In meiner Beziehung stimmt eigentlich alles. Ich fühle mich zu der anderen Person hingezogen, sie respektiert mich, unterstützt mich, wir haben gemeinsame Werte und Interessen. Trotzdem kommen mir manchmal Zweifel – ein Gedanke, der noch unheimlicher ist, wenn man ihn laut ausspricht: Was ist, wenn ich etwas verpasse? Wäre mein Leben spannender, wenn ich Single wäre? Hätte ich mehr Spaß? Aufregenderen Sex? Würde ich zum Studieren oder Arbeiten woanders hinziehen? Vielleicht sogar ins Ausland?
Die Psychotherapeutin und Psychologiedozentin Chiara Simonelli findet diese Gedanken gar nicht so unheimlich. “Es ist sogar ziemlich normal, sich solche Fragen zu stellen”, sagt sie. Es liege in der Natur des Menschen, genau das zu wollen, was man nicht hat. So funktioniert Begehren. Das ist “ein Problem, das es schon immer gab”.
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Zum echten Problem für deine Beziehung wird es allerdings erst, wenn dieser Gedanke obsessiv wird. “Wenn du jeden Morgen aufwachst und dich fragst, was du verpasst, ist das ein schlechtes Zeichen”, sagt Simonelli.
Zu Beziehungen gehört auch, sich regelmäßig zu überlegen, wie zufrieden man noch ist – hinsichtlich der eigenen Ziele und der gemeinsamen. Mit der Zeit beginnt man, die Makel des anderen zu sehen, Unterschiede werden offensichtlicher. Die Realität, mit der du dann konfrontiert wirst, unterscheidet sich unter Umständen sehr von den idealisierten und euphorischen Erwartungen, die du zu Beginn an eure Beziehung hattest.
Das Ende der ersten großen Verliebtheitsphase sei typischerweise der Punkt, an dem solche Gedanken erstmals aufkommen, sagt Simonelli. Zu einer Beziehung gehört, sich auf die gemeinsame Zukunft zu konzentrieren, nicht auf die eigene. Und es gehört auch dazu, gerne miteinander zu teilen. “Aber das soll nicht heißen, dass man in totaler Symbiose leben muss. Um Gottes Willen!”, sagt Simonelli. Aber wenn du das Gefühl hast, dass du in der Beziehung zu viele Dinge machst, auf die du gar keine Lust hast, oder mit Dingen aufhörst, die dir eigentlich wichtig sind, dann bist du bald frustriert, fühlst dich unwohl und verspürst den Drang zu fliehen.
“Im Laufe weniger Generationen hat sich unglaublich viel geändert”, sagt Simonelli – wie auch die Rollenerwartungen und die Erwartungen an eine Beziehung. In vielerlei Hinsicht ist das auch gut so. Frauen können heute viel freier über ihr Leben entscheiden. Aber auch die Lebensläufe sind heute anders. Junge Menschen blicken verunsichert in die Zukunft und sehen sich in einer wirtschaftlich instabilen Lage. Das hat zur Folge, dass sie einstmals klar gesteckte Ziele wie Heiraten und Kinderkriegen weiter nach hinten schieben. Und diese Ziele verlieren dadurch auch an Wert.
“Individualität spielt in der Gesellschaft eine immer größere Rolle”, sagt Simonelli. “Die Suche nach dem eigenen Glück ist unsere oberste Priorität geworden.” Aber dein Partner oder deine Partnerin ist genauso wenig perfekt wie du. Wenn ihr euch mit euren Makeln gut ergänzt, ist das super. Dann kannst du dir sagen, dass du von den vielen Möglichkeiten da draußen die sinnvollste gewählt hast.
Gleichzeitig gibt es manchmal “eine Entkoppelung zwischen dem, wie wir uns eine perfekte Beziehung vorstellen, und der praktischen Umsetzung “, sagt Simonelli. “Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und es macht es schwerer, wertzuschätzen, was man hat.”
Selbst in der glücklichsten Beziehung werde man nie vollständig aufhören, sich auch zu anderen Menschen hingezogen zu fühlen. Alles andere sei Wunschdenken. “Nicht nur das”, sagt Simonelli weiter, “es gibt auch nicht nur den einen perfekten Deckel zum Topf. Theoretisch kann jedes Individuum Teil vieler verschiedener Paarbeziehungen sein. Die Form unterscheidet sich je nach Kompatibilität.”
Wenn du dich ständig fragst, ob es da draußen vielleicht eine Person gibt, die besser zu dir passt, empfiehlt Simonelli, dass du dich erst mal in etwas Geduld übst. Reflektiere vielleicht, mit was für Erwartungen du in die Beziehung reingegangen bist, und frage dich, ob sie sich erfüllt haben. Wenn nicht, könntest du einerseits deine Erwartungen hinterfragen und dir außerdem überlegen, welche Rolle du bei der Entwicklung eurer Beziehung spielst, welche deine Partnerin oder dein Partner.
“Es ist sehr interessant zu verstehen, was wir in die Beziehung mitbringen, denn alles tendiert dazu, sich zu wiederholen”, sagt Simonelli. Es ist unerlässlich, Muster zu erkennen und zu überlegen, ob es sie auch schon in früheren Beziehungen gab. Manchmal weichen unsere Wünsche von dem ab, wofür wir uns entscheiden. Zu erkennen, was einem guttut, ist ein ständiger Selbstfindungsprozess. Man muss sich dafür bewusst machen, wie viel man (im Rahmen des Möglichen) tatsächlich von dem bekommt, was einem wirklich wichtig ist.
“Wir sind als Menschen beschränkt. Wir können nicht alles tun”, Sagt Simonelli. “Niemand kann alle Bedürfnisse einer Person erfüllen, nicht mal die wichtigen.” Was wir allerdings weiter tun müssen, sagt die Therapeutin, ist Entscheidungen zu treffen – vor allem solche, über die wir uns vorher Gedanken gemacht haben. Auch wenn es in der Theorie vielleicht super klingt, sich nicht auf eine feste Beziehung einzulassen, kann das deine persönliche Entwicklung einschränken und deine Fähigkeit, in deiner Liebe zu wachsen.
“Chronisch zögerliche Menschen wissen genau, dass jede Entscheidung ihren Preis hat, und sie wollen ihn nicht zahlen”, sagt Simonelli. “Aber dieser Trick funktioniert nicht. Entscheidungen hinauszuschieben, ist nur eine andere Form der Wahl – allerdings eine, bei der man immer verliert.”
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