Popkultur

Menschen beichten: Was wir viel zu spät das erste Mal gemacht haben

Es ist nie zu spät, um etwas anzufangen. Definitiv nicht dafür, Klavierspielen zu lernen; nicht dafür, einem Menschen doch noch mal zu schreiben; nicht dafür, sich mit seiner eigenen oder einer anderen Klitoris auseinanderzusetzen; nicht dafür, zum ersten Mal vom 3-Meter-Brett zu springen; nicht dafür, sich über Politik zu informieren.

Trotzdem ist es uns grundpeinlich, Dinge zu spät zu machen. Das klassische Beispiel: die späte Jungfrau. Im Interview sagte uns Wolfram Huke, der bis 30 ungeküsst und Jungfrau blieb: “Die große Angst ist ja, von anderen Leuten als ein ganz armes Würstchen angesehen zu werden.” Wir haben so viel Angst, unsere Unerfahrenheit zu entblößen, dass es immer schwieriger wird, anzufangen.

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Aber dann quälen wir uns ewig mit Fragen: Wie wäre es, hätte ich doch mal Klavier gelernt; wie, hätte ich ihm doch noch einmal geschrieben? Reue, Stillstand, quälende Ungewissheit, oder: Wir fangen einfach an. Über peinliche erste Versuche lässt sich im Nachhinein wenigstens lachen.

Hier sind vier Geschichten von Dingen, die wir spät zum ersten Mal gemacht haben:

Sofia, 20: Ich habe mit 20 zum ersten Mal eine Schleife gebunden

Versuch Nummer drei | Foto: Lisa Ziegler

“Du machst eine Schlaufe.” OK, OK, ich schaff das.

“Dann legst du den Schnürsenkel einmal hier rum.” Hä? Wie rum?

“Hier durchziehen und fertig.” Ah, das ging viel zu schnell.

“Jetzt du.” Hilfe.

So war mein erstes Mal Schleifebinden. Es war heute. Mit 20.

Könnt ihr euch vorstellen, dass jemand fünf Jahre im Fußballverein spielt, aber seine Stollenschuhe nicht richtig binden kann? Ich bin dieser jemand. Vor jedem Spiel und vor jedem Training band mir mein Stiefvater unauffällig am Feldrand eine Doppelschleife. Wenn die aber auf dem Platz aufging, kam ich ins Schwitzen. Ich beugte mich herunter, formte konzentriert beide Schnürsenkel zu Schlaufen und knotete sie irgendwie zusammen. Wegen der Panik (und der Erfahrung), dass mein Konstrukt gleich wieder aufgehen wird, knotete ich die beiden Schlaufen dann noch mal fest zusammen, während schon die ersten Sprüche kamen wie: “Hey, was brauchst du so lange?” Damals waren wir zehn, und keine Schleife binden zu können, war mir echt peinlich.


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Mittlerweile bin ich 20 und konnte bis vor wenigen Minuten immer noch keine richtige Schleife. Um eines gesagt zu haben: Meinen Eltern mache ich keinen Vorwurf. Ich bin selbst schuld, weil ich mich in der Grundschule verweigerte, es mir beibringen zu lassen und lieber mein Knotengeschwür perfektionierte, statt es richtig zu lernen.

Aber kommen wir zur Sache: Mir gegenüber sitzt jetzt also meine Chefin, auf einem Stuhl über uns meine Kollegin mit Schnürschuhen, vor mir unsere Fotografin. Ich fühle mich genauer beobachtet als in dem Moment, in dem man in der Schule an der Tafel stand. Konzentration.

Sechs Augen blicken mich an, während ich versuche—und kläglich scheitere. Am Ende halte ich wieder zwei einzelne Schnürsenkel in der Hand. Zwei weitere Versuche enden ähnlich. Ich verfluche kurz das Schulsystem. Dass ich auf Italienisch über Mülltrennung sprechen kann, hilft mir jetzt auch nicht. Dann überwinde ich mich ein weiteres Mal. Unter Handführung durch meine Chefin binde ich beim dritten Versuch meine erste richtige Schleife. Als ich es eine Stunde später wieder alleine versuche, geht es immer noch.

