Mein Kampf: Wie die deutsche Sprache die Träume jedes Ausländers zerstört

Mit 14 Jahren verließ Shahak Shapira gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngerem Bruder Israel und landete in einer gottverlassenen NPD-Hochburg in Sachsen-Anhalt. 2015 wurde Shahak für 2,5 Minuten bekannt, nachdem er in der Berliner U-Bahn antisemitische Gesänge filmte und dafür von einer Horde junger Männer angegriffen wurde. Ein Mediengewitter war die Folge, PEGIDA solidarisierte sich, aus Israel kam die Empfehlung, in die Heimat zurückzukehren. Dann bot ihm ein skrupelloser Verlag an, für lächerlich viel Geld ein Buch zu schreiben. Er stimmte aus purer … ähm … “Leidenschaft” … zu. Nun schreibt er über seine Jugend als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt und über seine Familie. Seine Botschaft: Jeder entscheidet selbst, ob er ein rassistisches Arschloch ist oder nicht.


Dies ist ein Auszug aus dem Kapitel “Mein Kampf (mit der deutschen Sprache)” aus Shahaks Buch DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SCHREIBEN DÜRFEN!

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“Es gibt gewiß keine andre Sprache auf der Welt, die so systemlos ist, so schlüpfrig und aalglatt, um sie zu fassen. Man treibt darin umher wie in einem brandenden Meer, bald hierhin, bald dorthin, in der elendsten Hilflosigkeit, und wenn man einmal glaubt, eine Regel gefunden zu haben, welche festen Grund bietet, um einen Augenblick in dem allgemeinen Wirrwarr und Tumult der zehn Redeteile auszuruhen, so vernimmt man in der Grammatik: ‹Der Schüler gebe acht auf folgende Ausnahmen.› Ein Blick auf diese zeigt ihm, daß deren mehr sind, als Beispiele für die Regel selbst. So wird er hoffnungslos wieder über Bord geschleudert, um nach einem neuen Berg Ararat zu jagen und statt dessen eine neue Sandbank zu finden.” – Mark Twain

Im Sommer 2002 hatte ich das heiß begehrte Privileg, die Schulbank noch vor dem Beginn des neuen Unterrichtsjahrs zu drücken: Ich war frisch in Deutschland angekommen und musste irgendwie dringend Deutsch lernen. Eine Herausforderung, die nicht leichter wurde dadurch, dass man das, was die Menschen in meinem neuen Zuhause in Sachsen-Anhalt sprechen, nicht wirklich als “Deutsch” bezeichnen kann. Meine Welt wurde von Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Konjunktiv I, Konjunktiv II, Futur I und Futur II fast vollständig vereinnahmt. “Ich mag dich“, aber “ich gebe dir“. Im Internet gibt es ein Videotutorial, das sich 44 Minuten lang ausschließlich mit der Frage befasst, ob die Präposition “wegen” den Genitiv oder den Dativ regiert.

Am schlimmsten sind die Artikel. Haben Sie sich schon mal Gedanken über das Geschlecht des Stuhls gemacht, auf dem Sie sitzen? Ob der Sandwich, die Sie gerade verdrückt haben, wohl weiblich oder männlich ist? Oder vielleicht doch sächlich?

Stellen Sie sich kurz vor, Sie sprechen kein Deutsch und sind ein halbwegs klar denkender Mensch: Frauen, Katzen und Hühner sind feminin, Männer, Kater und Hähne sind maskulin, alles andere ist Neutrum. Also wie im Englischen. Richtig? Falsch. So was von falsch. Die deutsche Sprache ordnet Objekten ein Geschlecht absolut willkürlich zu. Heißt also für den Neudeutschen: das Geschlecht von jedem Ding im ganzen Universum auswendig lernen. Warum? Because fuck you. That’s why.

