Colin Oliphant aus Fife in Schottland wollte eigentlich nur mit seinen Freunden abhängen. Mit dem Erscheinen von William Richardson hatte er nicht gerechnet. Dem verurteilten Heroinschmuggler schuldete Kleindealer Oliphant umgerechnet 225 Euro. Am Ende bezahlte er mit seinem Leben: Nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung schlug Richardson mit einem Hammer so stark auf Oliphant ein, dass dessen Rippen splitterten und sich in seine Lungen bohrten. Richardson muss sich nun vor Gericht wegen Totschlags verantworten, berichtet die BBC.
In einem ähnlichen Fall verurteilte ein deutsches Gericht einen 24-Jährigen Dealer aus Weimar zu zehn Jahren und neun Monaten Gefängnis, wie die Thüringer Allgemeine schreibt. Er hatte seinem 18-jährigen Kunden ein Messer in den Hals gerammt. Der Streitgrund: 240 Euro Ausstand.
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Schulden stellen einen ganz besonderen Risikobereich dar, wenn du in irgendeiner Weise im Drogengeschäft tätig bist. Sie sind nicht nur ein Hauptgrund für Gewalt, Erpressung und Todesfälle, sondern auch ein wichtiger Motor des Marktes – und am häufigsten treffen sie die schwächsten und verletzlichsten Menschen in den untersten Rängen des Drogenhandels: die Konsumenten und Kleindealer.
Auch von VICE: Der furchteinflößendste Schuldeneintreiber Großbritanniens
Todesurteile fällen manche Dealer allerdings schon bei Kleinstbeträgen. Im Juli vergangenen Jahres verhaftete die Polizei zwei Dealer im englischen Städtchen Hemel Hempstead. Einer der beiden hatte ihren Kunden Adam Watt erstochen, der weggerannt war, ohne die gut 10 Euro für ein Tütchen Crack zu bezahlen. Im vergangenen August kam Michael Cullen, ein Heroindealer aus Liverpool, für 12 Jahre ins Gefängnis, weil er Christopher Hall mit einem Teppichmesser die Kehle aufgeschlitzt hatte. Dieser hatte die 25 Euro für sein Heroin nicht bezahlt. Ein nicht unerheblicher Teil der Gewalt in britischen Gefängnissen geht auf Schulden für die Designerdroge Spice zurück.
Es gibt diverse Berichte über Kidnapping, sexuelle Gewalt und Folter, die manchmal sogar von speziellen Schuldeneintreibern ausgeführt werden. Der Grad des Sadismus verhält sich dabei oft proportional zur Höhe der Schulden. Ein britischer Experte der Polizei für Geiselverhandlungen sagte gegenüber VICE, dass seine Einheit mindestens einmal pro Woche zu einem Einsatz gerufen wurde, bei dem es sich um eine Entführungen im Zusammenhang mit Drogenschulden handelte.
Aber die Intensität der Gewalt, mit der Drogenschulden eingetrieben werden, ist nicht bloß auf die Impulsivität, Unbarmherzigkeit oder eine durch eigenen Konsum gesenkte Hemmschwelle zurückzuführen. Sie ist auch eine Message der Drogengangs, die sich gleichermaßen an die gesetzestreuen und die kriminellen Teile der Gesellschaft richtet:
Mit uns ist nicht zu spaßen.
Während ein Gras- oder Ecstasy-Dealer seinen Kundenstamm und damit seinen Umsatz eher vergrößert, indem er sich einen Ruf als entspannter und angenehmer Zeitgenosse macht, geht es im Heroin-, Crack- oder Kokaingeschäft weitaus rauer zu. Hier darfst du bei Kunden oder Rivalen auf keinen Fall als leichtes Ziel rüberkommen. Das Geschäft basiert auf einer Mischung aus Respekt, Vertrauen und roher Gewalt. Eine Koksdealer-Gang in Glasgow erklärte ihrem Schuldner: “Es geht nicht ums Geld, es geht ums verdammte Prinzip.” Danach zertrümmerten sie ihm mit einem Vorschlaghammer das Bein, übergossen ihn mit Bleiche und schossen ihm mit einer Pistole in beide Kniescheiben. Der Mann überlebte schwerverletzt.
