Vergangenes Wochenende trafen sich mehr als 300.000 Menschen an der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien. Der Grund hieß “Venezuela Live Aid”, ein riesiges Benefizkonzert im kolumbianischen Cúcuta, organisiert vom britischen Milliardär Richard Branson. Damit wollten die Veranstalter und Teilnehmerinnen nicht nur auf die humanitäre Krise in Venezuela aufmerksam machen, sondern auch Druck auf den dortigen Präsidenten Nicolás Maduro ausüben. Der verhindert nämlich, dass in Cúcuta zwischengelagerte Hilfsgüter über die Grenzen gebracht werden dürfen.
Auf dem Benefizkonzert traten über 30 in Südamerika sehr bekannte Künstler auf, bei der vom Maduro-Regime aufgezogenen Gegenveranstaltung auf der venezolanischen Seite der Grenze performten nur weniger bekannte, lokale Bands – und das vor viel weniger Zuschauern.
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Der Zeitpunkt des Megakonzerts war strategisch gewählt: Der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó – der von Deutschland, den USA und anderen Nationen als Interimspräsident anerkannt wird – hatte geschworen, am darauffolgenden Tag die an der Grenze festgehaltenen Hilfsgüter nach Venezuela zu bringen. In einem Statement beschrieb Guaidó, wie hunderttausende venezolanische Freiwillige wie in einer “humanitären Lawine” helfen würden, die Güter über die Grenze zu schaffen.
Venezuela steckt schon seit Jahren in einer schweren sozioökonomischen Krise. Die Folgen: Hyperinflation, ständige Lebensmittelknappheit und fehlende Medikamente. Mehr als 3 Millionen Menschen flohen bereits aus dem Land. Trotzdem bestreitet Präsident Maduro immer wieder, dass es in Venezuela irgendeine humanitäre Krise gebe. Er bezeichnete Guaidó als “Handlanger Trumps”, der mithilfe der USA einen Regimewechsel erzwingen wolle.
Wir haben das Wochenende unter den zehntausenden Venezolanern und Venezolanerinnen verbracht, die für das Konzert nach Cúcuta gereist sind. Manche von ihnen wollten dabei nur die Musik am Freitag genießen. Der Großteil war allerdings fest entschlossen, am Samstag mit anzupacken und die Hilfsgüter über die Grenze zu bringen. Wie sich herausstellen sollte, riskierten sie dabei ihr Leben: In gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der venezolanischen Nationalgarde starben mindestens vier Menschen, weitere 300 wurden verletzt.
Freitag, 22.02.2019: Das “Venezuela Live Aid”-Konzert
Anderson Rico (42), Straßenverkäufer
Anderson Rico sitzt am Rand der Straße, die auf das Konzertgelände führt, und verkauft – wie hunderte andere Händler – Hüte, Fahnen und Bananen. Neben ihm ist ein zehnjähriger Junge namens Brian genauso gekleidet wie Anderson Rico und spielt mit einer Hupe. Die beiden wirken wie Vater und Sohn, aber Anderson Rico erzählt, dass sie sich erst heute kennengelernt hätten. Aber hier seien sie alle wie eine große Familie.
VICE: Warum bist du heute nach Cúcuta gekommen?
Anderson Rico: Wegen der humanitären Hilfe, die alle in Venezuela so dringend brauchen. Es fehlen Medikamente und Lebensmittel. Es braucht Veränderungen. Die extreme Armut ergibt keinen Sinn, weil wir eigentlich ein reiches Land sind. Heutzutage muss man in Venezuela plündern, um zu überleben. Ja, schreib das ruhig so auf: plündern.
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Was hältst du von dem Konzert? Bringt so etwas wirklich Veränderungen?
Eigentlich ist das Konzert nur eine Ablenkung. Es soll uns das Leid in unserer Heimat vergessen lassen, uns alle zusammenbringen und uns dazu motivieren, für Veränderungen zu kämpfen. Mal sehen, was morgen passiert, wenn es wirklich darauf ankommt.
Wie denkst du über Juan Guaidó und Nicolás Maduro?
Ich setze alle meine Hoffnung auf Guaidó. Er ist wie ein Schlüssel für die Tür zu einem anderen Weg, dem richtigen Weg.
Brian: Er muss die Veränderungen bringen, die Venezuela braucht.
Anderson Rico: Maduro hingegen ist ein Arschloch. Er denkt nur an sich selbst und nie an die Menschen, die leiden.
Brian: Stimmt. So denken auch meine Familie und meine Freunde. Jeder denkt so.
Lisbet, 21, Bananenverkäuferin
Zusammen mit ihrer einjährigen Tochter Marsole hört Lisbet dabei zu, wie Reymar Perdomo, ein venezolanischer Migrant und Internet-Star, das Konzert mit seinem Lied “Me Fui” eröffnet. “Dieser Song bedeutet der Bevölkerung Venezuelas sehr viel”, erzählt Lisbet einige Minuten später. “Darin geht es darum, wie weh es tut, Venezuela zu verlassen. So viele Leute haben schon darüber nachgedacht, genau das zu tun.”
VICE: Hast du auch schon überlegt, aus Venezuela wegzugehen?
Lisbet: Natürlich. In Venezuela gibt es nichts mehr. Dort verdiene ich mit meinen Bananen an einem Tag höchstens 10.000 kolumbianische Pesos [knapp drei Euro]. Davon kann ich mir dann maximal zwei Pfund Reis und zwei Pfund Mehl kaufen. Zu Hause ist die Situation richtig kritisch: Die Leute sind krank und sterben. Gerade die Kinder sind unterernährt. Ich bleibe eigentlich nur wegen meiner Tochter. Wir brauchen die humanitäre Hilfe wirklich dringend.