Mein Deutschlehrer, Herr Glatzel, hatte die undankbare Aufgabe, mir klarzumachen, dass eine Tür weiblich ist, der Tisch aber männlich. Auch der Ball ist männlich, das Spiel allerdings neutral. Das Mädchen!!! Eine Gurke ist weiblich, das Mädchen nicht. Wie könnte man auch auf so eine absurde Idee kommen? Etwa, weil der Junge maskulin ist?

Quatsch! Nur weil etwas absolut sinnvoll und nach allen Regeln des gesunden Menschenverstandes die einzig logische Option wäre, heißt es nicht, dass es so ist! Wie kann eine herkömmliche Spreewaldgurke weiblicher sein als jedes hübsche Mädel? Mein Appell an die Vernunft stieß bei Herrn Glatzel auf taube Ohren. Nicht, weil er schon so alt war, sondern weil er mit der Zeit das Ignorieren meiner wütenden Verzweiflung zur Perfektion gebracht hatte. Glatzel war groß und dürr, hatte allerdings keine Glatze, sondern strahlend weiße Locken. Er brachte uns Deutsch auf Englisch bei, denn es gab natürlich keinen einzigen Hebräisch sprechenden Deutschlehrer weit und breit. Es gab in Laucha, unserem gottverlassenen Dorf mitten in der Pampa, nicht einmal allzu viele Menschen, die Englisch sprachen, was einerseits eine unheimlich kraftvolle Motivation war, die Sprache des Landes so schnell wie möglich zu lernen, andererseits aber oft in kompletter Verzweiflung und Ungeduld mündete.

Wir saßen jeden Tag zwei Stunden lang in einem leeren Klassenraum—er, mein kleiner Bruder und ich—und diskutierten über die Männlichkeit. Die Männlichkeit. Merkste selber, ne? Wenn selbst die Männlichkeit weiblich wird, dann ist nichts mehr heilig. Stunden und Stunden verbrachte Herr Glatzel weiterhin damit, uns von dem Unterschied zwischen Ö und Ü zu überzeugen.

“Uuuuuuuuu?”

“Nein, üüüüüüüüü!”

“Uuuuuh?”

“Üüüü!”

“Öööööööööö???”

“Fast. Das wäre dann die nächste Übung: Ö!”

“Hä?”

“Na, es gibt Ü und Ö.”

“Klingt doch beides gleich.”

“Ganz und gar nicht. So klingt Üüüüüü, und so klingt Öööööö.”

Ich schaute meinen Bruder fragend an.

“Sie verarschen uns gerade, oder?”

“Sprich mir nach: üben.”

“Uben.”

“Üüüben!”

“Üuuben!”

“Gut! Und jetzt: schön.”

“Schün!”

“Schön!”

“Schööön!”

“Ganz genau! Üben und schön. Also üüüü …”

“Üüüü …”

“Und Ööööö …”

“Üüüüüüüü …?”

“Hmm … sprechen wir jetzt erst mal wieder über Artikel.”

Für mich sind und bleiben die Umlaute der deutschen Sprache das Vermächtnis des Bösen. Eine letzte Bastion gegen integrationswillige Fremdvölkische und eine alltägliche Bestrafung aller Zungen unterhalb der arischen Rasse, die es wagen, die edle germanische Sprache mit ihren schiefen Zähnen für die Umsetzung ihrer hinterlistigen Machenschaften zu verunstalten.

Das nächste Mal den Tränen nah war ich, als mir Glatzel die deutsche Deklination vorstellte und ich feststellen musste, dass es Jahre brauchen würde, um alle Genera und Kasus auswendig zu lernen. Es bereitete mir allerdings milde Genugtuung, als ich feststellte, dass nicht mal die Deutschen richtig Deutsch können. Ich habe das Geschlecht von fast jedem Wort der deutschen Sprache gelernt, während eine beachtliche Menge von Muttersprachlern nicht mal “seit” und “seid” auseinanderhalten kann.

