Mehr Gründe, warum Wien wirklich die beschissenste Stadt der Welt ist

Foto von Stefanie Katzinger

Vor einer Woche konntet ihr hier unsere Gründe, warum Wien die beschissenste Stadt der Welt ist lesen. Die Reaktionen darauf waren eine Mélange aus lokal gefärbten Schimpfwörtern und typischem Wiener Schmäh, kredenzt mit einem feinen „Küss die Hand”, und reichten von berührenden E-Mails (Betreff: „Versager”, Inhalt: „Du bist ein Versager”) über aufschlussreiche Kommentare aus dem sozialen Netz („Geh nach München und mach einen auf Haiti-Taiti-Gesellschaft, du HuSo!”) bis hin zu meiner ersten Telefonnummer, die ich jemals ohne Betteln von einer Frau zugesteckt bekommen habe.

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Viele haben die versteckte Liebeserklärung als ungefilterten Hass missverstanden, obwohl natürlich sowohl der Artikel als auch die Antworten darauf unglaublich typisch für Wien sind und das einzig mögliche authentische Bild dieser Stadt zeichnen—nämlich eins, das von österreichischem Grant, österreichischen Minderwertigkeitskomplexen, aber auch österreichischer Selbstverteidigung gegen Anschuldigungen geprägt ist. Seither hat die Stadt jedenfalls einige glühende Verteidiger mehr als noch eine Woche davor. Was die meisten aber außer Acht lassen, die unsere katholischen Öffnungszeiten und unfreundlichen Kellner jetzt als Ausdruck der Wiener Gemütlichkeit verteidigen, ist, dass ich noch gar nicht richtig angefangen habe, mich wirklich wie ein echter Wiener aufzuführen und so richtig in der eitrigen Wunde dieser Stadt zu bohren. Und weil ich kein Problem mit noch mehr „Heast, G’schissener!”-Ausrufen oder zugesteckten Telefonnummern habe, kommen hier noch ein paar Gründe, warum Wien das Allerletzte ist.

Das Fäkalproblem

Foto von Stefanie Katzinger

Wien ist nicht nur in dem Sinne traditionell, als dass wir wie alte, arbeitslose Rocker am Würstelstand der glorreichen Vergangenheit nachhängen oder immer noch Beethoven als den heißen Scheiß der Stadt feiern—Wien ist auch in dem Sinne traditionell, als dass wir immer noch den gleichen Umgang mit Kot im öffentlichen Raum pflegen, wie zu jener Zeit, als Beethoven noch Gegenwartskünstler war. Dabei ist die Größe der Haufen direkt proportional zur Nähe zur Innenstadt: Während man es in Beverly-Döbling (dem 19. Bezirk) noch mit klassischen Chihuahuas und anderen Hunden zu tun hat, die von der Größe her in die verkleinerten Mägen ihrer Besitzerinnen passen würden, sind es in den schrofferen Innenbezirken (2. bis 9.) schon ausgewachsene Bulldoggen oder Schäferhunde und im heißen Verdauungszentrum der Innenstadt (1. Bezirk) sogar Pferde, die dem Asphalt seinen Dünger spenden. In Wien ist der Preis, den du für Luxus zahlst, also in der Scheiße von Vierbeinern aufzuwiegen. Hier gehören Kot produzierende Haustiere so sehr zum guten Ton, dass selbst Hunde einen Hund als Haustier haben—ganz zu schweigen von Pensionisten, Kleinfamilien, Großfamilien, Hipstern, Nazis, der Frau Hofrat, Punks und Obdachlosen.

Der 13A

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Zwei Ziffern, ein Buchstabe, unendlich viele Alpträume: Keine andere Bus-, Bim- oder U-Bahn-Linie beflügelt den Unmut der Eingeborenen so sehr wie der 13A und schweißt gleichzeitig derart zusammen. Die Busse sind immer voll, fahren immer Schritttempo und sorgen trotzdem immer dafür, dass ein alter Dauergast aus dem Theater in der Josefstadt auf eine junge Mutter aus Wien Favoriten stürzt. Kurz, der 13A verbindet die Wiener im Hass und kann es sich auch erlauben, weil es bis zum Bau der U5 für viele keine andere Möglichkeit gibt, sich öffentlich zwischen Alser Straße und Hauptbahnhof zu bewegen. Dass der Bus dabei auch noch die verkehrsberuhigte Mariahilfer Straße kreuzt, war für manchen Wiener zu viel und hat zu einigen gewalttätigen Massenprotesten mit Molotov-Cocktails geführt. Und mit gewalttätig meinen wir friedlich. Und mit Masse meinen wir einen Mann. Und mit Molotov-Cocktails meinen wir Plakate. Alles in allem ziemlich wild jedenfalls.

Die Bäckereien

Foto von Stefanie Katzinger

Im Ausland hat Wien einen erstaunlich guten Ruf, was Essen und vor allem Nachspeisen betrifft—und sogar die Wiener selbst bilden sich einiges auf ihre böhmische Bäckerstradition oder das Bobo-Äquivalent in der Form von Joseph Brot ein. Aber eigentlich ist das unglaublicher Bullshit. Spätestens wenn dir deine Eltern kein Taschengeld mehr überweisen und du in einem 9-to-5-Job gefangen bist, wirst du dir jeden Tag pünktlich um 12:00 Uhr Mittag aufs Neue die Frage stellen, wie du heute deinen Hunger stillen sollst, ohne dabei an einem Klumpen Mayonnaise zu ersticken. Natürlich könntest du in ein Restaurant Essen gehen, aber dafür fehlen meistens sowohl Zeit als auch Geld. Also bleiben dir Tag für Tag nur Billa-Sandwiches, die ausnahmslos mit billigem Schinken, einem Blatt Grünzeug und einer abartigen Mischung aus Fett und Ei gemacht sind. Oder der Walk of Shame zu einer Filiale von Der Mann (oder noch schlimmer: dem Backwerk), die alle den Titel Bäckerei nicht verdient haben. Ich will jetzt nicht wie ein verdammter Bobo aus dem 7. Bezirk klingen und ja, es sind 1st World Problems, aber warum gibt es hier keine leistbaren Brote oder Snacks, die nicht dazu führen, dass du mit spätestens 45 an Arterienverfettung stirbst?

Die Sache mit der Lebensqualität

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Einmal im Jahr machen die österreichischen Medien kollektiv vor Aufregung Hosi-Lulu, weil Wien im Rahmen der Mercer-Studie—wieder mal—zur Stadt mit der höchsten Lebensqualität gewählt wurde. Das wäre natürlich der absolute Wahnsinn, wenn diese ritualisierte Eigenlobhudelei nicht selbst der größte Scheiß wäre. Versteht mich nicht falsch—ich würde niemals versuchen, eine strengwissenschaftliche Studie allein anhand meiner substanzlosen Meinung zu entkräften. Da trifft es sich gut, dass die vielzitierte Mercer-Studie auch nicht strengwissenschaftlich und meine Meinung dazu nicht viel substanzloser ist als das Studiendesign selbst. Vielleicht nicht ganz nebensächlich ist, dass es sich bei Mercer um ein weltweites Personal- und Consultingunternehmen (und nicht etwa ein Forschungsinstitut) handelt, das laut DerStandard.at für diese Befragung „ins Ausland entsandte Mitarbeiter von Institutionen und Konzernen auf der ganzen Welt” heranzieht. Wir haben in einer Gegenstudie 100 Junkies im Stadtpark befragt und sind brisanterweise zum gegenteiligen Ergebnis gekommen.

