Den ersten Sex haben die meisten irgendwann als Teenager. Tendenziell eher später als früher, aber irgendwann verlieren fast alle ihre Jungfräulichkeit: Schätzungen zufolge hatten 95 bis 98 Prozent der Erwachsenen in Deutschland mindestens einmal Sex. Verlässliche Zahlen gibt es natürlich nicht. Aber es gibt definitiv Menschen, die auch jenseits der 20, 30 oder 40 noch Jungfrau sind, und für die ist das häufig sehr belastend – dreht sich in unserer Gesellschaft doch gefühlt ständig alles um Sex. Das Stigma der Jungfräulichkeit ist groß.
Wenn es thematisiert wird, dann meistens, um sich über diese Menschen lustig zu machen. Selten allerdings hören wir von den echten Jungfrauen, wie es ihnen damit geht. Einige von ihnen haben ein kompliziertes Verhältnis zu Sex. Die Gründe dafür sind vielfältig: psychische Probleme, Trauma oder Religion. Für andere hat Sex schlicht keine Priorität.
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Hier sagen uns fünf Menschen im Alter zwischen 19 und 52, warum sie noch keinen Sex hatten und wie es ihnen damit geht.
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Alan, 19: “Ich bin keiner von diesen Incels, die den Frauen die Schuld dafür geben.”
Bis ich 16 oder 17 war, habe ich zwischenmenschliche Signale nicht verstanden und wusste nicht, wie man sich in sozialen Situationen verhält. Ich habe Autismus. Ich stottere stark. Es sieht nicht gerade gut aus, wenn ich mich nicht unterhalten kann, ohne zu stottern und über meine Worte zu stolpern.
Ich bin bisexuell, aber Gefühle hatte ich immer nur für Frauen. Wenn ich eine Partnerin oder einen Partner hätte, würde ich wollen, dass meine Erfahrungen mit dieser Person für uns beide sowohl sexuell als auch romantisch erfüllend sind – und wir nicht nur mit dem Körper des anderen masturbieren. Ich mag Pornografie nicht wirklich und auch nicht diese moderne Vorstellung, Sex nur um des Sexes willen zu haben. Ich schätze, ich habe das schon immer als eine Verbindung zwischen zwei Menschen gesehen.
Ich habe diese Angst, dass ich irgendwann 35 oder 45 bin und allein lebe. Ich wollte immer etwas haben, wenn ich sterbe, und ich will Kinder. Ich stelle mir gerne vor, in der Zukunft eine Beziehung zu haben – darin bin ich eine Art idealisierte Version meiner Selbst. Wenn ich Menschen sehe, die diese Erfahrungen machen, und ich selbst nicht, fühle ich mich, als hinge ich hinterher.
Ich bin keiner von diesen Incels, die den Frauen die Schuld dafür geben. Das Problem liegt bei mir. Für mich ist es einfach schwer, mit Menschen zu reden, für die ich Gefühle habe. Ich glaube, dass ich irgendwann jemanden finden werde. Ich bin kein Miesepeter. Ich fühle mich auch gar nicht so einsam. Ich spüre Gefühle sehr intensiv, aber ich kann sie nicht ausdrücken. Eine meiner ständigen Sorgen ist, dass ich jemanden mag, aber das der Person nicht sagen kann.
Emma, 25: “Für manche ist es ein Dealbraker. Und das ist fair.”
Der Druck auf Frauen und Mädchen, Sex zu haben, wird uns von vielen unserer männlichen oder männlich gelesenen Mitmenschen eingetrichtert. Es wird einfach davon ausgegangen, dass man es macht. Aber ich mache das nach meinem eigenen Tempo. Ich will sichergehen, dass ich eine gute Zeit habe und es mit jemandem tue, dem ich vertraue. Was romantische Gefühle angeht, brauche ich meine Zeit. Da bin ich eher wie ein Schmorbraten, der acht Stunden im Ofen garen muss, und keine Tüte Mikrowellenpopcorn. Mir ist auch total egal, was andere darüber denken. Wenn ich irgendwann mal heiraten sollte, dann heirate ich. Wenn ich niemals heiraten sollte, dann ist das auch vollkommen OK.
Ich hatte schon einige Dates. Ich bin bisexuell und queer. Meine Dates waren also mit Männern, Frauen und jedem anderen Geschlecht. Meine Freunde machen Witze, dass ich hohe Ansprüche hätte, aber die sind nicht übertrieben hoch. Ich bin sehr speziell und das ist mir bewusst. Ich bin unabhängig und bevorzuge jemanden, der das auch ist. Ich bevorzuge eine Person, die Ziele hat.
Es ist schwer, zu daten und Menschen zu sagen: “Ich hatte noch nie Sex. Das wird also heute Nacht nicht passieren und es wird auch bei unserem nächsten Date nicht passieren. Das musst du respektieren.” Ich habe versucht, das sofort bei Dates zu sagen, und es hat nicht funktioniert. Männer sind dann richtig creepy geworden oder haben mich geghostet. Für manche ist es ein Dealbraker. Und das ist fair.
Ich könnte jetzt auf Tinder schreiben “Suche nach Hook-ups” und innerhalb von Minuten hätte ich Nachrichten. Das ist keine große Sache. Am Ende ist es eh alles ein soziales Konstrukt. Man kann gar nicht beweisen, ob jemand Jungfrau ist oder nicht.
Klaas, 31: “Wenn ich es nicht mit Escorts versuche, werde ich wohl für den Rest meines Lebens Jungfrau bleiben.”
Ich habe es mit Online-Dating probiert – Tinder, Bumble und sogar Facebook Dating – aber so gut wie keine Matches bekommen. Das Hauptproblem ist meine Sozialphobie. Ich meide Orte, an denen viele Menschen sind, und gehe selten auf Fremde zu oder komme mit ihnen ins Gespräch. Ich bin zwar als älterer Teenager in Bars und Clubs gegangen, aber habe mich dort immer fehl am Platz gefühlt. Mir war dort immer unwohl. Mein Aussehen hilft auch nicht gerade. Ich habe außerdem ein sehr geringes Selbstwertgefühl und so gut wie kein Selbstvertrauen. Ich neige zu selbstzerstörerischem Verhalten und habe mir selbst eingeredet, dass ich es gar nicht wert bin, eine Beziehung zu haben.
Es ist gut, über die Probleme anderer Menschen zu lesen. Aber insgesamt können Jungfrauen-Subreddits sehr deprimierend sein. Alle haben verschiedene Probleme. Einige wollen einfach nur Sex, andere wollen Intimität und sich begehrt fühlen. Andere machen ein großes Drama daraus, dass sie mit 16 Jungfrau sind. Für mich persönlich spielt es schon eine Rolle, dass ich noch nie Sex hatte, aber das ist nicht mein Hauptproblem. Es ist das Fehlen von Intimität, sich begehrt zu fühlen und generell die Einsamkeit.
Nur meine Eltern und mein Bruder wissen davon. Ich bin nicht gerade stolz darauf, Jungfrau zu sein, also behalte ich es für mich. Sobald man ein bestimmtes Alter erreicht hat, fragen einen die Leute nicht mehr danach oder gehen einfach davon aus, dass du schon mal Sex gehabt hast. Ich habe mir immer vorgenommen, dass ich, wenn ich mit 30 noch keinen Sex hatte, zu einer Escortdame gehen werde. Jetzt bin ich fast 32 und überlege immer noch, ob ich diesen Weg einschlagen soll. Manchmal denke ich, dass ich einfach einen Termin buchen und die Sache hinter mich bringen sollte. Vielleicht gibt mir das Selbstvertrauen und nimmt mir etwas von meiner Unsicherheit. Wenn ich es nicht mit Escorts versuche, werde ich wohl für den Rest meines Lebens Jungfrau bleiben.
Nigel, 44: “Ich weiß, dass es leicht ist, darüber Witze zu machen, aber ich fühle mich nicht wie ein totaler Loser.”
Alles andere in meinem Leben läuft gut: Ich bin finanziell solide aufgestellt, ich liebe meinen Job, ich habe viele Hobbys und kein Problem, neue Freundschaften zu schließen. Aber was Frauen angeht, habe ich wohl diese Vorstellung von dem, was Frauen wollen, zumindest körperlich, und ich glaube nicht, dass ich Eigenschaften habe, mit denen ich Chancen gegen andere Männer hätte. Rein rational betrachtet weiß ich, dass ich das Einzige bin, was mich zurückhält. Ich will einfach nicht durch ein Meer von Zurückweisungen waten müssen, um dorthin zu kommen.
Viele meiner Freunde sagten: “Ach, mach dir keine Sorgen, es wird schon passieren.” Ich habe einfach erwartet, dass es passiert, ohne mich selbst dafür anzustrengen. Die Tatsache, dass ich jetzt so alt bin, wie ich bin, und nicht diese Erfahrung gemacht habe, die für die allermeisten einen wichtigen Schritt zum Erwachsenenleben darstellt, führt dazu, dass ich noch viel weniger Selbstbewusstsein habe.
Ich beschütze meine Gefühle, indem ich Menschen von mir wegtreibe, bevor sie mich verletzen können. Ich weiß, dass man so etwas in der Regel mit einer kognitiven Verhaltenstherapie lösen kann und dass es am besten für mich wäre, mich meinen Ängsten zu stellen, indem ich es darauf ankommen lasse, mal einen Korb zu kriegen. In gewisser Weise fühle ich mich fast schon emotional verkrüppelt, weil ich diese Erfahrung noch nie gemacht habe.
Ich will nicht, dass mich meine sexuelle Unerfahrenheit als Person definiert. Ich weiß, dass es leicht ist, darüber Witze zu machen, aber ich fühle mich nicht wie ein totaler Loser. Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, die meisten Menschen fühlen sich wie die Hauptfigur in ihrer eigenen Story. Bei mir ist es das Gegenteil: Ich war immer die Nebenfigur für alle anderen um mich herum.
Michael, 52: “Ich habe nie gelernt, wie eine feste Beziehung funktioniert.”
Ich habe ein paar Dates und Partnerinnen gehabt, aber nichts davon hat länger als einen Monat gehalten. Ich habe schon mehreren Leuten gesagt: Sex kann ich auch mit mir selbst haben – was mir fehlt, ist die Verbindung zu einer anderen Person. Manchmal probiert man etwas aus und es klappt nicht. Man versucht etwas anderes und das klappt auch nicht. Das führt dann zu einem ganz neuen Frustlevel. Irgendwann sagst du dir: Ich bin es leid, meinen Kopf weiter gegen die Wand zu hauen, damit etwas passiert. Ich leide unter Depressionen und nehme Medikamente dagegen.
Irgendwann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Hauptziel von Dating-Apps und Webseiten ist, einsame Menschen um ihr Geld zu erleichtern. Also habe ich alle meine Profile gelöscht. Ich glaube nicht, dass ich ein Problem habe, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Mein Problem ist eher, dass ich nie gelernt habe, wie eine feste Beziehung funktioniert. Es ist etwas unheimlich. Du denkst, es würde dich nur bloßstellen. Ich weiß nicht, ob es da draußen die richtige Person gibt, die genug Geduld mit mir hat, wenn ich sage, dass ich nicht weiß, was ich machen soll.
Ich verstecke meine Jungfräulichkeit nicht unbedingt. Die meisten meiner Freunde sind verheiratet und haben Kinder. In diesem Alter geht man davon aus, dass andere Sex hatten. Das Thema kommt also nicht gerade häufig auf. In der Regel reden sie über ihre Karrieren, das Familienleben oder Kinder.
Es gab immer wieder Jahre, in denen ich mir gesagt habe: “Das ist das Jahr, in dem sich alles ändert.” Am Ende hat sich nie etwas geändert. Das alles kann zu Frustration, Depression und Frauenhass führen. Aber es wäre sehr ungerecht, wütend auf die Welt zu sein, oder zumindest die halbe Weltbevölkerung, nur weil ich nicht das kriege, was ich will.
Ich versuche, einfach von diesem Thema loszulassen und mir klarzumachen, dass ich an diesem Punkt in meinem Leben wahrscheinlich nicht mehr diese eine besondere Person finden werde. Ich sollte einfach versuchen, das Beste aus meinem Leben zu machen – so, wie das unter meinen Umständen eben geht.
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