Was bedeutet es dir persönlich, heute hier zu sein?
An diesem Wochenende geht es um die Befreiung Venezuelas. So viele Menschen sind hier zusammengekommen, um Maduro loszuwerden. Sein Regime hat unserem Land so viel Leid gebracht. Sie haben uns alles genommen. Deswegen wollen wir Maduro heute vereint zu verstehen geben, dass seine Zeit vorbei ist. Und morgen bringen wir zusammen die Hilfsgüter in unser Land.
Danny Ocean, 26, Sänger
Danny hat ein breites Grinsen im Gesicht. Er hat gerade seinen Hit “Me Rehúso” vor über 300.000 Menschen performt. Auf seinem Shirt ist Nelson Mandela mit einem Arepa in den Händen abgebildet. Der Sänger stammt aus der venezolanischen Hauptstadt Caracas, hat das Land jedoch 2015 verlassen.
VICE: Du kommst ursprünglich aus Venezuela. Was bedeutet es dir, heute bei diesem Konzert auftreten zu können?
Danny Ocean: Als Musiker mache ich genau für solche Momente Musik. Es ist wichtig, die eigene Heimat und die Menschen dort zu unterstützen. In Venezuela gibt es viel Leid. Deshalb bin ich froh, etwas dazu beitragen zu können, dass den Menschen geholfen wird.
Was erhoffst du dir von diesem Wochenende und diesem Konzert?
Ich hoffe, die Leute in Venezuela erkennen, dass wir alle zusammenkommen können, um die derzeitigen Zustände zu verändern. Bei dem Konzert geht es darum, Bewusstsein für die Situation zu schaffen und Menschen zusammenzubringen. Politik spielt da erstmal keine Rolle. Ich will den Leuten hier einfach eine Freude machen und ihnen aufzeigen, dass wir alle zusammen unserem Land helfen können.
Samstagmorgen, 23.02.2019: Auf der Tienditas-Brücke zwischen Kolumbien und Venezuela
Jose, 45, Schauspieler
Jose steht inmitten der großen Menschenansammlung, die sich schon Stunden vor Beginn der eigentlichen Aktion an der Tienditas-Brücke gebildet hat. Er hat sich als der südamerikanische Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar verkleidet und wird deshalb oft bejubelt. Die Menge wirkt an diesem Morgen richtig energiegeladen, überall sind laute Rufe nach Freiheit und einem freien Venezuela zu hören.
VICE: Warum willst du heute beim Transport der Hilfsgüter mithelfen?
Jose: Ich liebe mein Land und will nur das Beste für Venezuela. Wir müssen das Joch beenden, das uns umbringt.
Wieso hast du dich als Simón Bolívar verkleidet?
Bolívar verkörpert den Traum von Großkolumbien, also der Befreiung und Vereinigung von Kolumbien, Panama, Bolivien, Ecuador und Venezuela. Die derzeitige Regierung hat das Vermächtnis Bolívars zerstört. Bolívar war ein Befreier, Maduro ist ein Diktator. Anstatt uns zu vereinen, bringt er uns auseinander und zerstört die Nation.
Was erhoffst du dir für die Zukunft Venezuelas?
Ich hoffe, dass wir ab heute weiter nach vorne marschieren und dass Venezuela bald frei ist. Vielleicht passiert das heute, morgen oder irgendwann demnächst. Die Karten sind verteilt, auf dem Spiel steht unsere Freiheit.
Elisabeth, 64
Die im Rollstuhl sitzende Elisabeth wartet zusammen mit vielen anderen Venezolanern und Venezolanerinnen auf weitere Instruktionen zum Transport der Hilfsgüter. Zwar zieht sich die Aktion mehrere Stunden hin, aber die Menge wird mit motivierenden Reden bei Laune gehalten. Während jemand über die zum Greifen nahe Freiheit spricht, fängt Elisabeth an zu weinen.
VICE: Was glaubst du, wird heute passieren?
Elisabeth: Sie werden die Grenze öffnen, damit die Hilfe in unser Land kommen kann. Irgendwie spüre ich das. Ich leide an Krebs und bin aus Venezuela weg, weil ich dort nicht behandelt wurde. Dort verweigern sie einem das Recht auf medizinische Versorgung. In Venezuela war der Krebs noch im Anfangsstadium. Wegen der fehlenden Behandlung hatte er sich bei meiner Ankunft in Kolumbien bereits auf andere Organe ausgebreitet. Jetzt will ich nur, dass es die Hilfsgüter über die Grenze schaffen. Nur so kann anderen Leuten geholfen werden, bevor es zu spät ist.
Samstagnachmittag, 23.02.2019: Auf der Simón-Bolívar-Brücke zwischen Kolumbien und Venezuela
Sara, 26, Zahnärztin
Sara blickt auf die Zufahrt zur Simón-Bolívar-Brücke, auf der sich freiwillige Helfer und Helferinnen den ganzen Tag über heftige Auseinandersetzungen mit der venezolanischen Nationalgarde geliefert haben. Während im Hintergrund die letzten Kampfgeräusche zu hören sind, bedeckt Sara ihren Mund und ihre Nase mit der Flagge Venezuelas. Es hängt immer noch Tränengas in der Luft.
VICE: Was ist heute auf der Brücke passiert?
Sara: Wir haben es nicht geschafft, die Hilfsgüter ins Land zu holen. Viele Menschen wurden durch das Tränengas und die Gummigeschosse verletzt. Jeder hat so hart gekämpft, wie er oder sie konnte, damit wir alle frei sein können.
Ist es all das deiner Meinung nach wirklich wert?
Wie schon meine Mutter sagte: Wenn ich nicht für mich und meine Zukunft kämpfe, wer dann? Morgen sind wir wieder hier. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben.