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Religion

Das passiert mit deinem Gehirn, wenn du aufhörst, an Gott zu glauben

Das Ganze ist, als würdest du einer Droge abschwören.

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Mit 16 verlor ich meine Jungfräulichkeit. Ich hörte auf, in die Kirche zu gehen. Ich blieb länger draußen als erlaubt. Als Strafe dafür ließ mich meine Mutter Bibelverse auswendig lernen, die ich dann einfach runterbetete. Mein Glaube an Gott ist nicht plötzlich weggegangen. Nein, er ist langsam immer mehr in den Hintergrund gerückt.

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Immer mehr junge Menschen fühlen sich keiner Religion mehr zugehörig. Dieser Verlust des Glaubens ist ein schleichender Prozess. Nur ein Prozent der Amerikaner, die religiös erzogen wurden und nun nicht mehr an Gott glauben, führen das auf eine einmalige "Glaubenskrise" zurück. 36 Prozent wurden hingegen immer desillusionierter und weitere sieben Prozent gaben an, dass sich ihre Ansichten weiterentwickelt hätten.

Es verhält sich hier wir beim Glauben an den Weihnachtsmann. Die Psychologinnen Thalia Goldstein und Jaqueline Woolley haben herausgefunden, dass Kinder nicht von einem Tag auf den anderen nicht mehr an den Mann mit dem weißen Rauschebart glauben, sondern schrittweise. Zuerst halten sie den verkleideten Mann im Einkaufszentrum für echt. Dann gehen sie davon aus, dass er immerhin mit dem echten Weihnachtsmann in Kontakt steht. Und so geht es weiter, bis sie irgendwann erkennen, dass in den Kostümen nur bezahlte Schauspieler stecken. "Kinder stellen ihren Glauben nicht einfach so ab", sagt Goldstein.

Früher habe ich die bebilderte Kinderbibel geliebt, die mir meine Mutter geschenkt hatte. Jona im Bauch eines Wals fühlte sich irgendwie richtig an. Für dieses Gefühl war mein Gehirn verantwortlich. Wenn uns religiöse oder damit verbundene Erfahrungen – etwa zusammen mit Mama die Bibel lesen – gefallen, dann wird das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Mit der Zeit entwickeln sich die religiösen Vorstellungen selbst zur Belohnung. Und das motiviert uns unterbewusst dazu, weiter zu glauben.

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"Religion funktioniert genau so wie eine Droge – z.B. Kokain oder Meth –, wie Musik oder wie Liebe", sagt Jeffrey Anderson, ein Radiologieprofessor an der University of Utah, der sich mit den Auswirkungen von Religion auf das Gehirn beschäftigt. "All diese Dinge bedienen sich dem Belohnungssystem. Der Ablauf ist gleich."

Als meine bunte Bibel für mich langweilig und kindisch wurde, war dieses Belohnungssystem nicht mehr so aktiv. Religiöse Erfahrungen erzeugten weniger Freude. Das passiert bei Menschen mit Parkinson automatisch. Bei der Krankheit sterben nämlich die Dopamin produzierenden Nervenzellen ab. So erzählt Anderson auch, dass sich an Parkinson leidende Personen eher vom Glauben abwenden.

In der Schule lernte ich dann, dass sich die Menschheit über sechs Millionen Jahre hinweg entwickelt hat – und nicht am sechsten Tag der Schöpfung. Ironischerweise ist es die Evolution unseres Gehirns, die uns den Glauben an Religionen erst ermöglicht. Die meisten Komponenten des religiösen Glaubens sind in der am weitesten entwickelten Region des Gehirns abgespeichert – im Frontallappen. Das erklärt vielleicht auch, warum es nur bei uns Menschen Religionen gibt.

