“Meine Patientinnen wissen nichts über ihren Körper” – ein Frauenarzt im Gespräch

Einer der größten Irrtümer der Menschheit ist wohl: „Sowas passiert immer nur den anderen.” Ich wage zu behaupten, dass sich jeder und jede von uns diesen Satz schon des öfteren gedacht hat. Zum Beispiel dann, wenn eine Bekannte davon erzählt, wie HVP-Viren bei ihrem letzten Vaginalabstrich gefunden wurden und sie dann eigentlich gar nicht so genau wusste, was das bedeutet, woher HPV-Viren kommen und wozu sie führen können. Man ruht sich aus, hofft, dass man selbst verschont bleibt und somit ist das Thema im Kopf auch ganz schnell wieder abgehakt. Diese Einstellung ist nicht nur fahrlässig, sondern auch gefährlich—für einen selbst und andere.

Desinteresse, Informationsfaulheit und die Macht der Verdrängung, wenn es um den eigenen Körper geht, sind jedoch nicht nur in Einzelfällen ein Problem. Sie stehen symptomatisch für eine Generation junger Frauen, die zwar wissen, wie man sich das Gesicht konturiert, beim eigenen Intimbereich aber gerne mal beide Augen zudrücken.

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„Mehr als 50 Prozent meiner Patientinnen sind zwischen 18 und 30—und das Traurige ist, dass die vom eigenen Körper so gut wie nichts wissen und noch dazu völlig desinteressiert sind. Ich erlebe das tagtäglich.” erzählt Dr. Gill, als ich ihn in seiner Praxis im fünften Wiener Gemeindebezirk besuche. „Viele wissen nichts über Geschlechtskrankheiten wie HPV—nicht einmal, dass HPV beispielsweise durch eine Impfung vorgebeugt werden kann und man sich so vor Gebärmutterhalskrebs schützt.” Gegenüber Broadly will er über seinen Alltag als Frauenarzt sprechen, in dem er hautnah mitbekommt, wie viel Unwissen vor allem bei seinen jungen Patientinnen vorherrscht.

Viele sehen laut seinen Aussagen keine Dringlichkeit darin, sich über mögliche Risiken wie zum Beispiel sexuell übertragbare Krankheiten zu informieren, so lange sie nicht selbst davon betroffen sind. Es mangelt aber auch an Grundkenntnissen über den weiblichen Körper: „Auch wissen viele Frauen nicht, wie sie überhaupt zu einem Kind kommen, wann, warum und weshalb sie zu einem bestimmten Zeitpunkt schwanger werden können.”

Nach dreißig Jahren Berufserfahrung weiß Dr. Gill, bei welchen Themen besonders gerne weggehört und mögliche Folgen heruntergespielt werden. „Viele Frauen wissen zum Beispiel nicht, dass der weibliche Organismus niemals vergisst, dass man einmal Raucherin war. Beim Mann werden die Spermien alle drei Monate erneuert und wenn der aufhört, zu rauchen, ist zumindest seine Spermienqualität irgendwann wieder besser. Bei der Frau ist das in den Eierstöcken drin und die kann hundert Jahre nichts mehr rauchen und das wird nicht mehr besser.”

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Warum das so problematisch ist, zeigt beispielsweise der Verhütungsreport des Gynmed Institutes aus dem Jahr 2015. Ergebnisse der Studie besagen, dass 12,8 Prozent der befragten Frauen aufgrund genereller Angst vor Hormonen nicht-hormonell verhüten wollen, sich jedoch nicht ausreichend über Alternativen informieren und somit schlechter oder schlichtweg gar nicht verhüten. Diese Unwissenheit und fehlende Bereitschaft, sich fundierte Informationen zu beschaffen, die über Hören-Sagen hinausgehen, führen in diesem Fall zu einer steigenden Anzahl an ungewollten Schwangerschaften und auch Schwangerschaftsabbrüchen. Auch in Frankreich schlägt sich diese Entwicklung bereits statistisch nieder.

