Kennt ihr Snowpiercer? Den Sci-fi-Film, in dem die letzten Überlebenden der Menschheit in einem zischenden Zug, der unser Klassensystem symbolisiert, über die Erde fahren? Und wo im hintersten Waggon die absolute Unterschicht haust, die für die Reichen in den vorderen Wagons schuftet? Wie soll ich sagen: Dieser hintere Waggon ist die Wiener 6er-Bim—zumindest meint das Laman, die uns auf diesen schönen Vergleich gebracht hat und auch ich dachte das bis gestern. Deshalb bin ich einen Tag mit der Bim im Kreis gefahren. Hier ein paar Eindrücke von meinem Abenteuer (Spoiler: ihr solltet den Artikel zuende lesen oder zumindest zum Schluss vorscrollen, bevor ihr in den Kommentaren dagegen shitstormt.)
Die 6er-Bim fährt von der Stadthalle quer durch die grindigsten Gegenden der Innenstadt bis nach Simmering und befördert täglich absurd viele schwitzende Menschen—und angeblich auch ein paar Taschendiebe—an die wirklich schönen Ecken unserer Stadt. So kenne ich diese Linie: als eine Mischung aus Grind und Mythos. Wenn ich normalerweise mit der 6er fahre, dann ist das meistens nur eine Station—und schon nach den wenigen Minuten bin ich froh, dass ich aus dieser Wolke aus Schweiß, Alkohol und Traurigkeit aussteigen kann. Irgendwie habe ich mir erwartet, dass sich die Gerüche und deprimierenden Vorfälle irgendwie multiplizieren, wenn ich mehr Zeit am Stück in einem 6er-Waggon verbringen würde. Ich wollte diesen Mikrokosmos, der tagtäglich an mir vorbei rollt, und von dem alle behaupten, dass er das Allerletzte sei, ein bisschen näher verstehen; ich wollte die 6er spüren.
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Als ich am Beginn meiner Abenteuerfahrt in die gesteckt volle 6er einsteige, sehe ich als Allererstes eine Frau, die seelenruhig ihr süßes Baby stillt. Es könnte mir zwar kaum etwas egaler sein, als eine entblößte Brust in der Öffentlichkeit, aber jemand, der mit einer solchen Lässigkeit sein Baby in der berstend vollen Bim stillt, hat an dieser Stelle eine besondere Erwähnung verdient. Free the Nipple! Das kann nur ein guter Tag werden, dachte ich.
Ich sitze in der Bim und höre Wanda, habe zwei Gratiszeitungen in meiner Jackentasche und eine Wurstsemmel dabei. Schon jetzt fühle ich mich wie der alteingesessenste Wiener, den es je gab und ich würde den kleinen, lästigen Gschroppen in der Bim gerne „an Tschocklad” anbieten, so wie echte Bim-Liebhaber das in meiner Fantasie machen. Leider bin ich dann doch zu geizig und esse meinen Schokoriegel, für dessen Geschmack alt gar kein Ausdruck ist, lieber selbst. Ich freue mich auf einen Tag voller modischer Entgleisungen, ekelhafter Gerüche und lustiger Dialoge. Und die Fickeysstraße ist jetzt schon meine Lieblingsstation. Ob ich mit 22 noch über einen Straßennamen, in dem „Fick” vorkommt, lachen darf, ist eine andere Geschichte.
Mit jedem Mal, als ich an den Endstationen (Burggasse und Kaiserebersdorf, von dem ich noch immer nicht weiß, wo es eigentlich genau liegt) aus- und sofort wieder einsteige, komme ich mir weniger blöd vor, als gedacht. Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, wie oft ich schon hin und her gefahren und den silber-glitzenden Goldenberg-Tag in einer Unterführung im 11. Bezirk gesehen habe. Was mich aber noch mehr erstaunt, als dieses Kunstwerk, ist die Tatsache, wie viele Menschen an jeder einzelnen Station in diese Bim steigen wollen und es auch in meisterhafter Tetris-Manier schaffen, sich selbst in den Waggon zu schlichten. Eine wichtige Frage, die ich mir an diesem Tag stelle: Gibt es überhaupt so viele Menschen auf der Welt, wie die 6er täglich befördert? Ich glaube ja, es sind mindestens ein Drittel davon Statisten, die sich immer wieder hinten anstellen.
Mittlerweile sind Stunden vergangen und ich weiß nicht mehr, ob ich zwischenzeitlich im Koma war oder mich einfach nur die nie enden wollende Reihe aus Handyshosps und Kebab-Ständen hypnotisiert hat und ich so jegliches Gefühl für Zeit verloren habe.
Zumindest bin ich nicht allein. Der Mann neben mir nickt permanent ein—zumindest, bis die nächste Schülergruppe, bestehend aus Kevins und Jaquelines, einsteigt. Auf Simmering kann man sich eben verlassen. Mir ist inzwischen so langweilig, dass ich mich fast ein bisschen auf die Rush Hour freue. Die ersten Maurer und Maler mit völlig zugepatzten Blaumännern und Dosenbier in der Hand machen mir Hoffnung auf mehr. Das Einzige, das mich an diesem Punkt sonst noch wach hält, ist die Frau hinter mir, die mir beim Kaugummikauen so gnadenlos ins Ohr schmatzt, dass ich mir fast ein bisschen selbst in den Mund kotze (ja, das ist eine echte Phobie und ihr seid alle widerlich).
Schon an diesem Punkt musste ich mir eingestehen: Die 6er ist zivilisierter, als ich dachte. Extrem grindig, aber zivilisiert. Alle Menschen sind nett—mit Ausnahme einer übergewichtigen Frau, die sich darüber aufregt, dass eine andere Frau mit Kinderwagen einsteigen will, weil sie das dazu zwingt, sich einen halben Meter zu bewegen—und auch die Tatsache, dass ich sie alle während der ganzen Fahrt beobachte, bringt sie in ihren gefälschten Marken-Polos nicht aus der Ruhe. Nichtsdestotrotz höre ich mittlerweile „Ich will Schnaps” in Dauerschleife und glaube, dass Marco Wanda diesen Song in dieser Bim geschrieben haben muss, denn nichts anderes könnte solch ein Verlangen nach Rausch hervorrufen:
Ich will Schnaps / Wenn du mich liebst / Gib mir Schnaps
Ich frage mich, womit ich mir die Zeit vertreiben könnte, da die erwarteten Ereignisse ausbleiben. Soll ich die Puber-Tags entlang der Bahnstrecke zählen? Soll ich noch einmal jede Meldung auf dem Infoscreen lesen und auswendig lernen? Soll ich mich mit dem Bim-Lenker anfreunden? Die dritte Option erscheint mir ziemlich verlockend und er lässt mich an der Endstation sogar auf seinem Platz probesitzen, während er am Ende der Welt (=Kaiserebersdorf) eine raucht.
Mittlerweile ist es 17:00 Uhr und ich habe hier viel zu viel Zeit, um über mein Leben nachzudenken. Die pöbelnden Menschen, die ich schon bei so vielen über die letzten Monate verteilten Fahrten in der 6er gesehen hatte, sind diesmal leider nicht erschienen. Und da ich diesmal mehr aus dem Fenster gesehen habe und weiter gefahren bin, als sonst, kann ich sogar sagen: Der zehnte Bezirk ist nicht so hässlich, wie ich erwartet hätte. Die Modegschäfte sind durch die Bank absurd, aber sehen sogar von außen irgendwie liebenswert aus. Ein Shop auf der Quellenstraße wirbt mit einem riesigen Bild von Boris Entrup—ja, dem Typ, der bei Germany’s Next Topmodel die Mädchen schminkt und ihnen erklärt, wie man Concealer richtig aufträgt. Ich glaube, er wäre stolz, wenn er wüsste, dass er mit seinem Lächeln für eine Boutique im Zehnten bürgt.
Ich habe mir diesen Tag viel schlimmer und unerträglicher vorgestellt. Zumindest weiß ich jetzt, wo die Hälfte aller KIKs in Wien liegt. Die Rundfahrt hat so etwas wie einen Bucket-List-Reflex in mir ausgelöst: Ich habe mir vorgenommen, endlich den Zentralfriedhof zu besuchen und zu Falcos Grab zu gehen, nachdem ich heute absurd oft daran vorbeigefahren bin und auch die Menschen in der Bim waren einfach nur Menschen, die von A nach B wollen und dafür zufällig in die selbe Bim gestiegen sind, in der ich meinen Tag verbracht habe, um sie zu belauschen. Niemand hat neben mir Nudeln aus der Box gefressen oder versucht, mich zu bestehlen, als ich halb komatös vor mich hin gedöst habe. Ich weiß jetzt, dass Menschen 15 Minuten lang über die Herkunft des Wortes „Tsunami” diskutieren können und dass es tatsächlich jemanden auf dieser Welt gibt, der „If You Believe” von Sascha (muss ich mich schämen, dass ich dieses Lied erkannt habe?) als Klingelton hat.
Am Ende bleibt mir nur eins: Nämlich mich bei dir, liebe 6er-Bim, für meine Vorurteile zu entschuldigen. Sicher, du fährst nicht durch die schicken Randbezirke, wo man auf Weinberge und Heurige blickt, und du bist generell ein bisschen grindig. Aber das sind wir in Wien doch alle. Und genau wie bei uns Menschen gilt auch bei dir: Wenn man sich ein bisschen Zeit nimmt und sich mit dir beschäftigt, lernt man deine schönsten unbekannten (und unverhofftesten) Seiten kennen. Ich liebe dich, 6er-Bim. Du bist nicht so schlimm, wie alle sagen.
Verena auf Twitter: @verenabgnr