ab. Erinnert alles ein bisschen an Harry Potter und den Basilisk, oder? Dann jedenfalls entschlüpft Medusas Hals Pegasus, das geflügelte Pferd, weil … ja, warum nicht?
Perseus packt derweil das Medusenhaupt in einen Sack und nimmt es mit. Auf seinem Rückweg begegnet er diversen Feinden, die er aber einfach mithilfe des hervorgeholten Kopfes versteinern kann. Auch Polydektes endet als Felsen. Anschließend gibt Perseus das Gorgonenhaupt an Athene, die es auf ihrem Schild platziert. Diese Geschichte mit dem Helden Perseus im Mittelpunkt hat Medusas Ruf als Monster zementiert.
In den Jahrhunderten davor war Medusa in der griechischen Mythologie vor allem eine mächtige Gestalt mit der Fähigkeit zu töten und zu beschützen. Bildhauer und Maler setzten das Medusenhaupt als Schutzsymbol ein, das böse Geister abwehren sollte. Ihre tragische Schönheit spielte dabei eine ebenso große Rolle. Auf dem römischen Mosaikfußboden, der in Los Angeles im Getty-Museum ausgestellt ist, ähneln Medusas wilden Schlangenhaare viel mehr braunen, vom Wind zerzausten Locken, ihr versteinernder Blick ist elegant in die Ferne gerichtet. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, in denen Medusa mehr Muse als Monster ist.
In der Renaissance wurde aus dem Geheimnisvollen das furchteinflößende Andersartige. Cellinis Bronzestatute von 1554 zeigt Perseus mit dem frisch abgeschlagenen Medusenhaupt in der Hand, siegreich auf ihrem Körper stehend. Das Werk hatte einen politischen Hintergrund: Cellini war damit beauftragt worden, den Sieg von Perseus über Medusa darzustellen – den Sieg des Patriarchats über das Matriarchat –, als Symbol des Triumphs der Familie Medici über die florentinische Bevölkerung. Andere Künstler folgten: 1598 malte Caravaggio den albtraumartigen Schild, den man heute in den Uffizien von Florenz bestaunen kann. Auch er buhlte mit seinem Werk um die Bewunderung der Medicis. Er stellte Medusa in dem Augenblick dar, in dem sie besiegt wird und ihre Macht an den überträgt, der sie trägt.
Es dauerte einige Jahrhunderte, bis Medusa wieder mehr wurde als ein Ungeheuer. Nach einem Besuch in den Uffizien war der romantische Dichter Percy Bysshe Shelley, Ehemann von Frankenstein-Autorin Mary Shelley, so inspiriert, dass er der Gorgone ein Gedicht widmete. Darin entfernte er den patriarchalen Rahmen, der Medusa zu einer Schreckensgestalt gemacht hatte. Ohne den ängstlichen und verurteilende männlichen Blick kommen Medusas Würde und Glanz wieder zum Vorschein. Sie wird wieder menschlicher.
Shelley war nicht der einzige, der Medusa für missverstanden hielt. In ihrem 1975 erschienen Manifest Das Lachen der Medusa legt die französische Feministin Hélène Cixous dar, dass der monströse Ruf der Medusa aus Angst vor dem weiblichen Verlangen entstand. Wenn die Männer es gewagt hätten, so argumentiert die Theoretikerin, Medusa direkt anzuschauen, hätten sie gesehen, dass sie nicht tödlich ist, sondern wunderschön – und dass sie lacht. Indem sie ihre Erfahrungen dokumentierten, schreibt Cixous, könnten Frauen die sexistischen Vorurteile dekonstruieren, die den weiblichen Körper als Bedrohung darstellten. Nach Jahrhunderten des Schweigens begann die Diskussion über Rape Culture, Medusa wieder eine Stimme zu geben.
Man sieht schnell, warum Cixous’ Manifest so großen Anklang fand. Die Geschichte einer wunderschönen Frau, die vergewaltigt, dämonisiert und schließlich erschlagen wird, klingt weniger nach einer uralten Sage als nach Gegenwart. In ihrem Essay “The Original ‘Nasty Woman’”, der 2016 in The Atlantic erschien, zeigt Akademikerin Elizabeth Johnston, dass die verstärkte Verwendung von Medusa im Politischen ein Hinweis dafür ist, wie stark verbreitet Misogynie weiterhin ist: Angela Merkel, Theresa May und Hillary Clinton wurden alle in den vergangenen Jahren als Medusa dargestellt, ihre Gesichter auf blutige, abgeschlagene Köpfe montiert. Eine Darstellung zeigt sogar Trump als Perseus mit dem Kopf von Hillary Clinton in der Hand.
Wenn es darum geht, Frauen zum Schweigen zu bringen, kann die westliche Kultur auf mehrere Tausend Jahre Übung zurückblicken. Die meiste Zeit sei Medusa dazu verwendet worden, weibliche Anführerinnen zu “dämonisieren”, schreibt Johnston. Sie materialisiere sich immer dann, wenn sich männliche Autoritäten von weiblichem Handeln bedroht fühlten.
Angesichts ihrer vielen, sich wandelnden Gesichter ist klar, dass der Medusa-Mythos keine allgemeingültige Erklärung liefert. Wunderschönes Opfer, weibliches Ungeheuer, mächtige Gottheit – Medusa ist das alles und noch mehr. Vielleicht ist es ihr wechselhaftes Wesen, das sie so faszinierend macht. In gewisser Weise ist sie unsere gemeinsame Projektionsfläche für Angst und Verlangen. Sie ist gleichzeitig ein Symbol weiblicher Wut und eine Figur, die von eben denjenigen patriarchalen Kräften dämonisiert wird, an denen sie sich rächen will.