Spricht natürlich weniger für mich und mehr gegen die. Zum Glück lernte ich recht schnell, meine Defizite mit Füllwörtern zu vertuschen. Praktischerweise bietet ja immerhin die deutsche Sprache bekanntlich wohlgemerkt ungewöhnlich viele von diesen, nun ja, eigentlich allesamt schlussendlich überflüssigen, jedoch seltsamerweise weitgehend auffallend reichlich eingesetzten Wörtern, die einen durchaus in der Tat recht nicht aussagenden Satz mit etwas denkbar allenfalls gefühlter Poesie mästen. Man kann gut dummschwätzen, möchte ich damit sagen.

Eine weitere unvergessliche Niederlage in meinem Kampf gegen die deutsche Sprache musste ich in einem verlorenen thüringischen Nest hinnehmen. Nach drei Wochen in Deutschland konnte sich Olaf, der Freund meiner Mutter, unsere gelangweilten Gesichter nicht mehr ansehen und kündigte einen Ausflug an. Zur Modellbahn in Wiehe! Es handelt sich dabei nicht um irgendeine Bahn, sondern um die “weltgrößte Modellbahn-Ganzjahresschau”. In Wiehe, da kann man noch was erleben! Donnerwetter!

Auf 12.000 Quadratmetern verteilte sich das miniaturhafte Spektakel mit Nachbauten des Orientexpress und anderer legendärer Züge. Zehn Euro kostete der Eintritt für Erwachsene, Hartz-IV-Empfänger und Schwerbehinderte zahlten nur acht. Rollstuhlfahrern standen sogar zwei Rollstühle völlig kostenfrei zur Verfügung! Ohne die edlen Motive des Traditionsunternehmens in Zweifel ziehen zu wollen, fragte ich mich, unter welchen Voraussetzungen das großzügige Angebot in Anspruch genommen werden konnte.

Müssen Gehbehinderte den eigenen Rollstuhl zu Hause lassen und den Weg bis zur Anlage kriechend zurücklegen? Oder richtet sich das Angebot an Menschen, die direkt vor Ort, etwa durch einen Verkehrsunfall, eine Gehbehinderung erfahren und unmittelbar danach oder gar währenddessen Lust auf einen spontanen Besuch in der weltgrößten Modellbahn-Ganzjahresschau haben, um sich in der dem Mobilitätsgedanken verpflichteten Miniaturwelt mit ihrer neuen Lebenssituation anzufreunden?

Im sogenannten Gastronomiebereich bot die integrierte Speisegaststätte “Zur Modellbahn” den vom Betrachten der ewig im Kreis fahrenden Modellbahnen hungrig gewordenen Gästen kulinarische Spezialitäten wie Riesen-Currywurst oder Schnitzel “Zigeuner Art” an. Was die armen Zigeuner getan haben, um mit dieser schrecklichen Kreation aus Ketchup und Paprika assoziiert zu werden, bleibt ein Fall für Galileo Mystery. Für die kleinen Darmkrebs-Patienten von Morgen gab es “Chicken-Nuggets” und “Bolognese mit Nudeln”. Keine Nudeln mit Bolognese, sondern Bolognese mit Nudeln. Wir entschieden uns also gegen den aus genau diesem einen Restaurant bestehenden Gastronomiebereich und suchten ein fröhlich dekoriertes Lokal gegenüber der riesigen Halle auf. Ungeduldig schnappten wir uns die natürlich nur in Deutsch gehaltene Karte und versuchten, daraus schlau zu werden. Mein Bruder bestellte sich einen Burger, ich entschied mich für die Spaghetti Bolognese. Also, die Bolognese mit Spaghetti.

