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Kindsmord

Ein Kriminal-Psychologe erklärt, was deine Gewaltfantasien gegen Marcel H. über dich aussagen

"Menschen nutzen solch einen Anlass, um ihren eigenen sadistischen und bösartigen Fantasien ihren Lauf zu lassen."

Der Albtraum hat ein Ende: Am Donnerstagabend haben Polizisten in Herne Marcel H. festgenommen. Damit endete seine dreitägige Flucht, an deren Beginn ein grausames Verbrechen stand: Der 19-jährige Marcel H. soll den neunjährigen Sohn seiner Nachbarn in seine Wohnung gelockt und dort mit Dutzenden Messerstichen ermordet haben. Nach dem Mord brüstete er sich gegenüber einem Freund per WhatsApp.

Nach seiner Festnahme wies Marcel H. die Polizisten auf eine Wohnung hin, in der es einen Brand gegeben habe. In der Wohnung fanden die Ermittler eine männliche Leiche.

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Verbrechen, die sich gegen Kinder richten, machen immer besonders fassungslos und wütend. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Menschen in den sozialen Medien dieser Wut Luft machten, indem sie H. den Tod wünschten. Für manche reichte auch das nicht aus: Marcel H. sollte mindestens genauso leiden wie sein Opfer, fordern sie – oder noch Schlimmeres. "In ein Loch stecken und Finger jeden Tag abschneiden", schreibt ein Nutzer auf der Bild-Facebook-Seite. "und ihm auf sein Kopf pissen".

Auch wenn die meisten von uns sowas nie schreiben würden, können wir den Impuls dahinter, den Wunsch, der Täter solle büßen, wahrscheinlich alle nachvollziehen. Und das, obwohl wir wissen, dass dadurch nichts besser wird.

Woher kommt dieser Impuls? Und was sagt es über jemanden aus, wenn er sich in solche Gewaltfantasien reinsteigert? Um das zu verstehen, haben wir Professor Reinhard Haller angerufen. Der österreichische Psychiater und Therapeut hatte im Laufe seiner Karriere mit zahlreichen Mördern, Terroristen und Sadisten zu tun und ist Experte, wenn es um das Böse geht.

Foto mir freundlicher Genehmigung von Reinhard Haller

VICE: Wenn man hört, dass jemand ein Kind gequält oder getötet hat – ist es dann natürlich, Rachefantasien zu entwickeln?
Reinhard Haller: Das Gefühl der Rache ist an sich ist nichts Unmenschliches. Wenn Unrecht geschehen ist, will man einen Ausgleich dadurch herstellen, dass man dem Täter auch etwas antut. Taten gegen Kinder überschreiten eine sehr hohe Schwelle. Die Unversehrtheit von Kindern ist ein in unserer Gesellschaft extrem hoch geschütztes Gut. Das Strafbedürfnis, wenn so eine Tat passiert, gehört durchaus zum gesellschaftlichen Leben dazu und ist zur Aufrechterhaltung des menschlichen Zusammenlebens erforderlich. Das ist etwas, das durch alle Gesellschaften und Rechtssysteme hindurchgeht.

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Auch wenn man sich so detaillierte Gewaltfantasien für den Täter ausdenkt?
Die Kommentare, die wir in sozialen Netzwerken lesen, gehen natürlich weit darüber hinaus. Die gehen in einen sadistischen Bereich. Das heißt, so paradox es klingen mag: Bei denjenigen, die nun eine Rache dieser Art verlangen, steckt im Prinzip eine ähnliche Psychodynamik dahinter, wie sie in stärkerer Form auf Täterseite gegeben ist.

Heißt das, in den Leuten steckt unbewusst auch etwas vom Täter?
Ich denke, dass jeder Mensch in sich auch böse Anteile hat, die ihm zum Teil nicht bewusst sind. Wenn dann solche Taten passieren, ist das in vielen Fällen auch so eine Art Spiegel – das könnte auch in mir selbst drin sein. Das wehrt man dadurch ab, dass man solche Racheaktionen fordert. Wahrscheinlich werden die meisten Menschen bei solchen Verbrechen sagen, dass sie schon ein Stück weit die Rachegefühle verstehen können. Aber sie erkennen dabei nicht, dass es im Prinzip die eigenen Probleme sind, die hier zentralisiert werden.

Was meinen Sie damit?
Das sind unmenschliche Formen der Rache. Menschen nutzen solch einen schlimmen Anlass, um Dingen ihren Lauf zu lassen, die in ihnen schlummern, nämlich ihre sadistischen und bösartigen Fantasien. Es ist für sie ein Ventil und eine Gelegenheit, auf die sie ihre eigenen aggressiv-bösartigen Anteile projizieren können.

Gab es diese Reaktionen in dieser Fülle immer schon?
Früher hat man mehr Verständnis für den Täter entwickelt. In den 70er, 80er Jahren hat man sich mehr gefragt: "Was hatte er denn für eine Kindheit, hatte er vielleicht eine böse Mutter, was hat er erleben müssen, wurde er misshandelt?" Man halt also versucht, eine therapeutische Haltung dem Täter gegenüber einzunehmen. In der Zwischenzeit hat sich das aber vollkommen verändert. Die Menschen sind dem Täter gegenüber in der Regel verständnislos, sie rufen nach immer drastischeren Strafen und haben den therapeutischen Standpunkt aufgegeben.

Von 50 Kommentaren dieser Art, die wir auf Facebook gelesen haben, waren fast 70 Prozent der Verfasser Männer. Man könnte eigentlich denken, dass Frauen bei Verbrechen gegen Kinder empfindlicher reagieren.
Das Aggressionspotenzial ist bei Männern höher. Männer weisen auch eher sadistische Tendenzen als Frauen auf, diesbezüglich zeigt sich eine grundverschiedene biologische Entwicklung. Bei Frauen ist eine empathische, mitleidige Haltung viel häufiger anzutreffen als bei Männern. Das äußerst sich dann auch in diesen Situationen.

Hat Sadismus denn, biologisch gesehen, irgendeine Funktion?
Ich halte die Ausformung des Bösen für im Menschen verankert. Wenn er das Böse abführt, kommt Sadismus zum Ausbruch. Viele Sadisten handeln natürlich nicht auf so eine schreckliche Art und Weise wie der mutmaßliche Mörder, sondern leben die Veranlagung zum Beispiel auf eine sexuelle Art aus. Wenn sie dann einen Partner oder eine Partnerin finden, die masochistisch veranlagt ist, ist das dann ja in einer sozial verträglichen Form geregelt. Sadismus wird häufig auch in einer emotionalen Weise ausgelebt. Worte können auch verletzen oder quälen. Das sadistische Potential, das im Inneren des Menschen schlummert, wird unterschiedlich kanalisiert.

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