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Die Fernsehrevolution ist real: Norwegisches Slow TV-Team dreht gefeierte Fünftagesdoku, in der nichts passiert

Ein norwegisches Fernsehteam des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verwöhnt seine begeisterten Zuschauer mit Programmen in Überlänge, in denen in Echtzeit überhaupt nichts passiert.
​The Revolution Will Be Televised (niemand sagt, dass sie spannend sein würde). Alle Bilder: Screenshot ​TEDxArednal Talk Thomas Hellum

Ich habe das Fernsehen der Zukunft gesehen. Es kommt aus Norwegen, heißt Slow TV und bricht alle Regeln der Medienaufmerksamkeit.

Während ich diese Zeilen schriebe, haben die Norweger fünf Tage und Nächte lang begeistert einem Hurtigruten-Kreuzfahrtschiff dabei zugeschaut, wie es die endlos lange norwegische Küste hochschleicht. Sie haben sieben Stunden lang einen Zug live vor ihrem Fernsehgerät verfolgt, der die Landschaft zwischen Bergen und Oslo auf der Ost-West-Achse durchschneidet. Für diese Momentaufnahmen der echten Welt montierte der öffentlich-rechtliche Sender NRK2 drei Kameras an die Außenseiten des Zuges und übertrug die Fahrt durch die umliegende Landschaft im Echtzeit-Panaroma. Das war's. Highlight: Bei jedem Tunnel wurde ein bisschen Archivmaterial aus der 100-jährigen Geschichte der norwegischen Eisenbahn gezeigt.

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Andere Blockbuster der Slow TV-Revolution sind eine vierzehnstündige Vogelbeobachtung in der nordischen Einöde, 18 Stunden Live-Lachsfischen (Spoiler: nach drei Stunden biss einer an) und eine extra actiongeladene Kaminnacht, in der nicht nur eine Menge Holz gehackt, sondern auch langsam verbrannt wird. (Vielleicht erinnert sich noch jemand von euch an die Kaminfeuer-DVDs der 90er Jahre? Ebenfalls alles andere als Ladenhüter!)

Das alles strahlte der Sender wohlgemerkt nicht als Pausenfüller à la BR-Space Night oder Alpenpanorama von Servus TV aus, sondern als echtes Highlight zur Primetime. Entsprechend verhielten sich die Einschaltquoten—sie gingen durch die Decke. 20 Prozent aller Norweger klebten bei der „Nationalen Feuerholznacht" gefesselt vor ihren angeschlossenen Endgeräten. Als bei der Kreuzfahrt mit den Hurtigruten (40 Prozent Einschaltquote) irgendwann auch noch die Königin auftauchte und in die Kameras winkte, kollabierten die Twitter-Server.

Atemlose Kommentare überschlugen sich mit Lob und sprachen vom „besten Programm, das ich je gesehen habe." Die vielleicht rührendste Rückmeldung stammt von einem älteren Herrn:

„Ich habe mein Bett seit fünf Tagen nicht mehr benutzt."

Das Programm über die Hurtigruten schaffte es dann auch gleich ins Guinness-Buch der Rekorde als längste Doku, die jemals gedreht wurde.

Wichtig sei bei Slow TV, ​so erklärte der Fernsehproducer Thomas Hellum dem Publikum bei seinem TEDxArednal-Talk, Einstellungen „so lange stehen zu lassen, bis es dir richtig im Magen schmerzt—und dann noch'n bisschen länger".

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Dann würden sich die Geschichten von selbst in der Vorstellungskraft der Zuschauer entfalten, wie er anhand des Beispiels einer zehnminütigen Totale eines Bauernhauses verdeutlichte: „Vielleicht haben Sie mittlerweile die Kuh bemerkt. Jetzt fragen sich irgendwann manche von Ihnen sicher, ist der Bauer zu Hause? Passt jemand auf die Kuh auf? Wohin geht die Kuh?"

Hier der jüngste ganz große Wurf aus der Cutting-Edge-Schmiede des NRK: Die achtstündige Marathon-Stricknacht—vom Schaf zum Pulli. Wir zeigen exklusive Höhepunkte:

Währenddessen werden in Deutschland Millionen für öffentlich-rechtliche Innovationstöpfe ausgegeben, Positions- und Strategiepapiere geschrieben, Jugend-Taskforces aus alten Männern zusammengestellt und hirnlose Plots verbraten, um die Menschen (zumindest die unter 70) wieder irgendwie vor den Fernseher zu bekommen.

Das Team des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders NRK aus Norwegen hat sein Publikum dagegen endlich verstanden. Slow TV schafft es, die Norweger nicht nur vor den Fernseher zu bewegen, sondern nach draußen: Tausende Norweger strömten unaufgefordert an die Küsten oder setzten sich gleich in ihre Boote, um dem NRK-Hurtigrutenschiff ekstatisch hinterherzuwinken und vielleicht selbst ganz kurz gefilmt zu werden.

Nicht jeder hat jedoch das Glück, in Norwegen zu leben, um der stillen Revolution beizuwohnen. Daher habe ich euch für's Erste die Programmhighlights der Slow TV-Revolution in ein paar weiteren GIFs zusammengestellt.

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Die Fernsehrevolution ist real: Norwegisches Slow TV-Team dreht gefeierte Fünftagesdoku, in der nichts passiert.
Davon träumt die ARD: Zuschauer-Input im Form von Tausenden Kommentaren vor der Hurtigruten-Kreuzfahrt.

Zynische, ausbeuterische Realityshows können einpacken. Hier knallt nichts. Auch Helene Fischer tritt nicht auf. Thomas Hellum selbst nannte es „fünftätiges Winkefernsehen." Diese Sendungen nehmen sich Zeit für authentische Beobachtungen und blenden alles andere aus. Sie sind realer als real, denn das echte Leben ist auch nicht immer spannend oder von unfreiwilligen Käfermahlzeiten und Gülleduschen im Dschungel geprägt. Im Gegenteil, wir alle sind wahnsinnig durchschnittlich und freuen uns über kleine Momente, die unseren Tod herauszögern.

Ich werde mir nun einen zwei Meter großen ​OLED-Fernseher vorbestellen, um mir die nächste eventfreie NRK2-Woche im Panoramaformat zu gönnen. Wer weiß, vielleicht passiert ja etwas, wenn ich nur lange genug gucke? Frei nach Gil Scott-Heron: The Revolution will… eventually… be televised.

Entwickelt mit Theresa Formatideen für Slow TV auf ​Twitter