Wie meine Mutter schrumpfte

Illustrationen von Madison Griffiths

Jeden Morgen lief meine Mutter ihre Runde.

Sie ging mit schnellen Schritten. Zehn Runden auf dem Sportplatz. Ihre Hunde lagen oft faul im nassen Gras und sahen ihr hechelnd zu. Wenn sie fertig war, ging sie noch den Weg zu ihrem Büro, die Stirn klitschnass vor Schweiß. Den ganzen Tag schwitzte sie weiter, denn jeden Morgen vor ihrer Runde wickelte sie ihren Körper in Frischhaltefolie. Die Folie blieb den ganzen Tag dran, versteckt unter ihrer Kleidung. Die vielen Schichten entzogen ihrem Körper das Wassergewicht, das sie so hasste.

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Abends war sie nur noch ein hungriges Häufchen Elend, eine zerbrechliche Frau, die beim Fernsehen am Kragen ihrer Jacke kaut. Auf ihrem täglichen Speiseplan stand Gatorade mit Wassermelonengeschmack, eine Tütensuppe und ein Stück von einem Toast mit Vegemite, den sie morgens geviertelt hatte. Die anderen drei Viertel fand ich meist im Müll.

Meine Mum war schon immer dünn, mit langen Gliedmaßen und messerscharfen Wangenknochen. Unabhängig von ihrer Krankheit fand ich ihr Aussehen schon immer irgendwie bemerkenswert. In ein paar gerahmten Hochzeitsfotos, die in unserem Haus verstreut hängen, ist sie eine zerbrechliche, 24-jährige Vision in Weiß. Als sie meinen Vater heiratete, war er noch Sportler und verbrachte seine gesamte Zeit mit Saunieren, Fasten und Sellerie.

Als sie noch exzessiv im örtlichen Fitnessstudio Aerobic unterrichtete, lebte sie von Frühstückscerealien und gelegentlichen Mars-Riegeln. Es überrascht wenig, dass sie mit Anfang 20 einen Herzinfarkt hatte; ihr Körper war zu ausgemergelt, um diesem Druck standzuhalten.

Am Gewicht anderer Leute hat meine Mutter schon immer lebhaftes Interesse. Freundinnen von mir, die selbst Essstörungen hatten, standen ihr besonders nahe. Doch es war nie von Dauer. Wenn die Freundin irgendwann dünner aussah als sie selbst, konnte sie sie gar nicht schnell genug ignorieren.

In meiner Kindheit hing die Wahl des Senders, auf dem wir die Wettervorhersage schauten, davon ab, wie viel die Wetterfrau auf die Waage brachte. Je mehr Bauch, desto besser. Einmal bat meine Mum sogar meinen Vater, eine von seinen Angestellten zu beurlauben, bis sie zunahm. Die Konkurrenz am Arbeitsplatz war schrecklich für sie.

Wenn ich zunahm, war meine Mutter die erste, die es bemerkte. Sie war glücklich, solange ich zwischen 54 und 57 Kilo wog. Alles darunter bedeutete, dass ich ihr den Platz streitig machte, und wenn ich mehr wog, wurde ich für sie zu einem erstaunlich unangenehmen Anblick.

Es war, als würde mein Desinteresse am Essen drohen, ihrem den Rang ablaufen. Als wir noch unter einem Dach wohnten, konnte es nur eine Siegerin geben, und sie spielte dieses Spiel schon seit 30 Jahren. Sie öffnete eine Tüte Chips, legte sie neben mich und verließ den Raum. Ich lehnte höflich ab, legte die Chips an ihren Platz, und verließ selbst das Zimmer. Die erste, die einen Chip aß, war die Schwächere. Wenn ich ohne sie aß, gab ich mich Fressattacken hin. Ich aß, was auch immer ich in die Finger bekam, vielleicht als eine kranke Form von Rebellion.

Kurz bevor ich von zu Hause auszog, fing ich an, zum Arzt zu gehen, um mein Gewicht und meine Einstellung zu überwachen. Doch ich fotografierte immer noch meinen Körper vor verschiedenen Spiegeln und analysierte die Bilder gnadenlos. Mein Spiegelbild sah in meinem Bad immer dünner aus als in der Garderobe meiner Mutter. Unter dem harschen Licht dort war ich nichts als eine blasse Ansammlung von Dehnungstreifen und klumpigem Fleisch.

Also spielte ich ein Spiel mit mir selbst. Wenn ich an einem Tag gefrühstückt hatte, durfte ich am nächsten Tag erst zu Mittag etwas essen, und am Tag darauf erst abends. Wenn ich gegen diese Regel verstieß, war das auch kein Weltuntergang—es bedeutete schlicht, dass ich mich übergeben musste. Meine Wangen waren geschwollen und ich hatte immer Angst, auf meiner Zahnbürste Blut zu finden. Trotzdem hatte ich nie das Gefühl, “alles” herausbekommen zu haben.

Die Waage im Bad meiner Mutter zeigte ein sechs Kilo schwereres Gewicht als die Waage in der Arztpraxis. Diese sechs Kilogramm machten einen gewaltigen Unterschied. Egal wie schlimm mein Arzt meinen Gesundheitszustand einschätzte, Mamas Waage war die einzige, die das wahre Gewicht anzeigte.

Lange Zeit versuchte ich, die Pflegerin meiner Mutter zu sein. Die Mutter meiner Mutter, wenn du so willst. Ich jagte Überweisungsscheinen hinterher und rief weinend bei ihrem Hausarzt an, um darauf zu bestehen, dass sie ihre Krankheit verschwieg. Ich wollte schreien: “Nein, ihr Idioten, sie leidet nicht ‘seit Kurzem aus unbekannten Gründen an Gewichtsverlust’!” In Wahrheit teilte sie Bett und Tisch mit einer grausamen Krankheit, die ihr tödliche Ratschläge zuflüsterte, und das schon drei Viertel ihres Lebens.

Die Ärzte kannten nur eine höfliche, verschüchterte Frau. Sie hatten nie die mit Krampfadern übersäte Gestalt gesehen, die nicht die nötige Kraft aufbrachte, um ihre Autotür zu schließen.

Hin und wieder, wenn meine Mutter sich besonders schwach fühlt oder den Eindruck hat, die Krankheit würde Überhand nehmen, murmelt sie: “Ich weiß, dass ich ein Problem habe.” Das ist innerhalb unserer Familie auch kein Geheimnis. Sie sagt dann, sie wünsche sich, mehr zu essen—oder überhaupt zu essen. Ihre Freundinnen machen unsensible Bemerkungen. Meist geht es dabei darum, was sie doch für ein “Glück” habe, selbst im reifen Alter dünn zu bleiben. Ich kriege Ohrenrauschen, wenn ich daran denke.

Natürlich frustriert mich ihre Krankheit manchmal; das ist unvermeidbar. Die Magersucht macht mir solche Angst und ich liebe meine Mutter mehr als alles andere. Ich will einfach nur, dass es ihr gut geht.

Das Essen, das ich für sie koche, zermatscht sie immer noch zu einem seltsamen Brei undefinierbarer Farbe und Textur, damit sie so tun kann, als würde sie kauen. Manchmal rennt sie nach zwei Bissen Dal auf die Toilette, weil sie plötzlich das Verlangen hat, sich zu übergeben.

Es fällt mir schwer zuzugeben, wie oft ich dieselben Tendenzen an den Tag lege: Notizblöcke zum Kalorienzählen, Tofustücke unter Salatblättern verstecken, schnell nach dem Essen alles wegräumen, damit niemand sieht, wie wenig tatsächlich in meinem Magen gelandet ist.

Ich habe die Angst meiner Mutter vor dem Essen geerbt, zusammen mit ihrer Scham und ihrer Trauer. Ich beneide sie um ihre hervorstehenden Knöchel und die scharfen Konturen ihres Gesichts. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass das nicht die Eigenschaften sind, die sie ausmachen—das ist ihre Krankheit. Aber ihre Krankheit hat eine eigene Persönlichkeit, die so echt und mächtig ist, dass ich die beiden manchmal nicht auseinanderhalten kann.

Erst letztes Wochenende habe ich ein enges Kleid getragen und irgendwann gerufen: “Ich sehe schrecklich aus! Schau, wie mein Bauch hervorquillt.” Sie legte tröstend ihren Arm um mich und lachte. “Du bist wirklich meine Tochter.”