Bei George Orwells 1984 sind sich Links wie Rechts so einig wie lange nicht mehr

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Dystopien

Bei George Orwells 1984 sind sich Links wie Rechts so einig wie lange nicht mehr

George Orwells Buch 1984 steht 71 Jahre nach Erscheinen wieder auf Platz 1 der Bestseller-Listen. Links wie Rechts sind sich einig: Die Dystopie ist aktueller denn je.

Foto: Frerk Meyer | Flickr | CC 2.0

George Orwells Buch 1984 über einen fiktiven Überwachungsstaat steht 71 Jahre nach Erscheinen wieder auf Platz 1 der Bestseller-Listen. Links wie Rechts sind sich einig: Die Dystopie ist aktueller denn je. Über eine kuriose, aber nachvollziehbare literarische Querfront.

Bohrt man seine Filterbubble auf, fühlt sich Social Media derzeit mehr denn je nach Grabenkampf an. Nichts fühlt sich mehr an wie ein alternativer Fakt als die Behauptung, rechts und links wären überholte Kategorien. Während auf der einen Seite der Sucker Punch gegen einen Neonazi als längst überfällige Handlung des Widerstands begrüßt wird, prangert die andere Seite diesen aus ihrer Sicht sinnlosen und falschen Akt der Gewalt an.

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Die einen jubeln angesichts hunderttausender Menschen vereint im friedlichen Protest, die anderen zweifeln die Beweggründe an und posten Bilder von den Aufräumarbeiten als Beweis dafür, dass Männer wieder mal die Leidtragenden des Feminismus sind. "Die Fronten sind verhärtet" ist ein Allgemeinplatz, für den nur deshalb keine fünf Euro ins Phrasenschwein fällig werden, weil hier gefühlt Stahlbeton angerührt worden ist.

Umso überraschender deshalb die literarische Querfront, die sich seit einigen Tagen herausbildet.

Quer durch das politische Spektrum wird die Lektüre von George Orwells Klassiker 1984 empfohlen. 1984 ist eine Dystopie über einen Überwachungsstaat, in dem sämtliche Grundrechte außer Kraft gesetzt sind. Der Bürger ist vollkommen gläsern. Freiheit gibt es nicht mehr: keine freie Presse, keine freie Meinung.

George Orwell schrieb das Buch im Nachklang des Faschismus des 20. Jahrhunderts, als Warnung für zukünftige Generationen. 71 Jahre nach Erscheinen steht es wieder auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Von liberal über konservativ bis rechtspopulistisch ist man sich einig: Dieses Buch muss aktuell gelesen werden. Davon zeugen nicht nur Hashtags wie #read1984 oder #1984.

George Orwells Buch liefert Zitate, die die aktuelle Situation aus den unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet abzubilden scheinen.

Freilich aus unterschiedlichen Gründen: Links der Mitte unter anderem wegen Trumps Maulkorb für Wissenschaftler und seinen "alternative facts"; rechts der Mitte ist in österreichischen Meinungsblogs die Aufregung groß wegen vermeintlicher Schweigekartelle oder "unvorstellbarer Meinungsmaschinerien", in Deutschland wegen geplanter Abwehrzentren für Desinformationen, linker Boykott-Aufrufe gegen unliebsame Medien und Initiativen, die Fake News bei Facebook kennzeichnen sollen. Und beide Bubbles werden sich bei der Lektüre bestätigt sehen.

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Kein Wunder: George Orwells Buch liefert Zitate, die die aktuelle Situation aus den unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet abzubilden scheinen.

Natürlich ist der Zensur-Vorwurf aus der bürgerlich-konservativen bis rechten Ecke angesichts von Boykott-Aufrufen etwas dramatisch: Solange man für seine Meinung, die sich im Rahmen des Grundgesetzes und des Strafrechts bewegt, politisch und juristisch nicht verfolgt wird, gibt es de facto keine Zensur qua Definition. Auch sind die Vorwürfe von Seiten wie unzensuriert oder Fisch+Fleisch kaum das, was Orwell im Sinn hatte. Aber angesichts verantwortungsloser Forderungen nach "Abwehrzentren für Desinformation" und staatlichen Stiftungen für Faktenchecks sind die Orwell'schen Unkenrufe nachvollziehbar.

Das Gleiche gilt für Trumps Gegner: Die Parallelen zu Orwells 1984 sind nach seinem Maulkorb für Behörden und Wissenschaftler und dem Etablieren nachweislicher Lügen und Falschinformationen als "alternative Fakten" offensichtlich. Zuletzt wurde zum Beispiel bekannt, dass künftig alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen zunächst vom Staat begutachtet werden müssen.

Hier die passendsten 1984-Zitate und Reaktionen auf Twitter:

"The Ministry of Peace concerns itself with war, the Ministry of Truth with lies, the Ministry of Love with torture and the Ministry of Plenty with starvation. These contradictions are not accidental, nor do they result from from ordinary hypocrisy: they are deliberate exercises in doublethink" – George Orwell, 1984

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"Don't you see that the whole aim of Newspeak is to narrow the range of thought? In the end we shall make thoughtcrime literally impossible, because there will be no words in which to express it." – George Orwell, 1984

"'You are a slow learner, Winston.'
'How can I help it? How can I help but see what is in front of my eyes? Two and two are four.'
'Sometimes, Winston. Sometimes they are five. Sometimes they are three. Sometimes they are all of them at once. You must try harder. It is not easy to become sane.'" – George Orwell, 1984 "Doublethink means the power of holding two contradictory beliefs in one's mind simultaneously, and accepting both of them." – George Orwell, 1984

"In a way, the world−view of the Party imposed itself most successfully on people incapable of understanding it. They could be made to accept the most flagrant violations of reality, because they never fully grasped the enormity of what was demanded of them, and were not sufficiently interested in public events to notice what was happening. By lack of understanding they remained sane." – George Orwell, 1984

"And if all others accepted the lie which the Party imposed—if all records told the same tale—then the lie passed into history and became truth. 'Who controls the past' ran the Party slogan, 'controls the future: who controls the present controls the past."  – George Orwell, 1984

Hier beschreibt Orwell den "continued influence effect": Wird eine Unwahrheit einfach oft genug wiederholt, wird sie für viele zur Wahrheit. Deshalb kann es Trump egal sein, ob seine Lügen gefacktchecked werden: Seine Fans glauben ihm eh, und seine Gegner wiederholen (retweeten und berichten) darüber so lange, bis es jeder gehört hat.

Wie heißt es so schön: Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe.