Popkultur

Die App Musical.ly ist die neue Geheimwaffe der Musikindustrie

Dae Dae, ein Rapper aus Atlanta, hat mit Promotion auf musical.ly ein neues Publikum für seine Single “Wat U Mean” erreicht. Mehr als 100.000 Nutzer der App machten eigene Videos zu seinem Song. Porträt von Devinn Pierre

Aus der Music Issue 2016.

Videos by VICE

Dae Dae ist ein 23-jähriger Rapper mit Schneidezahnlücke und blaugefärbten Dreadlocks, die beim Tanzen fliegen. Er ist in Old Fourth Ward, einer armen Gegend von Atlanta, aufgewachsen und fing mit zehn an zu rappen. Als sein Vater wegen Drogenhandels ins Gefängnis musste, goss er Beton und verlegte Böden, um sich und die Familie zu ernähren. Beim Betongießen kam er auch auf den Text für seine Debütsingle “Wat U Mean (Family to Feed)” mit der Hook “Got a family to feed, they dependin’ on me.”

Weniger als ein Jahr später unterschrieb er einen Plattenvertrag bei dem gefragten Produzenten Nitti Beatz und fing an, den Track zu promoten. Als das Musikvideo zu “Wat U Mean” letzten April online ging, hatte es zwar etwas Erfolg, die Clips zweier bekannter Dance-Crews aus Atlanta, SheLovesMeechie und Team NueEra, bescherten dem Song allerdings jeweils fette 2,5 und 1 Million Klicks.

Im Sommer machte der Song im Radio die Runde. Am 27. August erreichte er Platz sieben der Billboard R&B/Hip-Hop Airplay Charts und im September hatte er bereits 25 Millionen Klicks auf YouTube. Laut Dae Dae war ein wichtiger Katalysator für den Erfolg des Tracks musical.ly, eine App zum Produzieren und Teilen von Musikvideos, die bisher wenige in der Rap-Szene von Atlanta kennen.

Musical.ly ist sowohl eine praktische App als auch ein soziales Netzwerk. Nutzer wählen aus einem Menü ihre Lieblingssongs aus und nehmen dann 15-Sekunden-Videos auf, in denen sie Playback singen, tanzen oder zu der Musik herumalbern. Innerhalb der App gibt es außerdem ein Livestream-Feature namens live.ly.

Wie bei Instagram erlaubt eine Reihe von Bearbeitungstools und Filtern, schnell und einfach Content zu erstellen und mit Followern zu teilen. Diese belohnen die Videos mit einer fantastischen Fülle an Klicks, Herzen und Kommentaren. Die musical.ly-Nutzer, die innerhalb von 24 Stunden die meisten Herzen erhalten, steigen an die Spitze einer ständig aktualisierten Liste der beliebtesten User, in der App “Muser” genannt. Für Künstler wie Dae Dae ist besonders interessant, dass es auch Charts gibt, in denen die beliebtesten Songs der App zu sehen sind.

Etwa 50 Millionen Menschen unter 21 nutzen musical.ly. Einige der beliebtesten viralen Stars ihrer Generation hatten ihren Durchbruch auf der App. Da ist Baby Ariel, eine 15-Jährige aus Florida, die Playback-Videos zu Songs von Justin Bieber und Drake aus dem Haus ihrer Großeltern postet. Momentan hat sie 13 Millionen Follower auf musical.ly, macht landesweite Tourneen mit anderen Internet-Promis und verdient Geld durch Sponsoring auf ihrem YouTube-Channel.

Dann ist da Jacob Sartorius, ein ehemaliger Kinderschauspieler aus Virginia, der seinen ca. 10 Millionen Followern auf der App seine erste Pop-Single “Sweatshirt” vorstellte. Das Lied handelt davon, wie der 14-jährige Mädchenschwarm seiner Angebeteten seinen Pulli anbietet, und hatte diesen September bereits 26 Millionen YouTube-Klicks.


Musical.ly hat weltweit mehr als 120 Millionen Nutzer, von denen geschätzte 50 Millionen unter 21 sind. Die Firma fokussiert auf internationale Expansion und bringt sogar “musical.ly light” für Länder mit schlechten Internetverbindungen heraus.

