FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Leo Selvaggio möchte uns allen sein Gesicht als Anti-Big-Brother-Maske aufsetzen

Der Chicagoer Künstler verkauft seine anonymisierende Maske, die zuverlässig Gesichtserkennungssoftware austricksen kann, in der Kunstharzversion für 175 Euro und in der Papierversion für unter einem Euro.
Jeder ist Leo, aber wer ist dann Leo? Screenshot: Indiegogo Leo Selvaggio

„Eine Kamera an jeder Ecke." Das ist die Vision von Richard M. Daley, dem langjährigen Bürgermeister von Chicago, der seiner Stadt verspricht, dieses verheißungsvolle Szenario bis Ende 2016 durchzusetzen.

25.000 Kameras in der am meisten überwachten Stadt der USA sind noch gar nichts gegen London, wo 4.5 Millionen Kameras den Bürgern dabei helfen, Recht und Ordnung zu achten. Doch in Chicago fließen alle Bilder in eine gigantische Datenbank namens Operation Virtual Shield, die Gesichter mit militärischer Präzision erkennt, Bewegungsprofile speichert und schon vorhandene Daten jeden Bürgers direkt dazu aufrufen kann.

Anzeige

Leo Selvaggio hat daher einen Verteidigungsplan entwickelt. In einem Video zu seinem Projekt URME Surveillance erklärt der Künstler aus Chicago, wie wir alle der permanenten Überwachung entkommen können: Mit einer Maske für den täglichen Gebrauch, die statt einer karikierten Version von Guy Fawkes eine echte Person darstellt—nämlich Leo Selvaggio selbst. Damit will Selvaggio nicht aus der Masse herausstechen, sondern, ganz im Gegenteil, eine Blaupause für alle bieten, die sich der Überwachung entziehen mögen. Die Masken sollen Anonymität durch Uniformität bieten.

Nachdem er mit seiner Indiegogo-Kampagne mehr als doppelt soviel Geld eingesammelt hat als benötigt, bietet der Künstler auf seiner Website nun zwei Produkte zum Selbstkostenpreis an: Die luxuriöse Gesichtsprothese aus Kunstharz ab 175 Euro (gefertigt mit der Expertise von ThatsMyFace) und die kostengünstige Papiermaske zum Preis von lächerlichen 0,70 Cent plus Versandgebühr. Beide Masken wurden mit Gesichtserkennungssoftware getestet und scheinen als Leo Selvaggio erkannt zu werden; selbst das berüchtigte Facebook-System zur Identifikation von Gesichtern auf Fotos ließ sich so überlisten.

Als absolute Sparvariante kannst du dir die Maske auch gratis als Schablone ausdrucken und ausschneiden, was sich besonders für Einsätze in der Gruppe bei Demonstrationen eignet. Die Maske verhüllt, ohne offensichtlich zu vermummen und ist gleichzeitig ein politisches Statement gegen staatliche Überwachung. Zu guter Letzt hat Selvaggio einen Videopatch gebastelt, der seinen Kopf in Bewegtbild über andere Gesichter legt.

Anzeige

Multidimensionale Gesichtserkennung. Bild: Leo Selvaggio, Vimeo

Natürlich sind die Nachteile offensichtlich: Nicht jeder, der sich nach ein bisschen städtischer Privatsphäre sehnt, möchte gleich mit der ausdruckslosen Pappmaske eines weißen, bärtigen Mannes herumlaufen. In der praktischen Umsetzung werden dadurch auch alltägliche Dinge wie Kaffeetrinken, Küssen oder ganz simpel die Begrüßung von Freunden erschwert. Ganz zu schweigen von dem Problem, Emotionen des Gegenüber zu deuten—da hilft dann nicht mal mehr die Emotionsscanner-App.

Wenn wir alle und überall Leo sind, wer ist dann Leo?

Aber trotzdem hilft die Idee der vielfach kopierten Identität zumindest als künstlerisches Konzept dabei, durch generierte Desinformation eine Art Grundrauschen herzustellen, das die Überwachungskameras verwirrt und eben jene Systeme mit nicht verwertbarer Information füttert, die auf maximale Informationssammlung ausgelegt sind. Denn die Aussagekraft über jeden einzelnen wird unschärfer und irrelevanter, je mehr diverse Daten in einen Datensatz gefüttert werden. Kurz, wenn wir alle und überall Leo sind, wer ist dann Leo?

Leo Selvaggio hält für uns den Kopf hin. Bild: Leo Selvaggio

Der breite Aufstieg einer Anti-Überwachungsbewegung ist langsam, doch ein generelles Unbehagen scheint sich mittlerweile zu entwickeln und wird in den verschiedensten kulturellen Strömungen bis hin zur Mode aufgegriffen. Und selbst, wenn sich Schüler zwei Tage mit der Kunst des Programmierens beschäftigen, wie beim übereifrig betitelten Code-Camp „Jugend hackt" in Berlin, kommen beachtenswerte Projekte wie zum Beispiel Awearness dabei zustande: Ein Armband, das am Handgelenk vibriert, wenn du dich in der Nähe einer Überwachungskamera befindest.

„Anstatt die Überwachung direkt zu bekämpfen, schlage ich vor, das zu verändern, was überwacht wird: uns.", so Selvaggio in seinem Video. Ein seltsamer Ansatz, der beinahe resigniert klingt. Doch die Grundidee, anstatt aus dem Sichtfeld zu bleiben, lieber tausendfach das System mit identischen Gesichtern auf anonymen Körpern zu verstopfen, ist nach wie vor interessant. Ähnliche Ansätze sind der als A Scanner Darkly bekannte Scramble Suit und die Idee, die NSA-Systeme durch Spam zu überlasten.

Es bleibt nur zu hoffen, dass im Visier der Kameras niemand auf die Idee kommt, im Schutz von Leos Maske ein noch schrecklicheres Verbrechen zu begehen als ungeschützt.