Die Überalterung

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Erinnert ihr euch noch an dieses eine Punker-Jacken-Foto mit der Aufschrift „Wien, du tote Stadt“? Leider ist das nicht in einer Reihe mit „Anarchie”, „Nazis Raus” und „Sex Pistols” als lustiger Punk-Spruch zu lesen, der zwar irgendwie wahr ist, aber andererseits auch wurscht. Stattdessen trifft „Wien, du tote Stadt” den Charakter der Donaumetropole so perfekt, als wäre Sigmund Freud nicht vor 75 Jahren an Kehlkopf-Krebs gestorben, sondern hätte das letzte Jahrhundert komplett zugekokst jeden einzelnen der vor sich hin verwesenden Bewohner dieser Stadt analysiert und die Quintessenz der Studie in drei Worte gefasst. Und mit tot ist nicht mal Kreativität gemeint, obwohl die letzte kulturelle Innovation, die weiter als bis 1230 (der Bezirk, nicht das Jahr) gekommen ist, Lounge-Musik war—„Musik”, die so langweilig ist, dass sie Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen verschrieben wird. Tot heißt, dass mittlerweile jeder zweite Wiener über 70, die Uni voller Pensionisten-Studenten, Peter Rapp bei uns ein jugendlich-spritziges Werbe-Testimonial und Bingo ein gefährlicher Extremsport ist.

Die Gutbürgerlichkeit

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Sprayer gehören in anderen Städten zum ganz normalen Stadtbild. Aber anderswo würde es niemandem auch nur im Traum eingefallen, einen Graffiti-Künstler zum „Staatsfeind Nummer 1″ zu erklären und seinetwegen eine eigene Taskforce einzurichten. Vielleicht liegt es daran, dass wir in Abwesenheit von Smog oder einer erwähnenswerten Kriminalitätsrate einfach auf echte Lercherl-Themen zurückgreifen müssen. Bestes zweites Beispiel: die Ausschreitungen rund um den Akademikerball. Während in anderen Städten jede Nacht Autos brennen und halb Europa von Ausschreitungen heimgesucht wird, gehen in Wien bei der Demo gegen den Akademikerball in der Hofburg gerade mal ein paar Auslagen kaputt. Das ist unangenehm, weil einer sonst recht friedlichen Demo so der Chaoten-Stempel aufgedrückt wird, aber so lange niemand verletzt wird, ist es in Wahrheit auch ein bisschen egal. In Wien reicht so ein Vorkommnis trotzdem für Dauerschlagzeilen und sorgt dafür, dass Josef auch 3 Monate später noch immer im Hefen in U-Haft sitzt. Nicht ganz zu unrecht wurde auch diesem Artikel vorgeworfen, dass in Wien krampfhaft nach Problemen gesucht wird, wo eigentlich gar keine sind.

Die Bürokratie

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Nur die wenigsten Menschen wissen, dass Kafkas Roman Das Schloss—in dem ein Landvermesser namens K. um die Anerkennung seiner Existenz kämpft und nie beim Schloss ankommt—eigentlich eine Parabel auf den typischen Besuch am Wiener Magistrat ist. Diejenigen von euch, die Das Schloss grade noch mal gegooglet haben, werden jetzt vielleicht sagen, dass das nicht stimmt. Das liegt daran, dass ihr im INTERNET nachgeschaut habt. Was ihr stattdessen machen solltet, ist in Wien auf die Straße zu gehen, wildfremden Leuten die Handlung nachzuerzählen und sie anschließend zu fragen, woran sie die Geschichte am ehesten erinnert. Auf diese Art werdet ihr schnell feststellen, dass in Wahrheit die halbe Weltliteratur von Wiens Behörden handelt; von Moby Dick (weißer Wal) über 1984 (großer Bruder) und Leviathan (Monster Staat) bis Harry Potter (Voldemort). Sicher, Beamten-Bashing ist fast schon zu einfach—und immer auch ein bisschen dumm, weil Universitätsprofessoren hier genauso dazuzählen wie der Typ mit den festen Knochen am Arbeitsamt, der für einmal Abstempeln 20 Minuten braucht—, aber als Wiener hat wirklich jeder bereits ein Mal seine ganz persönliche Nemesis am anderen Ende des Schalters getroffen. Das liegt daran, dass unser Beamtenapparat ein Relikt aus der Habsburgerzeit ist, als die Verwaltung für rund zehnmal so viele Bürger zuständig war wie heute.