Musical.ly hat täglich mehr als 11 Millionen Video-Uploads von über 120 Millionen Usern in aller Welt. 64 Prozent der US-Nutzer gehören zu der gefragten Zielgruppe der 13- bis 24-Jährigen, und 75 Prozent von ihnen sind weiblich. Um dieses Publikum zu erreichen, postete Dae Dae im August einen 15-Sekunden-Ausschnitt von “Wat U Mean”. Zur weiteren Promotion rief er eine Challenge aus: Muser sollten in einem Video seinen typischen Tanz nachahmen, bei dem er die Arme zu abgehackten “Aye!”-Rufen schwingt. Inzwischen haben 153.719 Nutzer die Challenge angenommen, darunter unzählige neugewonnene Fans.

“Ich habe auf musical.ly definitiv viele Leute erreicht, die wahrscheinlich sonst nicht mal Rap-Musik hören”, schreibt mir Dae Dae per E-Mail. “Dieser ältere Typ zum Beispiel machte ein Video. Der hätte bestimmt auch Besseres zu tun, aber er hat sich die Zeit genommen, zu meinem Song abzurocken.”

Laut einem Sprecher von musical.ly hat die App die Klicks auf das YouTube-Video zu “Wat U Mean” extrem in die Höhe getrieben und die iTunes-Verkäufe innerhalb einer Woche verdoppelt. Dies lässt sich durch die Links auf Dae Daes Profil verfolgen. D.R.A.M., ein Rap-Newcomer aus Virginia, der schon Starthilfe vom Produzenten Rick Rubin erhalten hat, bemerkte eine ähnliche Wirkung bei “Broccoli”, seiner Kollaboration mit Lil Yachty. Als sein Team im Juli das Musikvideo dazu auf YouTube postete, entdeckte es, dass der Song bereits seit Monaten in den musical.ly-Charts war. Er hatte über 30.000 Nutzervideos generiert, völlig ohne Promotion.

Warum sollte man im Alleingang seine Musik vermarkten, wenn man die Fans dazu bewegen kann, es zu tun?


Heute haben mehr als 285.000 User Videos mit dem Hashtag #broccoli gepostet. Es ist zum Teil der App zu verdanken, dass der Song zum größten Überraschungserfolg des Sommers wurde.

Durch musical.ly bekamen Dae Dae und D.R.A.M. eine Art spontane Promotion aus zweiter Hand, wie sie normalerweise Künstlern mit einer etablierten, besessenen Fangemeinde vorbehalten bleibt. Wie etwa Drake mit seinem “Hotline Bling”-Video und der Welle an Memes, die den Song weiterverbreiteten.

Musical.ly bietet nicht nur jungen Leuten einen Ort, um Videos für ihre Freunde zu machen. Die App stellt auch eine aufrührerische Frage in den Raum, die für große Veränderungen in der Musikindustrie sorgen könnte: Warum sollte man im Alleingang seine Musik vermarkten, wenn man die Fans dazu bewegen kann, es zu tun?


Musical.lys eingebaute Bearbeitungstools machen es einfach, 15-Sekunden-Videos zu drehen und zu teilen. Den Soundtrack dazu liefern die liebsten Pop-Songs der User.

“Fans wollen nicht nur neue Musik empfangen; sie wollen mit der Musik interagieren und selbst etwas erschaffen”, sagt mir Alex Hofmann, Präsident von musical.ly North America, per Telefon aus dem Hauptquartier in San Francisco. Der Deutsche mit der ruhigen Stimme leitet das Unternehmen mit Alex Zhu, einem selbsterklärten “Design-Unternehmer” aus Shanghai. Die beiden lernten sich kennen, als Hofmann als Marketing-Chef bei SAP Labs, einer Silicon-Valley-Firma für Unternehmensinformatik, arbeitete.

Zhu sagt, die Idee für eine Kombination aus Musikvideo-App und sozialem Netzwerk sei ihm eines Tages im Zug gekommen, als er Teenager sah, die Selfies machten und Musik hörten. Einen Monat später, im Juli 2014, brachten er und der in Shanghai lebende Mitgründer Luyu Yang eine frühe Version von musical.ly in den iTunes-App-Store.

Im ersten Jahr gab es wenige Downloads. Doch als die Firma im April 2015 Follower, Favoriten, Videocharts und “Duette” einführte, tat sich etwas. Im Juli 2015 war die App von 1.450 täglichen Downloads auf eine halbe Million gestiegen und verdiente sich damit die heiß begehrte Spitzenposition bei iTunes. Laut einem Bericht von TechCrunch hatte musical.ly im März 2016 bereits 60 Millionen aktive Nutzer und 100 Millionen Dollar Risikokapital, bei einem Schätzwert von 500 Millionen Dollar. Heute beschäftigt die Firma etwa 100 Mitarbeiter in Kalifornien und Shanghai.