Schon nach wenigen Minuten war alles servierfertig. “Wow, so schnell!”, rief ich voller Freude, bis die Kellnerin die Teller brachte und mir mein blödes Lächeln aus dem Gesicht wischte. “Sö, eeenmol Spageddi und eenmal den Börgor. Jüten Abbedit!” Fassungslos nahm ich den Teller vor mir in Augenschein: ein Haufen Vanilleeiswürmer, mit roter Erdbeersoße übergossen und weißen Schokoladenraspeln garniert. Das war nicht, was ich gewollt hatte. Immerhin sah es ein bisschen aus wie das, was ich gewollt hatte. Der “Burger” meines Bruders dagegen bestand aus einer blauen Eiskugel auf einem Sahnebett, getoppt von einer runden Waffel. Olaf gab zwar vor, selbst nicht gemerkt zu haben, dass wir in einem Eiscafé saßen, ich glaube allerdings, dass er sich den Spaß nicht entgehen lassen wollte. Ich hätte es genauso gemacht.

“Hihi. Aber du klingst wie ein richtiger Deutscher! Hihihi.”

“Zumindest beim Saufen ist es konsistent.”

“Hihi, was meinst du?”

“Na ja, es gibt das Bier, aber alles andere ist maskulin. Der Gin, der Wein, der Wodka …”

“Stimmt! Du hast ja Recht! Hihi! Moment …” Das junge blonde Blind Date kräuselt die an sich faltenfreie Stirn.

“Glaub mir, da gibt’s nichts!”

“Halt! Die Weinschorle! Hihi!”

“Unsinn. Wir reden hier von Alkohol und nicht von Kinderbrausen. Eine Weinschorle ist in erster Linie eine Schorle und keine Spirituose. Ein Ameisenbär ist ja auch ein Bär und keine Ameise.”

“Na guuuut. Hihi. Muss schwer gewesen sein, mit der Sprache, hihi.”

“Das war schon nicht ganz einfach.”

“Das kann ich mir vorstellen. Hihi. Aber du klingst wie ein richtiger Deutscher! Hihihi.”

“Danke.”

“Im Ernst! Hihi. Ich hätte gedacht, du wärst aus Hannover! Hihi!”

“Aus Hannover? Warum ausgerechnet aus Hannover?”

“Wieso, was hast du gegen Hannover?”

“Nix habe ich gegen Hannover. Niemand hat was gegen Hannover. Niemand hat aber auch was für Hannover. Über New York haben Frank Sinatra, Bob Dylan, die Rolling Stones gesungen! Die Lobeshymne für Hannover kam halt von Barbara Schöneberger …”

“Also, ich finde Hannover schön.”

“Gewiss befinden sich einige unter uns, die Hannover als schön bezeichnen würden. Schönheit, allerdings, hat auch Stufen. Steht man etwa mitten auf dem Acker und zieht eine Steckrübe aus der Erde, die makellos rund und prächtig lila strahlt, so könnte man diese durchaus als eine schöne Steckrübe bezeichnen. Ebenfalls könnte man bei Beethovens Neunter das Bedürfnis verspüren, eines der bedeutendsten Meisterwerke der klassischen Musikgeschichte als schön zu bezeichnen …”

“OK …”

“Nun teilt sich zwar Beethovens neunte Sinfonie das gleiche Adjektiv zur Beschreibung ihrer Qualität mit einer besonders wohlgestalteten Steckrübe, jedoch würde man aller Wahrscheinlichkeit nach die kollektive Zustimmung jeder Kontrollgruppe mit Leichtigkeit erringen können, sollte man die These aufstellen, die neunte Sinfonie Beethovens würde mit unerschütterlicher Eindeutigkeit die Schönheit jeder Steckrübe um ein Vielfaches übersteigen. Außer natürlich, man würde sich in der Jahresversammlung der gehörlosen deutschen Rapsbauern befinden, die mit dem Komponisten höchstens aufgrund seines Gehörverlusts sympathisieren könnten.”

“Mh, hihi.”

“Was ich damit sagen möchte: Hannover ist schön. Aber eher wie eine Steckrübe als wie Beethovens neunte Sinfonie. Hannover ist nicht Beethoven.”

“Also ist Hannover eine Steckrübe?”

“Nein! Also, na ja. Ja. Egal! Wo kommst du eigentlich her?”

“Hannover.”

“Oh.”

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