Ich selbst hatte meine schönsten Erfahrungen mit den Behörden, als ich wegen einer Rauchfangkehrung mal 240 Euro Gehaltspfändung und einen Besuch vom Gerichtsvollzieher hatte, obwohl ich in der alten Wohnung längst nicht mehr wohnte—und als ich das beim Magistrat einer bärbeißigen Beamtin erklärte, fragte die mich zuerst, wo ich vor zwei Jahren am 6. November gewesen wäre, bevor sie mir auf mein Lachen hin die Frage an den Kopf warf: „Wie haben Sie bitte Ihr Studium geschafft, wenn Sie nicht mal meine einfachen Fragen beantworten können?” Aktuell arbeitet Österreich übrigens an einer Verwaltungsreform. Für Franz Kafka und mich kommt jede Hilfe zu spät.

Das Vitamin B

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In Österreich funktioniert die Job-Vergabe großteils immer noch so wie die Auswahl der Mitspieler früher beim Völkerball: Es geht nicht um Qualifikation, sondern um Bekanntschaften und Freunderlwirtschaft. Dabei hat die Stadt in den letzten Jahren durchaus Fortschritte gemacht: Früher wurden Stellen nämlich ausschließlich nach dem Parteibuch besetzt—mittlerweile können dir auch Freundschaften, Bekanntschaften aus dem Kindergarten oder einfach nur die Familie, in die du hineingeboren wurdest, dabei helfen, die Karriere-Leiter nach oben zu klettern. Das ruiniert zum einen die Wirtschaft, wie man am Beispiel Griechenland sieht, und treibt zum anderen ambitionierte junge Menschen in die Drogensucht, die verbittert feststellen müssen, dass viele Posten schon über die kommenden Generationen hinweg von einer elitären Clique okkupiert sind, die sich alles unter sich ausmacht. Sicher, Networking ist die eine Sache, aber was wir in Wien haben, ist astreiner Beziehungs-Adel. Du hältst das für Verschwörungsbullshit? Dann wirf einmal einen Blick in Richtung ORF und die Vergabe von Naschmarktständen oder schau dir die heimische Zeitungslandschaft an.

Die fehlende Selbstreflexion

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Ein abschließender Grund für die Beschissenheit von Wien ist, dass es trotz aller Grant- und Raunz- und Läster-Kultur anscheinend keinen Platz für Selbstreflexion gibt. Während du zum Beispiel in New York eine ganze Filmkarriere darauf aufbauen kannst, die Stadt ununterbrochen zu beleidigen, hat der gemeine Wiener nicht mal genügend Selbstbewusstsein, um einen gelegentlichen Seitenhieb auf sein kleines Reich wegzustecken—geschweige denn sich selbst laut einzugestehen, was ihm an der wunderschönen Walzerstadt womöglich nicht passt. Und bevor sich einige zu Kommentaren berufen fühlen wie „Ich geb dir gleich Selbstreflexion, du HuSo” oder „In Bagdad ist es viel schlimmer, du Mongo”, lasst euch gesagt sein, dass ich der erste bin, der im Kopf gegen die eigenen Artikel shitstormt (sonst wäre ich auch ein schlechter angelernter Wiener). Genau dasselbe muss manchmal auch auf einer etwas höheren Ebene sein. In meinem Fall haben die zwei Artikel und 17 Gründe geholfen, um mir darüber klar zu werden, dass ich in gar keiner schöneren Stadt leben wollen würde. Erst heute habe ich in der Straßenbahn eine Frau wie einen Tie Fighter aus Star Wars niesen gehört und vom anderen Ende kam zuerst ein „Gsuuundheit!”, bevor irgendjemand anders ein „Heast, danke sogt ma do!” nachlegte. Wo außer hier.

Markus auf Twitter: @wurstzombie