Laura, 33: Führerschein mit fast 30

Die Autorin in einer nachgestellten Szene. Bei ihren tatsächlichen Theoriestunden war sie nicht so fleißig. Collage: Lisa Ziegler | Fotos: conticium | Flickr | CC BY 2.0; US Department of Education | Flickr | CC BY 2.0; audiolucistore | Flickr | CC BY 2.0; Norton Gusky | Flickr | CC 2.0

Als ich mit 29 durch meine erste Führerscheinprüfung gefallen bin, habe ich es fast niemandem erzählt. Das ist der Vorteil, wenn man als Erwachsener den Führerschein macht. Man ist niemandem mehr Rechenschaft schuldig. Niemand meckert, wenn es richtig teuer wird.

Als ich zum ersten Mal einen Zündschlüssel umdrehte, war ich so alt, dass ich mich bereits mit meiner Altersvorsorge beschäftigt habe. Mit 18 hätte ich meinen Führerschein selbst bezahlen müssen. Ein faules Schülerleben ohne Nebenjobs war mir wichtiger. Erst als ich dann einen Job hatte, bei dem ich zu Terminen in die hintersten Winkel des Landes musste, merkte ich: Ohne Auto geht es nicht.

In dem halben Jahr zwischen meiner ersten Fahrstunde und meiner zweiten Prüfung (die habe ich dann bestanden) war mein Fahrlehrer Thomas nach meinem Freund der wichtigste Mann in meinem Leben. Mit keinem habe ich mehr Zeit verbracht. Er hat mir die beste Eisdiele Ostberlins gezeigt. Bei meiner Überlandfahrt sind wir über die Grenze nach Polen gefahren, damit er sich billige Zigaretten kaufen konnte.

Ich habe mich nicht getraut, Thomas zu erzählen, dass all seine Bemühungen nur bedingt gefruchtet haben. Zwei Wochen vor Ablauf meiner Probezeit bin ich über eine rote Ampel gefahren. Ich musste zu einem Aufbauseminar für Fahranfänger. Fünf Abende lang saß ich zwischen 19-jährigen Rasern und wir mussten uns gegenseitig beichten, warum wir uns nicht an Regeln halten. Das Ganze kostete mich insgesamt fast 400 Euro und meine Probezeit wurde um zwei weitere Jahre verlängert. Ich bin jetzt 33. Wenn ich es schaffe, die nächsten vier Wochen nicht über eine rote Ampel zu fahren, habe ich meine Probezeit bestanden.

Wlada, 30: Ich habe mit 24 meine erste Zigarette geraucht

So versuchte Wlada, eine Zigarette anzuzünden | Foto: Lisa Ziegler

Meine erste Raucherkarriere begann an einem Juninachmittag nach dem Sportunterricht und war zwei Züge später vorbei. Die Lungen krempelten sich nach außen um; der Magen drohte, dasselbe zu tun; die Jungs aus der Oberstufe lachten. Ich hustete bestimmt drei Minuten lang und wurde aus Angst, mich noch einmal bei Rauchversuchen zu blamieren, ein militanter Nikotingegner. Zehn Jahre lang erzählte ich jedem Raucher ungefragt, dass eine Zigarette das Leben um elf Minuten verkürze.

Dabei habe ich sie ein bisschen beneidet. Um dieses Knistergeräusch, wenn das Papier vor sich hin glimmt. Um die Zigarette danach. Um Raucherpausen. Um Kaffee und Kippchen. Ich mochte sogar den Geruch des frischen Rauchs und wie Menschen schmeckten, die gerade geraucht haben. Am liebsten hätte ich das wieder ausprobiert, aber irgendwann schien es, als sei der Zug abgefahren. Nach 20 fängt kein klar denkender Mensch mehr an zu rauchen, oder?

Ich stellte mir vor, wie ich in einem Club nach einer Zigarette frage und wieder drei Minuten durchhuste. Was noch viel peinlicher wäre als damals in der achten Klasse. Im dritten Semester habe ich auf der Wiese vor der Uni eine Kippe von einem Rauchergrüppchen geschnorrt. Ein Kerl sagte: Brauchst du auch Feuer? Ich nickte und streckte meine Hand mit der Zigarette in Richtung seines Feuerzeugs. “Ähh, du musst die Zigarette schon an den Mund halten”, sagte er. Großes Lachen. So, dachte ich, das war’s. Aus mir wird nie ein Raucher.

Aber dann, mit 24, fuhr ich mit meinem damaligen Freund zelten. Abends lagen wir an einem einsamen Strand: der Sternenhimmel, wir zwei und eine Packung Zigaretten. Er brachte es mir nach allen Regeln der Kunst bei, mit “Uch, die Mama kommt” und einigermaßen elegant abaschen. Zwei Tage später hielt ich meine Zigarette zwar immer noch wie ein Teenager und hatte nach jeder Kippe einen Nikotinflash, paffte aber bei jeder Gelegenheit. Ich wollte alles aufholen, was ich in vergangenen zehn Jahren verpasst hatte!

Zwei Wochen später machte ich mir Sorgen, süchtig zu sein und rauchte nur noch auf Partys. Und nach dem Mittagessen. Und an lauen Sommerabenden. Und …

Meine zweite Raucherkarriere hielt zwei Jahre lang. Dann bekam ich eine chronische Mandelentzündung und bildete mir ein, plötzlich Fältchen zu entdecken, die vorher nicht da waren. Das erschien mir ein zu hoher Preis dafür, wie ein cooler Achtklässler zu sein.

Luca, 24: Ich habe mit 16 zum ersten Mal eine Rückwärtsrolle gemacht

Turnen habe ich schon immer gehasst. Ich konnte HipHop tanzen, im Armdrücken habe ich auch nicht komplett versagt, aber wenn wir im Schulsport die Matten rausholen sollten, stellte mein Körper auf “kein Bock”.

Bis zu meinem 16. Lebensjahr war meine Verweigerung nicht weiter schlimm. Unser Sportlehrer stand kurz vor der Rente, ihm war alles egal. Sprich: Wir machten die Übungen (oder auch nicht)—und am Ende durften wir uns selbst dafür bewerten. Ich gab mir immer eine 2 für die Turnübungen, die ich nicht machte. Der Sportlehrer trug zweiteilige Trainingsanzüge mit Mustern aus den 80ern. Heute würde ich sagen, er war ein Atze. Alles war gut, bis er wirklich in Rente ging.

Seine Stelle übernahm ein junger Typ, der gerade erst von der Uni gekommen war. Übermotiviert und mit einem Lernkonzept. Schritt eins: auffrischen der Basics, unter anderem die Rückwärtsrolle. Das war mein Verhängnis, denn da gab es einfach nichts aufzufrischen. Ich hatte sie einfach noch nie gemacht. Als einziger in der Klasse.

Es war nicht so, dass die anderen mich dafür ausgelacht hätten. Wir fanden den übermotivierten Lehrer kollektiv scheiße und machten uns nicht auch noch gegenseitig fertig. Das half mir allerdings auch nicht aus der Situation heraus. Ich musste die Rückwärtsrolle unter strengen Blicken von Mr. Motiviert immer wieder versuchen. Jedes Mal, wenn ich wieder auf der Seite landete, wurde es mir unangenehmer. Ich fühlte mich wie ein Pinguin, den man zwingt, einen Spagat zu versuchen. Irgendwann rettete mich mein Kumpel: Er fasste mir mit beiden Händen an den Arsch und schubste mich hinten über. Ich war einfach froh, es hinter mich gebracht zu haben.

Meine Note fürs Turnen ist trotzdem auf eine Drei gerutscht.

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