“Ich würde sagen, dass etwa 90 Prozent der Gewalt im Drogengeschäft direkt mit Schulden zusammenhängt”, schätzt Neil Woods, ein ehemaliger verdeckter Ermittler des Rauschgiftdezernats. “Aber es geht nicht nur um die Schulden. Image ist alles. Die Dealer, die nicht verpfiffen werden, können ihr Geschäft ausweiten. Damit sie nicht verpfiffen zu werden, müssen sie eine Reputation der Gewalt kultivieren. Das Eintreiben von Schulden ist ein wichtiger Bereich, in dem ein solches Image etabliert werden kann. Mittlerweile geht es dabei genau so sehr um den kulturellen Aspekt wie um das eigentliche Geld.”
Die Gewalt macht auch vor Freunde und Familie nicht Halt
Drogenschulden sind ansteckend. Die Geldeintreiber nehmen nicht nur die eigentlichen Schuldner ins Visier, sondern auch deren Familien und Freunde. In Liverpool zum Beispiel ist die reflexhafte Drohung des üblichen Dealer-Dreikäsehochs nicht länger die Abreibung an der nächsten Straßenecke, sondern der Spruch: “OK, dann gehe ich mal deine Ma besuchen.”
Letzten März wurde Barbara Dransfield, eine gehbehinderte Großmutter aus Manchester, in ihrem Zuhause überfallen. Weil ihr Sohn knapp über 100 Euro Gras-Schulden hatte, brachen ihr die Täter mit einem Baseballschläger die meisten Gesichtsknochen.
Der Kriminologe Dr. Johnny Connolly vom Centre for Crime, Justice and Victim Studies der Limerick University hat Einschüchterungen bei Drogenschulden aus den letzten zehn Jahren in Irland untersucht. Er konnte eine Gewalteskalation feststellen, die sich insbesondere gegen die Mütter und Großeltern der Drogenkonsumenten richtet.
“Es klopft an der Tür der Mutter. Jemand sagt, der Sohn schulde ihnen Geld. Dann müssen sie entweder zahlen oder die Konsequenzen riskieren”, so Dr. Connolly zu VICE. “Manchmal führen diese Drogenschulden zu Erpressungen. Es gibt Menschen, die deswegen eine weitere Hypothek für ihr Haus aufnehmen mussten. Selbst Schulden von Kurieren, die mit Drogen erwischt wurden, ihre Bosse beschützt haben und im Gefängnis gelandet sind, leiten die selben Bosse auf deren Familien um.”
Auch in Deutschland scheint diese Methode Einzug gehalten haben. In Brandenburg kam ein Elternpaar über mehrere Jahre für die Drogenschulden ihres Sohnes auf. Vor Gericht gaben sie an, die Summe hätte für ein Einfamilienhaus gereicht. Als ihr Sohn schließlich untertauchte, bedrohte der Dealer sie massiv.
Der Polizei sind die Hände gebunden
Dieses höchst toxische Problem spielt sich allerdings größtenteils verdeckt ab. Trotz der Regelmäßigkeit, mit der diese Gewalttaten vor Gericht landen, bleibt die große Mehrheit dieser Fälle aus Angst ungemeldet. In manchen Kreisen sind sie inzwischen Alltag geworden.
Johnny Connolly fand in seiner Studie Hinweise auf Frauen, die gedrängt wurden, ihre Schulden mit sexuellen Handlungen zu begleichen, und auf Teenager die Selbstmord begingen, weil sie nicht zahlen konnten. Etwa die Hälfte der Schuldner wurde körperlich angegriffen und einem Drittel wurde Eigentum beschädigt. Trotzdem meldeten die Wenigsten ihren Fall den Behörden.
Die Polizei kenne die Studienergebnisse, sagt Connolly, dennoch seien den Beamten die Hände gebunden. “Die National Drugs Unit der irischen Polizei hatte sich vorgenommen, etwas dagegen zu unternehmen”, sagt der Forscher. “Sie trafen sich in Zivil mit Opfern vor Polizeiwachen, aber niemand wollte die Fälle vor Gericht bringen. Sie hatten zu viel Angst. Die Polizei konnte nichts machen.”
