Afghanen, die den Deutschen in Afghanistan als billige Hilfskräfte zur Verfügung stehen, wie Vermittler, Dolmetscher, Fahrer und Wachleute, gelten in ihrer Heimat als Vaterlandsverräter, die mit dem Feind kollaboriert haben. In Deutschland will sie aber auch keiner haben.
Einer, der es dennoch geschafft hat, Visum und Asyl in Deutschland zu bekommen, ist Rahim. Allerdings lief seine Geschichte ein wenig anders ab. Er kam schon vor dem jetzigen Krieg, der 2011 begann, nach Deutschland, da er medizinisch versorgt werden musste: Als Kind ist er während dem sowjetisch-afghanischen Krieg auf eine Mine getreten, die ihm den Unterschenkel zerfetzte. Heute ist Rahim 26 Jahre alt. Er ist ein lebensfroher junger Mann, der viel lacht. Wir sitzen in seinem Wohnzimmer in Hennigsdorf bei Berlin und auf dem Tisch liegen Knabbersachen, Kaffee und Tee. Durch das regelmäßige Training mit seinem Handbike ist Rahim ziemlich muskulös.
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Er lebte früher in einem kleinen Dorf in der südlichen Provinz Zabul an der Grenze zu Pakistan, ein Gebiet, in dem die Taliban sehr einflussreich sind. Nach seinem Unfall kam er zur Behandlung in die Großstadt Kabul. 2002 wurde ihm im Alter von fünfzehn Jahren durch den Verein für Afghanistan-Förderung eine medizinische Behandlung in Deutschland ermöglicht.
Während der Zeit, als Rahim in Deutschland in Behandlung und in der Reha war, lernte er Deutsch. Dann wurde die Bundeswehr auf ihn aufmerksam, da sie dringend afghanische Mitarbeiter suchte.
„Das war der schrecklichste Tag meines Lebens. Ich wollte nicht zurück, wo gerade Krieg war.“
In Afghanistan werden Hilfskräfte massiv bedroht und auch ermordet. Viele von ihnen fürchten um ihr Leben. Ihre dringende Bitte, nach Deutschland ausreisen zu dürfen, wurde bis heute größtenteils von den zuständigen Behörden ignoriert oder abgelehnt. Die Zukunftsaussichten dieser Leute sehen nach Ende des deutschen Afghanistan-Mandats und nach dem Truppenabzug Ende Februar 2014 alles andere als rosig aus.
Bernd Mesovic, der bei der Flüchtlingsorganisation PRO ASYL arbeitet, erklärt mir, dass man sich sowieso erstmal auf deutschem Boden befinden muss—also durch ein Visum oder illegal einwandern. Zudem bemängelt Mesovic die fast unüberwindbaren bürokratischen Hürden und fordert daher, ein humanitäres Aufnahmeprogramm für die Betroffenen. Die Gefahr, der die Hilfskräfte ausgesetzt sind oder nach Abzug der deutschen Truppen bald ausgesetzt sein werden, ist so akut, dass jedem Asylantrag in Deutschland stattgegeben werden müsste, erklärt er mir.
Als Rahim nach seiner Behandlung in Deutschland wieder in Afghanistan ankam, musste er sich selber seine Wohnungen suchen. „Ich musste die Wohnung und den Ort ständig wechseln. Ich durfte niemandem sagen, dass ich für die Bundeswehr arbeite“, erzählt er mir. „Sobald jemand mitbekommen hat, für wen ich arbeitete, war ich in Lebensgefahr. In den Augen meiner meisten Landsleute arbeitete ich für den Feind. Es spielt dabei keine Rolle, für welche Ausländer wir arbeiten, Engländer, Franzosen, Amerikaner oder Deutsche—Feind bleibt Feind.“
Manchmal fuhr Rahim mit den Soldaten auf Patrouillen auf den Panzern mit in die Dörfer, um Kontakte herzustellen, zu vermitteln und um zu übersetzen. Oftmals erlebte er dabei wüste Beschimpfungen und Morddrohungen. „Solange ich jedoch mit den Deutschen unterwegs war“, erklärt er mir, „war ich sicher, weil die während meiner Arbeitszeit verantwortlich für meine Sicherheit waren. Doch sobald mein Arbeitstag endete und ich alleine auf der Straße war, hatte ich keinen Schutz mehr und es kann sein, dass mich jede Sekunde jemand abknallt. Die deutschen Soldaten wussten, in was für einer Gefahr ich stecke. Aber die konnten auch nicht mehr machen, als zu sagen: ,OK, unsere Verantwortung für dich beginnt um 8.00 in der Früh und endet um 16.00 am Nachmittag.’“
Jüngst sagte Bundesinnenminister Friedrich in einem Interview, dass es „ganz klar ist, wenn jemand in Gefahr ist in Afghanistan, weil er für Deutschland gearbeitet hat oder überhaupt, weil er bedroht ist, dann kann er natürlich aus humanitären Gründen zu uns nach Deutschland kommen.“ Dass die Definition von Bedrohung wohl im Auge des Betrachters liegt, kann mir auch Bernd mitteilen: „Wir kennen einen Fall, der aus unserer Sicht unstrittig war. Auch aus Bundeswehrkreisen wurde bestätigt, dass der Betroffene gefährdet ist, trotzdem wurde dieser Antrag abgelehnt.“
Rahim erzählt mir von einem Tag, an dem er von seinem Arbeitsplatz in Mazar-i-Scharif in sein Heimatdorf fuhr, um seine Familie zu besuchen. „Innerhalb von zwei Stunden nach meiner Ankunft haben alle Leute in der Gegend von meiner Anwesenheit gewusst und natürlich wussten auch alle, dass ich für einige Jahre in Deutschland war. Dann kam ein Mann auf mich zu und riet mir, auf der Stelle die Gegend zu verlassen, andernfalls wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass mir bis zum Nachmittag etwas Schlimmes passiert.“
Rahim war schon so weit, sich zu seinem Schutz eine Waffe zu kaufen, doch es kam anders: Ein Arzt, für den Rahim im Bundeswehrlazarett dolmetschte, lud Rahim privat nach Deutschland ein, um ihm eine neue Prothese zu ermöglichen. In Deutschland riet ihm der Arzt, schnellstmöglich einen Asylantrag als politisch Verfolgter zu beantragen. Der wurde dann auch genehmigt.
So viel Glück haben aber nicht alle. Ich lerne aber auch Mohammad kennen, der in Afghanistan wohnt, und dessen Antrag abgelehnt wurde. Ich rufe ihn in Mazar-i-Scharif an. Er redet sehr schnell und energisch, sodass ich mich bemühen muss, ihn durch die schlechte Verbindung zu verstehen. Genau wie Rahim kam er aus medizinischen Gründen nach Deutschland und lernte hier die Sprache, bevor er zurückging und seit nun elf Jahren für die Bundeswehr arbeitet.
Ein altes Dokument aus Mohammads Bundeswehrzeiten
Er erlebte mit, wie sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte, und er wurde bereits vier Mal mit einer Waffe bedroht. So habe vor Kurzem jemand nachts Beschimpfungen und Drohungen an seine Haustür geschmiert. „Ich habe das am nächsten Morgen gemeldet, aber es hat niemanden interessiert“, erzählt er mir. Mohammad ist verheiratet, hat vier Töchter und einen Sohn. „Es ist schlimm“, sagt er, „denn auch meine ganze Familie wird bedroht, meine Frau und meine Kinder, manchmal auf offener Straße, manchmal durch Anrufe. Ich habe solche Angst, dass meiner Familie etwas passiert.“
Einige Tage nach dem Telefonat mit Mohammad bekomme ich eine E-Mail von ihm. Er hatte versucht, im Rahmen einer medizinischen Behandlung nach Deutschland zu kommen, doch das Visum wurde abgelehnt. „Ich plane, mich vor dem deutschen Camp mit Benzin zu übergießen und mich zu verbrennen. Lieber töte ich mich selbst, als dass die Taliban mich in Stücke schneiden“, schreibt er. Ich bin schockiert, weiß nicht, inwiefern ich ihm glauben kann und fühle mich machtlos. Das einzige, was ich für Mohammad tun kann, ist, den Kontakt zu PRO ASYL herzustellen. Ich leite ihm ein Informationsblatt weiter, mit Kontaktadressen, die ihm vielleicht helfen können.
Die Bundesregierung versucht nun, das Problem zu lösen, indem sie die bedrohten Ortskräfte innerhalb Afghanistans umplatziert. „Der Versuch, den Betroffenen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten anzubieten, in Regionen, die angeblich weniger gefährlich sind, ist sehr schwierig“, erklärt mir Bernd, „da man ja davon ausgehen kann, dass die Taliban Zug um Zug Territorien unter Kontrolle bekommen, aus denen die Militärs abgezogen sind. Deswegen ist diese Idee praktisch für niemanden eine Lösung.“
Es kann einem so vorkommen, als bemühe sich die Bundesregierung nicht ernsthaft, und die Karzai-Regierung versucht ebenfalls, die Asylanträge aus ihrem Land zu stoppen. „Solange man im Rahmen von Einsätzen Ortskräfte beschäftigt, kann die Fürsorgepflicht jedes Arbeitgebers gebieten, dass er auch dafür sorgt, sie mitzunehmen, wenn er sie vor Ort nicht mehr schützen kann“, beschwert sich Bernd.
„Die anderen Länder holen ja ihre Leute auch raus. Ich verstehe nicht, wieso Deutschland sich so dagegen wehrt“, sagt Rahim. „Erst seitdem ich in Deutschland bin, habe ich herausgefunden, was Leben eigentlich ist“, sagt er und lacht dabei.
Eigentlich wollte er ein Mädchen aus seinem Heimatdorf heiraten. Rahim erzählt mir aber, dass es zu gefährlich wäre, das Mädchen nach Deutschland zu holen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Familie daraufhin von Taliban getötet wird, ist sehr groß. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Heute engagiert sich Rahim in einem Nachbarschaftsverein und trainiert jeden Tag mit seinem Handbike, um 2016 mit seinem Rennrollstuhl bei den Paralympics in Brasilien unter deutscher Flagge anzutreten.