Für Erdoğan sind Beşiktaş-Fans noch immer Terroristen
Foto: Murad Sezer/Reuters

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Für Erdoğan sind Beşiktaş-Fans noch immer Terroristen

Gestern töteten Terroristen in Ankara 28 Menschen. „Terroristen" sind für die türkische Regierung aber nicht nur Islamisten oder PKK-Anhänger, sondern auch eine Beşiktaş-Fangruppe. Daran konnte auch ein Freispruch nichts ändern.

„Schulter an Schulter gegen Faschismus!", riefen Hunderte Fußballfans. Anhänger von Galatasaray, Fenerbahçe and Beşiktaş, die sich ansonsten auf den Tod nicht ausstehen können, protestierten vereint gegen die Bebauung einer der letzten Grünflächen in Istanbul.

Im Mai 2013 verkündete die türkische Regierung die Absicht, den Gezi Park plattzumachen und dafür ein neues Einkaufszentrum hinzustellen. Als die Polizei brutal gegen Demonstranten vorging, wurde aus dem Protest gegen Stadtentwicklungspläne schnell eine Revolte gegen das autoritäre Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

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Die Proteste gegen Erdoğans Partei, AKP, dauerten mehrere Tage an und breiteten sich schnell auf andere Teile in der Türkei aus. Am Ende kamen aufgrund der massiven Polizeigewalt acht Demonstranten um, mehr als 8.000 wurden verletzt.

Çarşı, die bekannteste Fangruppierung von Beşiktaş, gehörte zu den einflussreichsten Gruppen innerhalb der Protestbewegung. 35 Mitglieder—darunter auch ihr Gründer Cem Yakışkan—wurden wegen versuchten Staatsstreichs, Terrorismus, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Beteiligung an illegalen Demonstrationen angeklagt.

Staatsanwalt Adem Meral forderte lebenslang für mehre Çarşı-Mitglieder, während andere in der Gruppe mit Freiheitsstrafen in Höhe von drei bis fünf Jahren belegt werden sollten. Am 29. November letzten Jahres wurden die Angeklagten von allen Vorwürfen freigesprochen. Herr Meral war nicht amused und ging in Berufung. Jetzt liegt der Ball beim Obersten Gericht.

Cem Yakışkan glaubt, dass sich die Gruppe schon bald wieder vor Gericht verantworten muss: „Wir haben über die Situation gelacht, um nicht weinen zu müssen", erklärte er. „Der Richter meinte zu uns, ‚Sie stehen hier, weil Sie einen Staatsstreich versucht haben.' Doch sind wir mal ehrlich: Wenn wir imstande wären, einen Staatsstreich durchzuführen, hätten wir dieselbe Macht schon längst genutzt, um Beşiktaş zum Meister zu machen!"

Yakışkan—so wie auch andere Çarşı-Mitglieder—ist sicher, dass der Spuk noch nicht vorbei ist: „Wir sollten nicht vergessen, dass wir in der Türkei sind. Mal schauen, was das Oberste Gericht unternimmt. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen."

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Der Istanbuler Gezi Park wurde im Mai 2013 zum Schlachtfeld zwischen Demonstranten und der Polizei. Foto: Yannis Behrakis/Reuters.

Amnesty International hat in der Vergangenheit wiederholt den brutalen Charakter des türkischen Strafvollzugssystems und das invasive Auftreten türkischer Geheimdienste kritisiert. Laut Amnesty könnten diese Bereiche mit völliger Straffreiheit handeln.

Der Name Çarşı—Türkisch für Markt—geht auf einen Basar im Stadtteil Beşiktaş zurück, auf dem die Fans zusammenkommen, um Spiele ihrer Mannschaft anzuschauen. Yakışkan gehört eine Bar auf dem Marktplatz.

„Um zu verstehen, warum wir an den Demonstrationen teilgenommen haben, muss man auch Çarşı verstehen", erklärt mir Yakışkan. „Es wäre verrückt gewesen, die Gezi-Proteste zu ignorieren, wo sie doch ganz in der Nähe von unserer Nachbarschaft stattgefunden haben.

„In der Vergangenheit haben wir bereits gegen den Bau eines Staudamms in Hasankeyf demonstriert, für den eine antike Stadt zerstört werden sollte. Wir engagieren uns gegen jede Form von Ungerechtigkeit und Gewalt."

Ein seltenes Bild im türkischen Fußball: Fans von Galatasaray, Fenerbahçe und Beşiktaş vereint gegen die Regierung. Foto: Murad Sezer/Reuters.

Die Fußballfans von Çarşı sind in der Nachbarschaft für ihre soziale Ader und anarchistische Ideologie bekannt, beide Eigenschaften spiegeln sich auf ihrem Logo wider. Und dann wäre da noch ihr Motto „Çarşı, her şeye Karşı": „Çarşı, Anti-alles."