Schulden sind dabei nicht etwa ein zufälliger Nebenaspekt des illegalen Drogengeschäfts – sie sind ein elementarer Bestandteil. Der ganze Markt ist gegen die Menschen am Fuße der Drogenpyramide ausgerichtet. “Dealer suchen ständig nach Wegen, ihr Geschäft zu erweitern und mehr Geld zu machen”, erklärt Fahnder Neil Woods. “Im Zuge dessen streckt der Dealer seinen Stammkunden Drogen vor und erschafft damit den sogenannten User-Dealer, der damit seinen eigenen Konsum finanzieren und entsprechend steigern kann. In diesem Geschäftsmodell gehören Schulden und die damit einhergehende Gewalt zu den alltäglichen Druckmitteln. Heraus kommt ein System des Bullyings, unter dem die Schwächsten leiden.”
Gewalt mit System
Paradoxerweise ist die Gewalt das vielleicht unproblematischste Symptom dieses Kreislaufs. Vielmehr noch werden Schulden nämlich als bevorzugte Methode eingesetzt, um das eigene Geschäft auszubauen. Dealer verwenden sie als eine Art Rekrutierungszwang. Sie ziehen damit Menschen ins Geschäft, die von sich aus vielleicht nie auf die Idee gekommen wären. Eine norwegische Studie darüber, wie Drogendealer mit Schuldnern umgehen, kam zu dem Ergebnis, dass die meisten lieber ihre Opfer ausnutzen oder kontrollieren, anstatt Gewalt anzuwenden.
Leute, die kleinere Schuldbeträge angehäuft haben, werden entweder dazu aufgefordert, selber zu dealen oder Waffen oder Drogen zu lagern. In beiden Fällen werden diese Menschen unweigerlich ins Drogengeschäft hineingezogen. Mit der gleichen Methode schicken britische Gangs momentan Teenager zum Dealen in andere Städte – das Phänomen ist unter dem Namen “Going Country” bekannt. Über die Schulden haben Kriminelle die Menschen unter ihnen fest in der Hand.
Kann man überhaupt etwas tun?
Laut Dr. Connolly müsse geprüft werden, inwiefern Gesetzesänderungen den Drogenhandel beeinflussen könnten. Bis das allerdings passiert, können die Behörden nichts anderes tun, als eine Vermittlerrolle zwischen Gangs und Schuldnern einzunehmen. “Drogenschulden sind ein zentraler Punkt des Geschäfts: Sie ermöglichen Anschlusshandlungen und begünstigen die Aufrechterhaltung und Erweiterung des Drogenhandels”, sagt Connolly. “Wenn man den Drogenhandel illegalisiert, muss man sich mit dieser Realität rumschlagen.”
Sicher ist allerdings, dass der illegale Handel weitere Opfer ausspucken wird – sei es ins Gefängnis, ins Krankenhaus oder direkt in die Gerichtsmedizin. Auch wenn die Mehrheitsgesellschaft der Meinung sein mag, dass diese Individuen sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben haben, darf man nicht vergessen, dass die Opfer derartiger Gewalt und Kontrolle fast auch immer die machtlosesten Menschen mit den wenigsten Wahlmöglichkeiten sind.
Alice, eine junge Frau, deren Partner vergangenes Jahr wegen Drogenschulden getötet worden war, berichtet VICE: “Ich schätze, je mehr er sich in seinen eigenen Konsum verstrickte, desto mehr Geld musste er auftreiben.” Irgendwann muss er begonnen haben, für seinen Dealer Drogen zu verkaufen. Es war der Anfang vom Ende, sagt Alice: “Du kannst einem Konsumenten nicht einfach einen Haufen Drogen hinstellen und davon ausgehen, dass er die nicht selbst nimmt.”
“Als ich nach seinem Tod seine Wohnung ausgeräumt habe, gab es dort nichts mehr von Wert. Er hatte alles verkauft. Er wusste, dass ich ihm das Geld besorgt hätte, wenn er nur gefragt hätte. Aber ich weiß nicht, ob er genug Zeit hatte, überhaupt jemanden zu fragen. Ich bin untröstlich, dass meine Tochter ihren Vater verloren hat. Alle paar Wochen muss ich ihr erklären, warum ihr Vater nicht einfach wieder lebendig werden kann.”
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