Jahrelang glaubte ich sowohl an die Schöpfungslehre mit richtigem Gott als auch an die kalte, wissenschaftliche Evolutionstheorie, in der ich unbedeutend bin. Wenn wir unseren Glauben verlieren, dann verschwinden die vorhergegangen Einstellungen im Gehirn nämlich nicht einfach so. Nein, sie bekommen quasi ein Update – wie bei einem Kleiderschrank: "Selbst wenn man seiner Religion den Rücken zukehrt oder konvertiert, wirft man nicht gleich alle Klamotten in den Müll und kauft sich neue", erklärt Jordan Grafman, ein Hirnforscher beim Shirley Ryan AbilityLab und Professor an der Northwestern University. "Man entscheidet bewusst, was man behalten will und was gehen muss."

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Neue Glaubensansichten landen im gleichen neurologischen Gerüst wie die alten. Es ist sogar möglich, dass ein bestehender Glaube den Weg für zusätzliche Ansichten ebnet. Woolley hat herausgefunden, dass Kinder, die schon an Fantasiewesen glauben, eher dazu neigen, an weitere, von den Forschern erfundene Wesen zu glauben. "Das liegt meiner Meinung nach daran, dass bei diesen Kindern bereits ein Fundament vorhanden ist, auf das die neuen Ansichten aufbauen können", erklärt sie. Manchmal ähneln diese neuen Ansichten den alten, manchmal nicht.

Als ich versuchte, meinen Glauben an Gott mit meinem wachsenden Wissen über die echte Welt in Einklang zu bringen, zog ich willkürliche Grenzen. Gott konnte mir nicht beim Klogang zusehen, aber meine Gebete hörte er immer. Schließlich konnte ich mir nicht mehr erklären, wie er überhaupt zu einem von beiden in der Lage sein sollte.

Diese wissenschaftliche Abkehr kommt häufig vor. 2016 wurde in einer Studie untersucht, warum Amerikaner nicht mehr an Gott glauben. "Beim rationellen Denken hat Religion keinen Platz", "Für einen Schöpfer gibt es keine Beweise" und "Ich glaube jetzt an die Wissenschaft und nicht mehr an Wunder" gehörten zu den häufigsten Gründen.

Aber nicht nur die Wissenschaft bringt unseren Glauben ins Wanken, sondern auch die "Verpackung": Die Aussagen anderer Menschen beeinflussen, was wir glauben und was nicht. Und das trifft auch in einem religiösen Kontext zu. Die Psychologin Rebekah Richert hat herausgefunden, dass in einem religiösen Haushalt aufgewachsene Kinder eine erfundene Geschichte eher glauben, wenn man sie als religiöse Geschichte verkauft. Wenn diese Komponente jedoch fehlt, dann durchschauen sie den Bluff.

Während des Studiums ändert sich dieser kulturelle Rahmen. Man setzt plötzlich auf eine analytische und wissenschaftliche Herangehensweise. Für Gott ist da kaum Platz mehr. Auf Partys diskutieren Studenten über die negativen und bösen Seiten der westlichen Religionen. Durch gemeinsame Einwände entstehen Freundschaften. "Im Studium zweifelt man die eigenen konservativeren Denkweisen und Ansichten im Gehirn an", sagt Grafman. Unser Glaube aus der Kindheit bleibt dabei auf der Strecke.

Wenn wir uns schließlich komplett von Religionen loslösen, dann geht es anders weiter. "Die Gefühle, die früher der Glaube in uns ausgelöst hat, holen wir uns nun von der Natur oder durch tiefgreifende, wissenschaftliche Denkansätze", sagt Anderson. "Der Kontext ist anders, die Erfahrung nicht." Die meisten nichtreligiösen Menschen haben sich "ganz leidenschaftlich irgendeiner Weltanschauung verschrieben", erklärt Patrick McNamara, ein Neurologie-Professor an der Boston University School of Medicine. Diese Leidenschaft fungiert neurologisch gesehen als Religionsersatz.

Meine religiösen Wurzeln sind zwar verwildert, aber noch nicht komplett zugewachsen. Und ich hoffe, dass das höhere Wesen, für das sie stehen, mir dabei zusieht, wie ich immer wieder etwas Neues dazulerne.

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