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Mein Leben mit meiner demenzkranken Oma

"Inzwischen ist es normal geworden, dass mir Oma am Telefon mindestens drei Mal dieselbe Geschichte erzählt und nicht mehr weiß, welcher Wochentag ist."
Foto via Shutterstock

Ich bin die Älteste von sechs Enkeln und das Verhältnis zu meinen Großeltern war stets sehr eng. Ich genoss die Geborgenheit der Ehe meiner Großeltern, die mir als Kind perfekt vorkam. Wenn mich Oma vom Kindergarten abholte, gab sie den Gassen andere Namen. Zum Beispiel nannte sie die Bonygasse immer Bohnengasse, was ich als Kind super lustig fand.

Am liebsten sangen, dichteten und zeichneten Oma und ich gemeinsam, gingen spazieren oder zum Heurigen. In den Sommerferien verbrachte ich häufig mehrere Wochen im Heimatort meiner Großmutter. Zu Weihnachten haben wir zusammen Kekse gebacken und wenn ich bei Oma und Opa übernachtete, durfte ich statt Opa im Ehebett schlafen. In meiner Schul- und Studienzeit war das wöchentliche Mittagessen bei den Großeltern ein Fixpunkt in meinem Terminkalender.

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Die Rollenverteilung in der Ehe meiner Großeltern war recht klassisch. Opa kümmerte sich um die Finanzen, die Korrespondenz und las täglich mehrere Zeitungen. Unternehmungen und die Organisation von Familienfeiern gingen meist von ihm aus. Oma kümmerte sich um den Haushalt und kochte jeden Tag, was Opa sich wünschte. Wenn ich anrief und fragte, ob wir was zusammen machen wollten, sagte Oma immer: Da muss ich erst mal Opa fragen.

Mit zunehmendem Alter wurde für meine Oma die Orientierung auf unbekannten Strecken immer schwieriger und sie erzählte öfter mal dasselbe. Aber solange Opa noch lebte und körperlich und geistig fit genug war, konnte er Einiges kompensieren. In Opas letztem Lebensjahr war Oma vor allem damit beschäftigt, ihn täglich in diversen Krankenhäusern Wiens und ganz am Schluss im Pflegeheim zu besuchen.

So richtig schlimm wurde es, als mein Opa starb. Klar, Oma war schon länger ein bisschen vergesslich gewesen. Aber mit dem Verlust des Menschen mit dem sie über 50 Jahre lang verheiratet gewesen war, brach so viel Lebenssinn und tägliches Beschäftigungsfeld weg, dass ihr Kurzzeitgedächtnis immer mehr nachließ.

Inzwischen ist es normal geworden, dass mir Oma am Telefon mindestens drei Mal dieselbe Geschichte erzählt und nicht mehr weiß, welcher Wochentag ist. Welcher Monat beziehungsweise welches Jahr gerade ist, errät sie meistens noch ziemlich gut. Außer die zwei U-Bahnstrecken, die sie jahrelang regelmäßig gefahren ist, kann sie keine Öffis mehr allein benützen. Termine vergisst sie trotz mehrerer Kalender. Einfache Alltagssituationen überfordern sie und führen zu großem Stress. Auch mit der Medikamenteneinnahme und anderen Routinetätigkeiten klappt es nicht mehr so richtig. Aus Angst drückt sie sich schon länger vor einer harmlosen Augen-OP. Dass sie so schlecht sieht, führt oft zu skurrilen Situationen: So hielt sie einmal einen LKW für die Straßenbahn oder wunderte sich, warum die Kekse, die sie gekauft hatte, so seltsam schmeckten—ein Blick auf die Packung zeigte: es waren Hundekekse. Immer öfter erzählt Oma aus ihrer Kindheit.

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Soziale Regeln und Normen werden für sie immer unwichtiger. Als ich eines Tages mit ihr Essen war, regte sie sich über die fetten, alten Weiber auf, die am Nebentisch einen 85. Geburtstag feierten. Damals war sie ebenfalls gerade 85 und hatte einen ähnlichen Körperbau wie die Damen, die übrigens alles andere als fett waren. Obwohl sie schon lang nicht mehr den Überblick hat, wer sie wie oft anruft, entwickelt sie zunehmend die wildesten Theorien darüber, warum manche Leute sie angeblich nie mehr anrufen.