Für Dr. Gill liegt die Wurzel des breitangelegten Wissensdefizit der jungen, weiblichen Generation vor allem in mangelhafter Aufklärung. Laut dem Arzt ist es Aufgabe der Eltern, der Schule und der Regierung, Bewusstsein für diejenigen Themen zu schaffen, die in der Verantwortung der Individuen liegen—und da gehört die eigene Gesundheit definitiv dazu. In österreichischen Schulen beispielsweise ist die Sexualaufklärung zwar per Grundsatzerlass als Teil des Lehrplanes festgelegt, es wird jedoch auch ausdrücklich betont, dass die Hauptverantwortung, den Kindern diese Seite des Lebens näher zu bringen, bei den Eltern liegt. Das heißt, die Aufklärung passiert mehr nach Ermessen der betreffenden Lehrer—was selbstredend keine zufriedenstellende Herangehensweise an dieses Thema sein kann, aber dennoch Alltag ist. Das bestätigt auch eine Mittelschullehrerin auf Nachfrage gegenüber Broadly: „Eigentlich ist Sexualkunde Teil des Lehrplans für Biologie und sollte in der ersten und vierten Klasse durchgenommen werden. Manche Lehrer schieben das Thema dann bis zur letzten Schulwoche vor sich hin und lassen es letzten Endes ausfallen.”

Dann bleiben natürlich noch die Eltern als Ansprechpartner. Das setzt aber voraus, dass das Verhältnis zwischen Erziehungsberechtigten und Teenager so gut ist, dass auch über solche Themen offen gesprochen werden kann. Eine Studie der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung aus dem Jahr 2012 hat beispielsweise ergeben, dass es für über 40 Prozent der Jugendlichen nicht möglich sei, innerhalb der Familie über intime Fragen zu sprechen. 32 Prozent geben an, dass sexuelle Themen zu Hause generell vermieden werden.

Viele Frauen kommen auch zu mir und sagen: ,Die Pille, die meine Freundin hat, die will ich auch.’ Dann sag ich ihr, dass sie hier nicht im Supermarkt ist.

Das ist insbesondere deswegen überraschend, weil wir angeblich in einer aufgeklärten Informationsgesellschaft leben. Umfangreiche Informationen zu allen Bereichen des Lebens sind nur ein paar Mausklicks entfernt. Wenn man als heranwachsende Frau intime Fragen zu eigenen Körper hat, für die man sich unter Umständen schämt, muss man nicht Eltern oder Freunde fragen—man fragt Google. Ganz einfach also, oder? Nun ja.

In größeren Internetforen wie beispielsweise maedchen.de oder auf der Website der Bravo gibt es durchaus ein großes Informationsangebot, diskutiert werden wichtige Themen aber eben trotzdem primär untereinander. Junge Frauen auf der Suche nach Antworten landen also oft genug bei Userinnen, die womöglich selbst keine Ahnung haben. Oder fragen schlussendlich doch ihre Freundinnen um Rat, die dieselben Probleme haben. Dieser Austausch führt laut Dr. Gill auch oft dazu, dass viele seiner Patientinnen denken, individuelle medizinische Probleme seien etwas, das man leichtfertig und ohne Rücksicht auf den eigenen Körper angehen könne: „Viele Frauen kommen auch zu mir und sagen: ,Die Pille, die meine Freundin hat, die will ich auch.’ Dann sag ich ihr, dass sie hier nicht im Supermarkt ist und sie die Pille bekommt, von der ich glaube, dass sie für sie am besten ist.”

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Die Unwissenheit zeigt sich in Dr. Gills Praxis zwar vordergründig, aber eben nicht nur bei den ganz jungen Patientinnen. Sie scheint—zumindest aus seiner Perspektive—ein gesamtgesellschaftliches Problem zu sein: „Ich sage meinen älteren Patientinnen immer wieder, dass sie schon in der Schwangerschaft mit Beckenbodengymnastik beginnen sollen, weil es sonst passieren kann, dass sie mit Inkontinenz zu kämpfen haben und beim kleinsten Lachen, Husten, Niesen Harn verlieren. Das ist eine Volkskrankheit—jede dritte Frau über 50 leidet darunter. Ich sage es in der Woche sicher 100 Frauen. Viele machen sich wirklich lieber in die Hose, als was dagegen zu tun.”

Schlussendlich bleibt die Erkenntnis: Es liegt an jeder einzelnen von uns, sich anhand sicherer Quellen über ihren Körper zu informieren, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Pille oder nicht-hormonelle Verhütungsmethode anzuwenden, sich angemessen zu pflegen und bei Ungereimtheiten einen Arzt aufzusuchen. Auch und gerade dann, wenn wir über den Aufklärungsunterricht in der Schule längst hinaus sind.