‘Meine Uroma war Prostituierte, mein Vater ein Kuckuckskind’

Manche Geschichten retten Leben. Das hat Serpentina Hagner im Alter von fünf Jahren gelernt. Damals fand sie ihren Vater Emil auf dem Dachboden, wo er am offenen Fenster stand und in den Tod springen wollte. “Ich habe ihm vom homerischen Gelächter aus der Ilias erzählt und konnte ihn so davon abbringen”, sagt sie. “Es war eine Geschichte, die er mir immer erzählt hatte.”

Bis heute vertraut Serpentina auf die heilende Wirkung von Erzählungen. Die 61-Jährige mit den kurzen blonden Haaren hat gerade ihr erstes Graphic Novel Der Märchenmaler von Zürich veröffentlicht, das sich der dunklen Seite ihrer Familiengeschichte widmet. “Das Zeichnen und Schreiben war eine Psychotherapie für mich. Ich habe aufgearbeitet, wie mein Vater zu dem wurde, der er war”, erzählt sie mit warmer Stimme in einem Gassencafé in der Zürcher Altstadt.

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In der Öffentlichkeit war ihr Vater Emil Medardus Hagner bis zu seinem Tod 1999 als Aussenseiter-Künstler und Zürcher Stadtoriginal bekannt.

Wem er begegnete, schenkte der bärtige Mann mit dem Federhut und den von Kristallen klimpernden Jackentaschen Zeichnungen mit Fantasiewelten in denen Elfen, Feen und Kobolde hausten. Sie brachten ihm den Übernahmen Märchenmaler von Zürich ein.

Doch die bunte Fassade des Märchenonkels täuschte. Im Innern des alten Mannes wüteten Dämonen. Kaum jemand ahnte, dass er Zeit seines Lebens immer wieder mit Depressionen und Alkoholismus kämpfte, weil er mit seiner Herkunft haderte.

An dieser Stelle setzt Serpentinas Graphic Novel an. Sie hat während Jahren die Geschichten gesammelt, die ihr Vater über sich und seine Vorfahren erzählt hat. Der Comic ist aber nicht nur Serpentinas persönliche Vergangenheitsbewältigung, sondern auch eine unterhaltsame Zeitreise ins Zürich um 1900 mit seinen zwischenmenschlichen Dramen im Arbeitermilieu.

Die Geschichten sind oft tragisch und komisch zugleich und kreisen um Frauenfiguren, die sich nicht um die damalige Sitte scherten: Nur ein paar Häuser weiter vom Café, in dem unser Interview stattfindet, arbeitete Serpentinas Urgrossmutter Pauline in einen Zigarrenladen im Niederdorf, in dem sie – sofern ein Kunde das richtige Sätzlein aufsagte – ihre Dienste als Prostituierte anbot. Wenn auch nicht ganz freiwillig: Als ledige Mutter wollte sie niemand mehr als Kellnerin anstellen.

Eine Generation später hatte Serpentinas Grossmutter einen italienischen Liebhaber und jubelte ihrem Mann ein Kuckuckskind unter – Serpentinas Vater Emil Medardus. Eine Schlüsselszene im Comic: “Mein Vater war traumatisiert, da ihm seine Mutter schon als kleiner Junge gesagt hat, dass ihr Mann sie verlassen würde, wenn herauskommt, dass er nicht sein leibliches Kind ist”, sagt Serpentina.

Ihr Weg zum Comic war lang und nicht immer leicht. Von der Idee bis zum gedruckten Band vergingen 20 Jahre. Serpentina brauchte diese Zeit, um sich das Comiczeichnen aus Bibliotheksbüchern beizubringen und nebenbei ihrer Arbeit als Köchin nachzukommen. Als ältere Amateurin war es auch schwierig einen Verlag zu finden. Dies gelang ihr erst dieses Jahr als sie für ihren Entwurf mit einem Comic-Preis ausgezeichnet wurde. Zudem bremsten sie ihre Depressionen und Selbstzweifel, an denen sie wir ihr Vater litt: “Ich habe viele Tränen vergossen. Es gab da ein paar sehr persönliche Geschichten, die mir zu nahe gingen und die ich weggelassen habe”, sagt sie.

Was bleibt, ist ein bittersüsses Denkmal für ihren Vater und das Fortführen seines Vermächtnis. Denn wie Serpentina illustrierte Emil Medardus Hagner zu seinen besten Zeiten Bücher.

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