Um ein bisschen Struktur und Ablenkung in Omas Alltag zu bringen, meldeten wir sie für ein Tageszentrum an. Auch wenn sie es dort kindisch und so viele alte Leute deprimierend findet, geht sie jetzt einmal pro Woche hin.

Die Situation ist trotzdem eine große Herausforderung für die ganze Familie. Aus nachvollziehbaren Gründen verdrängt Oma ihren Zustand so gut wie möglich. Sie will nur ja niemanden zur Last fallen, sie braucht ganz bestimmt keine Hilfe und schon gar keine fremden Frauen in der Wohnung. Es ärgert sie, dass die Putzfrau tatsächlich in ihrer Wohnung putzen wollte und noch mehr, dass sie nebenbei noch den Ehering gestohlen haben soll. Komischerweise tauchte der Ring nur zwei Tage nach dem Rauswurf der Putzfrau wieder auf. Es scheint fast so, als wäre aus meiner Oma, die ihr ganzes Leben 110 Prozent angepasst war, eine Rebellin geworden.

Für die Kinder meiner Großmutter ist es natürlich auch nicht einfach, die Veränderungen ihrer Mutter zu akzeptieren. Eine Mutter soll sich um ihre Kinder kümmern. Doch was passiert, wenn sie immer mehr selbst auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen ist? Was, wenn auf einmal alles umgekehrt ist und sie Rollen tauschen müssen?

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Um Oma so empathisch wie möglich zu begegnen, beschäftigte ich mich mit der wertschätzenden Grundhaltung der Validation. Was theoretisch ganz logisch klingt, ist in der Praxis jedoch oft schwierig. Es bedeutet nicht zu bewerten und Oma so zu akzeptieren, wie sie gerade ist. Und das heißt unter anderem, Abschied nehmen von dem Menschen, den ich kannte.

Die Realität ist, so wie sie ist, für Oma schwer zu ertragen. Die glücklichsten Momente ihres Lebens liegen wahrscheinlich hinter ihr. Das, was noch auf einen zukommt, wenn man über 85 ist, kann einem schon mal Angst machen. Früher hat sie Enkelkinder abgeholt, beaufsichtigt und Kuchen gebacken. Heute bereichert sie jede Feier mit ihren Erzählungen und Witzen. Was passiert, wenn sie irgendwann gar nichts mehr tun kann, was ihr das Gefühl gibt, wertvoll für andere zu sein?

Das bedeutet, Oma so zu akzeptieren, wie sie gerade ist. Und das heißt unter anderem, Abschied nehmen von dem Menschen, den ich kannte.

Wenn ich daran denke, wie es mit meiner Oma weitergehen wird, beschäftigen mich aber noch viele andere Fragen: Was kann sie noch selber machen, was sollte ihr abgenommen werden? Wie lange wird sie noch ohne professionelle Unterstützung auskommen? Wenn sie in ein Heim kommen sollte, wie wird man sich dort um sie kümmern? Wie viel soll und kann sie noch selbst entscheiden? Wie viel Mitsprache kann man ihr gewähren? Wie viel Eigenverantwortung? Wie ernst soll man jemand nehmen, der sich manchmal so irrational verhält?

Allein drei meiner näheren Freundinnen haben demenzkranke Großmütter. Die zunehmende Zahl an Demenzkranken wird dazu führen, dass wir Antworten auf diese Fragen finden müssen. Das Vergessen Einzelner ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft.

Aber zurück zu meiner Oma: Keinesfalls wollte ich sie mit diesem Text bloßzustellen. Es ist nur so, dass die Situation mit Humor und Offenheit leichter zu ertragen ist. Ab einem gewissen Alter kann man mit mehr Rück- und Weitblick einschätzen, was wirklich wichtig ist im Leben. So relativieren sich meine Probleme oft ganz von alleine, wenn ich mit Oma zusammen bin. Ich finde es spannend, wenn sie aus ihrem Leben erzählt. Ich genieße es, dass sie mich noch erkennt. Egal, was kommt, ich möchte versuchen, möglichst lange mit ihr in Verbindung zu bleiben durch unsere Gedichte, Lieder und andere gemeinsame Erinnerungen. Meine Oma war für mich da, als ich noch nicht alles allein machen konnte. Deshalb möchte ich auch für sie da sein, wenn sie nicht mehr alles allein schafft.