„Anarchie allein reicht uns nicht aus. Unser ‚A' geht noch weiter. Wir wollen auch denen, die ungerecht behandelt werden, zur Seite stehen. Egal ob Armenier, Kurden, Tierrechtsaktivisten, die LGBQT-Community oder Feministen." Yakışkan glaubt, dass Çarşı-Mitglieder aufgrund ihres sozialen Engagements von der Justiz verfolgt werden.

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Es war übrigens nicht das erste Mal, dass die türkische Regierung sich in den Fußball einmischt. 2012 wurden Fans, die Tickets kaufen wollten, dazu gezwungen, einen Vertrag zu unterzeichnen. Der schrieb vor, im Stadion auf bestimmte Parolen und Slogans zu verzichten. Die Regierung erklärte dazu, die Maßnahme sei dazu bestimmt, regierungskritische Proteste aus den Stadien zu verbannen.

In der Anklageschrift heißt es, dass Çarşı-Mitglieder versucht haben, das Büro des früheren Premierministers und heutigen Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, zu besetzen. Erdoğan selbst gab zu Protokoll, die Täter wollten mit ihrer Aktion „die angebliche Schwäche der Regierung aufzeigen". Sie hätten versucht, durch dieses öffentliche Bild Veränderungen in der Türkei auszulösen, die man zuvor beim Arabischen Frühling beobachten konnte. Sie hätten versucht, die gewählte Regierung mit unlauteren Methoden zu Fall zu bringen."

Die Menschenrechtsaktivistin Emma Sinclair-Webb findet die Anschuldigungen, die die Fußballfans als Staatsfeinde einstufen, „falsch und lächerlich" und ist der Meinung, dass die „Fans niemals vor Gericht hätten enden dürfen". Murat Çekiç, Vorsitzender von Amnesty International Turkey, äußerte sich ebenso bestürzt über das Vorgehen gegen Çarşı.

Gefreut haben Yakışkan die Solidaritätsbekundungen von Fußballfans außerhalb der Türkei, allen voran aus Deutschland. „Wir haben eine Menge Unterstützung im Ausland erhalten, etwa von Borussia Dortmund oder dem FC St. Pauli. Die Anhänger von Galatasaray and Fenerbahçe haben anfangs noch Unterstützung gezeigt, die war aber nicht aufrichtig", sagt Yakışkan. „Sie haben sich nicht im Gericht blicken lassen und die Ungerechtigkeiten gegen uns einfach so hingenommen. In Gezi haben wir noch für eine bessere Zukunft zusammengekämpft, doch sobald die Liga wieder losgeht, will jeder nur noch die Meisterschaft holen."

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Ein Jahr nach den Protesten hat die türkische Regierung mit der Passolig-Karte ein neues Zugangssystem zu den Fußballstadien eingeführt. Fußballfans in der ersten und zweiten türkischen Liga brauchen seitdem die auf den Karteninhaber ausgestellte und mit einem Foto versehene Karte, wenn sie sich Tickets kaufen wollen. Jeder Fan bekommt eine persönliche Registrierungsnummer und einen festen Platz zugewiesen.

„Wir haben es gut weggesteckt, aber es hat mal wieder gezeigt: Wenn einzelne Ärger verursachen, werden gleich alle bestraft. Das ist eine sehr komische Vorgehensweise", findet Yakışkan. „Aber ich glaube, sie hatten keine wirklichen Alternativen. Das neue System ähnelt jetzt dem in Europa. Unsere Regierung orientiert sich immer Richtung Europa. Sie haben das Rauchverbot, die Alkoholsteuer und strengere Kontrollen eingeführt, um sich europäischen Standardbestimmungen anzupassen."

Der Schulterschluss zwischen den Hauptstadtvereinen war genauso überraschend wie kurzlebig, sagt der Çarşı-Boss. Foto: Murad Sezer/Reuters.

Präsident Erdoğan erklärte nach den Protesten seine Absicht, „die Verräter zu jagen", die für die Gezi-Proteste verantwortlich sind. Gleichzeitig sagte er der Korruption innerhalb der eigenen Partei den Kampf an. Und das blieb nicht ohne Folgen: Polizeibeamte, Anwälte und Richter—darunter auch zwei, die ursprünglich mit dem Çarşı-Fall beauftragt werden sollten—wurden festgenommen oder mussten sich vor türkischen Gerichten verantworten. Gleichzeitig wurden, noch vor den Çarşı-Fans, 26 Mitglieder der „Taksim Solidarität"-Gruppe freigelassen.

Yakışkan verteidigt weiterhin die Rechtmäßigkeit der Proteste: „Die Regierung wurde zum ersten Mal besiegt. Den Erfolg verdanken wir unserer Gesellschaft, genauer gesagt all denen, die an den Protesten teilgenommen haben. Wir haben sehen können, dass unsere Jugend sowohl intelligent als auch mitfühlend ist. Obwohl die Oppositionsparteien aus der Situation leider keinen Nutzen ziehen konnten, bedeutet Gezi für die Türkei eine ganze Menge."