Am Anfang sei er einfach durch St. Pauli spaziert, um seine Visitenkarten zu verteilen, sagt Tim Oehler: “Das hat gar nicht funktioniert.” Inspiriert von einer Pariser Ausstellung über historische Bilder von Sexarbeit hatte sich der Hamburger Fotograf vorgenommen, mit seiner Kamera selbst Sexarbeitende zu porträtieren. Wie ging es den Menschen in Hamburgs Rotlichtviertel, die der Lockdown vorübergehend zur Arbeitslosigkeit verdammt hatte? Einen Zugang zu dieser ihm verschlossenen Welt habe er jedoch erst über den BesD gefunden, den Berufsverband erotische & sexuelle Dienstleistungen e. V..
Dort traf das Konzept des 49-Jährigen auf offene Ohren: Er wollte die Menschen nicht nur in ihrem Arbeitsumfeld fotografieren, sondern auch ganz privat. Und er wollte denen, über die viel geredet wird, aber wenig mit ihnen, die Möglichkeit geben, von ihrem Beruf zu erzählen. Um das Stigma zu hinterfragen, das immer noch auf Sexarbeit liegt – und die manchen Menschen noch immer nicht als normale Arbeit gilt.
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Herausgekommen ist das Fotobuch Sex-Workers – Das ganz normale Leben, erschienen im Sommer bei Ginko Press. Auf fast 300 Seiten dokumentiert es die Ergebnisse von Oehlers Deutschlandreise, die er im Oktober 2020 begann. “Wir verabredeten uns in SM-Studios, Appartementwohnungen, verschiedensten Hotels, in einer Fetisch-Klinik, in einem Strip-Club, in Tantra-Studios, in Arbeitswohnungen, Wohnungsbordellen und in den privaten Wohnungen oder Umfeldern”, schreibt er in seinem Buch.
Die Möglichkeit all diese Menschen kennenzulernen und zu fotografieren, nennt er ein Privileg. Und klar, auch die Teilnehmenden seien privilegiert, frei entscheiden zu können, an so einem Kunstprojekt teilzunehmen: “Viele in der Sexarbeit Arbeitende haben diese Möglichkeit nicht, weil sie existenziellere Nöte haben, als an einem Fotoprojekt teilzunehmen. Und das ist die Mehrheit. Trotz dieser Tatsache ging es darum, denen eine Plattform zu geben, die im Rahmen dieses Kunstprojektes mitwirken wollten und konnten. Offenheit ist das, was sie aus meiner Sicht alle eint. Das zumindest glaube ich. Und deshalb ist es für mich nicht nachvollziehbar, weshalb man ihnen nicht zuhört”, schreibt Oehler.
Und so bietet Sex-Workers einen spannenden Einblick, ohne sich ein abschließendes Urteil zu erlauben. Stattdessen lässt es die Menschen selbst zu Wort kommen in Texten und Foto-Porträts, von denen wir hier einige zeigen.
Ferdinand Krista
“Grenzenloser Reichtum, dekadente, ausschweifende Veranstaltungen der hedonistischen Elite, geheime Welten voller exzessivem Glanz, all das gehört nicht zu meinem Arbeitsalltag. Wenn ich die Gründe meiner Berufswahl zusammenfassen soll, dann komme ich zu einem profanen Schluss: Moneten machen, ohne mich von Menschen gängeln zu lassen, die mir zähneknirschend die Gnade des Mindestlohnes erweisen und dafür über einen Großteil meiner Tageszeit bestimmen wollen.
Weitere positive Aspekte: Ich arbeite meist, wenn es dunkel ist. Das kommt meinem eigenen Rhythmus entgegen. Es ist völlig in Ordnung, bei der Arbeit auch mal zu trinken. Das kommt meinen Bedürfnissen entgegen. Die Anzahl an Kunden ist überschaubarer als in anderen Dienstleistungsbereichen des Niedriglohnsektors. Das kommt meiner Misanthropie entgegen. Unterm Strich überwiegen für mich damit die Vorteile. Und das Wichtigste: Mir bleibt bei diesem Job mehr Zeit, um häufiger das zu tun, was ich wirklich will: dekadente, ausschweifende Stunden voll exzessivem Glanz in der Kneipe meiner Wahl zu verbringen.”
Mia Elysia
Verkaufe ich meinen Körper?
“Es geht doch um so viel mehr in meiner Arbeit als Escort – weit über die Befriedigung sexueller Bedürfnisse und Fantasien hinaus. So erlebe ich mich durch und über meinen Körper als Muse, Inspiration, in unterschiedlichsten Rollen …
Mein Körper erlebt sich durch mich als Lustgarten: hingegeben, frei und spielerisch.
Tiefe Erfahrungen, grenzwertige Erfahrungen, Neuland … Gemeinsam erlebte Magie.
Bin ich Objekt der Begierde oder selbst die Begehrende? Fantasie jenseits des Alltags, Intensität, Leidenschaft und Feuer – einzigartige Erfüllung.
Frei nach Anaïs Nin: Es mischen sich in diese hautnahen Begegnungen wundervolle Momente der Rührung, es fließen Tränen der Freude, befreiendes Gelächter, zärtliche Worte … Versprechungen.
Ein Geschenk der immer neuen Gesichter, der offenbarten Träume, einzigartiger Lebensgeschichten, Lebensweisheit und Philosophie, grenzenlos mutige Fantasie, ein gemeinsamer Tanz mit köstlichem Wein und Musik.
Begehrt und beschenkt zu werden: mit kostbarem Parfum … duftenden Ölen …
Champagner – in echter Wertschätzung gemeinsam das Leben und die Liebe über den Körper feiern. Was Schöneres könnte ich über meinen Körper erfahren als das? Was fühlst Du? Verkaufe ich meinen Körper?”
Mia Rose
“Freiheit. Nein sagen. Viel Geld verdienen. Warten. Ganze Zimmer voll Warten. Kein Geld verdienen. Guter Sex. Und Bäuche. So viele Bäuche. Gespräche mit interessanten Menschen. Sie näher kennenlernen, und manchmal als Kunden auch wieder verlieren. Kommen um zu gehen. Ehemänner. Alle Männer scheinen Hans zu heißen. Sie kommen auf schweren Füßen, die es ihnen anscheinend verunmöglichen, andere Wege zu gehen. Ihre Herzen? Vielleicht ein anderes Mal.
Telefonate. Mehr Anfragen als Zusagen. Selbstverständlich. Ruhig alles anhören. Morgens um 2 Uhr: ‘Hey, was geht ab? Was machst du gerade?’ Antworten werden überschätzt! ‘Ich gucke gerade einen Lesbenporno und masturbiere dabei mit meinem Megadildo.’ Oder lieber die Wahrheit?
Oft lese ich. Vorzugsweise Sibylle Berg. Oder schwimme im nahe gelegenen See, auch im Dezember. Oder ich tanze, gerne in Clubs. Yoga und Kickboxen in einem feministischen Verein. Meine weibliche Welt, ohne cis-Männer.
Die Freiheit zu reisen und zu arbeiten, an so vielen Orten. Weltweit. Mein Hurenpass macht vieles möglich. Auch registriert zu sein. Begehrt werden und verbale Gewalt am Telefon. Freiheit der Gefahr. Wir unterstützen uns: Covern nennt sich das. Trotzdem. Ich hatte bisher Glück. Transsein provoziert zusätzlich.
Berührung. Die erste Sprache, die wir Menschen auf dieser Welt lernen und intuitiv verstehen. Berührung ist so wichtig! Sie schafft Vertrauen, baut Spannungen ab, reduziert Stress. Menschen brauchen Menschen. Oxytocin ausschütten. Sicherlich auch andere Hormone. Glücksgefühle verteilen. Und der Geschmack von Latex. Ich schütze mich. Und esse Pistazien. Nicht systemrelevant, aber gefragt, begehrt, verachtet. Wir werden gebraucht. Anders leben. Eine Rolle spielen. Ich sein, und aus der Rolle fallen. Eine Andere. Viele Andere. Sein. Hure sein. Die Welt ein Stück besser machen. Tagtäglich. Die Freiheit nehme ich mir. Denn: Freiheit ist Heilung!”
Andrada
“Ich mache diesen Job sehr gern. Ich habe Spaß bei dieser Arbeit. Ich möchte von Deutschland nicht weggehen. Ich möchte gern in Deutschland bleiben. Ich möchte die ganze Familie herbringen, aber das ist schwer. Ich besuche meine Familie regelmäßig. Auch meine Tochter. Wenn ich fünf Tage da bin, freue ich mich am Anfang und dann werde ich ganz traurig, weil ich wieder weg muss. Die Familie vermisse ich sehr. Eigentlich lache ich viel. Ich bin einfach so. Ich unterstütze meine Familie auch und schicke ihnen Geld. Meine Mama hat keine Arbeit und die Rente reicht nicht. Für meine Tochter brauche ich Schulgeld und Geld für Klamotten und so. Ich habe viele Kolleginnen hier. Das ist eine Art Ersatzfamilie.
Die Sexarbeit in Rumänien lohnt sich nicht. Die zahlen zu schlecht. Ich habe auch als Schneiderin drei Jahre gearbeitet. Das kann ich auch gern hier machen, aber ich würde schon immer auch nebenbei Sexarbeit machen. Das bringt einfach mehr. Wenn Du einen Kunden hast, der 1.000 Euro für ein paar Stunden bezahlt, lohnt sich das mehr.
Viele Kunden wollen auch nur massiert werden oder reden, trinken und rauchen. Unterhalten wollen sich viele. Die kommen nicht immer nur zum Sexmachen. Es kommen auch viele Leute zum Spielen. Diese Dominanz-Spiele. Das mache ich auch gerne. Brutal nein, aber mit Worten ja. Ich war auch schon mit einem Kunden im Urlaub. Der Mann ist 66 Jahre alt und er hat mich eingeladen. Der wollte gar keinen Sex haben. Der wollte nur begleitet werden. Er hatte mich als junge Dame dabei und wenn die Leute sich umgedreht haben, hat ihn das gefreut. Er hat mich auch immer gefragt, ob ich etwas möchte. Sachen oder Souvenirs.
Normalerweise sitze ich ab 10 Uhr in meinem Fenster. Bis 3 Uhr morgens. Einige Kunden machen Termine und kommen dann nicht, und manchmal muss ich auch ganz schön lange warten, bis ein Kunde kommt. Ich wohne auch nah an meinem Arbeitsplatz und mache zwischendurch auch Pause. Bisschen essen und mit meinem Hund spielen. Ich mache auch gern Hausbesuche. Das macht mir mehr Spaß, als hier lange zu sitzen und zu warten. Das ist auch etwas besser bezahlt. Was ich verdiene, ist auch meins.
Meine Familie weiß auch, was ich mache. Ich bin ein offener Mensch. Viele Frauen aus Rumänien verstecken ihre Arbeit. Ich nicht. Ich sage, dass ich im Puff arbeite. Ich schäme mich nicht dafür. Für mich ist das normal. Ich war auch schon in England und Österreich zum Arbeiten. In Österreich habe ich in einer Bar gearbeitet und da musste ich viel trinken. In England war ich Putzfrau. Aber da habe ich privat auch Sexarbeit gemacht. Dir kann keiner sagen, was du im Leben machen sollst. Du machst das, was dir Spaß macht. Mir macht das Spaß und gutes Taschengeld gibt es auch. Ich fühle mich gut so.”
Ulrike
“An meinem ersten Arbeitstag im Bordell habe ich mit mehr Männern geschlafen als in meinem bisherigen Leben. Das hat sich ziemlich gut angefühlt – die vielen Komplimente, die intensiven Gespräche, der abwechslungsreiche Sex und das viele Geld. Davon hatte ich vorher zu wenig. Hätte ich gewusst, wie gut der Beruf zu mir passt, hätte ich eher angefangen. Ich ließ mich abhalten wegen der gesellschaftlichen Abwertung.
Erst neulich las ich wieder in einem Interview über eine Kollegin, sie sähe gar nicht aus, wie man sich eine Prostituierte vorstelle. Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört – gern würde ich einmal lesen, ‘sie sah aus, wie ich mir eine Sexarbeiterin vorstelle, wie ein ganz normaler Mensch.’
Normaler Mensch in normalem Beruf.
So mehr oder weniger normal wie andere Menschen und andere Berufe. An jeder Arbeit, an jeder Person gibt es Punkte, die ‘komisch’ sind.
Für mich habe ich beschlossen, Sexarbeit als ‘ganz normalen Job’ zu sehen und danach zu handeln. Wahrscheinlich bin ich eine der bürokratischsten Huren in NRW. Für meine Kunden führe ich eine ordentliche Kartei mit den wichtigsten Daten, um zum Beispiel an den Geburtstag eines Stammkunden zu denken, meine Buchhaltung und Notizen werte ich regelmäßig statistisch aus, um zum Beispiel den lukrativsten Wochentag festzulegen (was leider zu keinem Ergebnis führte) und für meine ehemalige Chefin schrieb ich ein Kündigungsschreiben und hielt eine Kündigungsfrist ein.
Neben diesen formalen Sachen mag ich den Job als Sexarbeiterin, weil ich den Menschen auf eine sehr spezielle Art ganz nahe komme. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig.
Über Stammkunden erfahre ich viel, einige haben großes Vertrauen zu mir. Manchmal werden mir sehr intime Geheimnisse anvertraut. Das berührt und ehrt mich. Die Kombination von Sex und Gespräch mit einer Person außerhalb des privaten Bereichs schafft wohl diese ganz besondere Atmosphäre, in der das möglich ist, und erreicht eine ganz besondere Entspannung.
In dem ersten Bordell, in dem ich anfing, gab es neben dem ‘zärtlichen Bereich’ auch ein Domina-Studio, da waren ganz andere Fähigkeiten gefragt. Mir fiel es schwer, Kunden auf Wunsch zu demütigen oder Schmerzen zuzufügen. Und als Domina mitleidig nachzufragen, ob es noch ginge, war einfach nicht gut. Besser bin ich im Telefonsex. Ich phantasiere dem Kunden sehr explizite sexuelle Situationen – die Anregungen suche ich mir aus erotischen Büchern. Und ich bereite mich auf das Gespräch vor – ich stelle meine Klingel aus, hole mir etwas zu trinken und schlage meine ‘Ideen-Bücher’ vor mir auf.
Ich habe weitere Tätigkeiten, mit denen ich Geld verdiene. Aber das Verhältnis zwischen Aufwand und Verdienst und Selbstverwirklichung ist in der Sexarbeit für mich das gesündeste. Deshalb gilt für mich – ‘Einmal Hure, immer Hure’ :-)”