Die Musikpresse hat musical.ly zum Großteil ignoriert, vermutlich weil die sichtbarsten Vertreter, wie Baby Ariel und Jacob Sartorius, mehr wie Vlogger-Persönlichkeiten als wie richtige Musiker wirken. Doch viele große Namen aus Pop und Rap—sowie die Plattenfirmen hinter ihnen—passen schon seit Monaten gut auf, was auf der App passiert.

Wer sich auf musical.ly einloggt, findet eine Auswahl an Songs von Wiz Khalifa, Fetty Wap und Ty Dolla $ign. Alle haben Promo-Kampagnen ähnlich Dae Daes gemacht. Laut musical.ly erntete eine Kampagne, die Ariana Grande für “Into You” führte, 772.000 Fanvideos. Rihannas #Work-Challenge generierte 830.000 Videos, was laut Hofmann der Grund war, warum der Song auf Instagram zum Trend wurde. Diesen Sommer zeige sich auch eine direkte, wenn auch verzögerte, Rückwirkung der musical.ly-Charts auf die Billboard-Charts, so Hofmann.

Musical.ly nutzt Song-Ausschnitte, um Nutzer auf externe Seiten zu locken, wo sie den ganzen Song anhören oder kaufen können.


Aus Hofmanns Sicht kommt musical.lys transformatives Potenzial für die Musikindustrie von dem Fokus auf das, was man im Silicon Valley “verdaulicher Content” nennt. Ausschnitte aus Songs werden als Werbung für das Gesamtwerk eingesetzt. “Es stört nicht den Flow auf Spotify oder Apple Music”, erklärt Hofmann.

In anderen Worten, musical.ly nutzt Song-Ausschnitte, um Nutzer auf externe Seiten zu locken, wo sie den ganzen Song anhören oder kaufen können. “Der Industrie wird langsam klar, dass sekundärer Konsum zu Primärkonsum führt”, sagt Hofmann. “Mit musical.ly nehmen wir uns kein Stück vom Kuchen. Wir machen stattdessen den Kuchen sogar ein wenig größer.”

Lyor Cohen, Industrieveteran mit Erfahrung in der Leitung von Major-Labels wie Island Def Jam und Warner Brothers, ist einer von vielen, die sich über einen größeren Kuchen freuen dürften. 2012 war er Mitgründer von 300, einem Independent-Label, dessen Name für den viralen Erfolg von Rappern wie Fetty Wap, Young Thug und Migos steht. Die erklärte Mission von 300 ist es, das Musik-Business durch Social Media zu revolutionieren.

2014 kündigte 300 eine Partnerschaft mit Twitter an und bekam beispiellosen Zugang zu den musikbezogenen Daten des sozialen Netzwerks. Im Austausch dafür half 300 Twitter, Tools für A&R und Marketing zu entwickeln. Cohen hatte nur Positives über musical.ly zu sagen. Es war sogar sein Team, dass Dae Dae und Nitti Beatz Recordings ermutigte, die App auszuprobieren.

“300 liebt es, Innovationen voranzutreiben, vor allem bei Produkten, die mit Musik arbeiten”, sagt Cohen am Telefon. Er erzählt mir, Dae Daes musical.ly-Kampagne habe “Streaming und Verkäufe massiv ansteigen lassen” und 300 plane Kampagnen für andere Künstler des Labels, darunter Young Thug und die Post-Punk-Band Mainland aus Brooklyn. “Sie sind da an etwas Großem dran”, sagt Cohen über die App.


Die Musikpresse mag die Musik von Jacob Sartorius nicht ernst nehmen, doch der 14-Jährige hat etwa 10 Millionen Follower auf der App musical.ly und geht inzwischen für Fans auf Tour. Porträt von Jared Soares

Sebastian Begg, ein A&R-Manager bei Interscope Records, hat einen ähnlichen Erfolg bei BUNT festgestellt. Das deutsche Electronic-Folk-Duo postete seine Comeback-Single “Old Guitar” auf musical.ly. Am Ende der dreiwöchigen musical.ly-Kampagne war die Zahl der monatlichen Spotify-Hörer von 86.000 auf 902.000 gestiegen.

Begg war nicht allzu überrascht; der MIT-Absolvent traf sich regelmäßig mit Hofmann, seit musical.ly die Spitzenposition im App-Store erreicht hatte. Begg sagt, er habe Hofmann geraten, musical.ly nicht nur als Plattform für etablierte Stars zu entwickeln, sondern auch für die Entdeckung neuer Künstler. “Wenn du zu einem Durchbruch beitragen kannst, hast du eine karrierefördernde Plattform”, sagt er mir. “Anstatt nur auf Popkultur zu reagieren, kannst du Popkultur gestalten.”

Laut Business Insider bietet musical.ly seinen Künstlern inzwischen gewisse Gratisdienste an, wie Verbindungen zu Agenturen, Organisation von Treffen mit Fans und sogar die Überprüfung von Verträgen. Im Juni wurde bekannt, dass musical.ly einen Vertrag mit der Warner Music Group geschlossen hat. Zu dem Major-Label gehören Atlantic Records, Rhino, Warner Bros. Records und viele mehr. Ayal Kleinman, Marketing-Vizepräsident bei Warner Bros. Records, konnte zu dem Vertrag nur verraten, dass er der Firma und zugehörigen Labels erlaube, Musik auf musical.ly kostenlos zu lizenzieren und zu promoten.

Hofmann fügte per E-Mail hinzu, musical.ly habe “formale Beziehungen mit allen Major-Labels und Musikverlagen”, darunter Sony, Interscope Records (welches zur Universal Group gehört) und 300, das von Atlantic Records vertrieben wird. Im Hinblick auf Streaming-Seiten wie YouTube, iTunes und Spotify schreibt er: “Musical.ly ist in Gesprächen mit allen drei und wird wahrscheinlich mit einem von ihnen eine Partnerschaft eingehen.”

Doch Kleinman sieht die App weniger als Marketing-Allrounder, denn als ein Werkzeug, um eine sehr spezifische Zielgruppe zu erreichen. “Ich weiß, dass es bei dieser App ein sehr starkes Publikumssegment gibt, und das sind eindeutig jüngere Jugendliche”, sagt er. “Wir werden also ein Repertoire auf der App anbieten, das dieses Publikum anspricht. Reiferes Material werden wir dort nicht einbringen.”

Nicht nur bei der Zielgruppe hat die App ihre Grenzen. Der Fokus auf viralen Content aus Hooks eignet sich mehr für leicht verdauliche Pop-Kost als für stilistisch und strukturell anspruchsvollere Musik. Die Nutzer- und Song-Charts vermitteln außerdem den Eindruck, zahlenmäßige Beliebtheit sei das Wichtigste überhaupt. Man könnte auch sagen, musical.ly habe sich die Mundpropaganda angeeignet und ihres demokratischen Aspekts beraubt.

Das Potenzial der sozialen Netzwerke ist ja, dass sie es Künstlern erlauben, ihr Material völlig ohne Label zu vermarkten. Doch wenn eine App Promo-Deals mit Major-Labeln abschließt, kann das eine Scheinwelt der gleichen Chancen vorgaukeln, während auch hier hinter den Kulissen das Geld regiert. Aus einer noch zynischeren Sicht ist musical.ly ein Werkzeug für Major-Labels, um Teenager zu manipulieren und zur Vermarktung ihrer Produkte einzusetzen.

Doch Hofmann betont, er sehe musical.ly mehr als „Familie” denn als Dienst. „Unser Ziel ist eine Plattform, die Millionen Menschen verbindet und es ihnen ermöglicht, sich auszudrü­cken”, sagt er.

Aktuell konzentriert sich die Firma auf internationale Expansion. Von den Gebieten, die sie abdeckt, hat sie den größten Zuwachs bisher in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Mexiko, Indonesien und den Philippinen. Für Länder mit schlechteren Internetverbindungen hat sie sogar eine schnell ladende Version namens musical.ly light herausgebracht. Hofmann sagt, die App erlaube es Fans nun, Künstlern direkt über live.ly “Geschenke”—kleine Geldsummen—zu schicken.

Im September haben Hofmanns Mitarbeiter bei musical.ly North America ihre Sachen gepackt, um von San Francisco in ein neues Büro in Los Angeles zu ziehen. Das erleichtert die Kollaboration mit der Entertainment-Branche. Der Umzug passt zu dem rasanten Aufstieg vom Tech-Start-up zum Koloss der Musikbranche, wie auch schon bei Apple und Spotify. Doch welchen Einfluss musical.ly noch haben wird, ist heute genauso unklar wie an dem Tag, als Dae Dae aufwachte, die App öffnete, und Tausende zu seinem Song tanzen und Playback singen sah.