Die Kunst des Unsichtbarseins

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Die Kunst des Unsichtbarseins

Für Claude Masson ist sein Beruf eine wahre Kunst, bei der es um die kleinen, unsichtbaren Dinge geht: Das Glas sollte immer gefüllt sein, Gespräche werden nicht unterbrochen. Ein guter Kellner ist wie ein Chamäleon, das sich perfekt an die Umgebung...

Der Schlüssel zu gutem Service sind die kleinen unsichtbaren Dinge.

Was laut Miles Davis für die Musik gilt, gilt auch für die Gastronomie: Ein echter Experte weiß, wann er sich an die Gäste wenden sollte und wann er sich besser zurückzieht, in eine Art unsichtbare Zwischenwelt.

Genau da bewegt sich Claude Masson: Er steht in einem der berühmtesten und altehrwürdigsten Bistros in Montreal hinter dem Tresen. Hier im L'Express vereinen sich kaum wahrnehmbares Tellerklappern, unprätentiöser Wein und gut zubereitete Klassiker perfekt in einer lockeren Atmosphäre.

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Barkeeper-Legende Claude Masson im L'Express. Alle Fotos von Xavier Girard Lachaîne.

Das Restaurant und die Legende hinter dem Tresen erinnern an eine Zeit, in der es noch nicht diese überschwängliche Höflichkeit in der Gastronomie gab: Bevor die Kellner mit Wunderkerzen bemannt Geburtstagslieder sangen und bevor man nach jedem Bissen gefragt wurde, ob denn alles in Ordnung sei. Hier macht man es noch so wie bei den angesehen Gastronomen Montreals.Und von Massons exzellentem Ruf können viele ein Lied singen.

Ryan Gay, Besitzer und Barkeeper bei Nora Gray, ist Stammkunde im L'Express. Er sagt, dass Claude Massons Expertise noch aus einer Zeit stammt, in der esbeim Service nicht um schnöde Maschen, um ein Schema F ging. „Er hat noch diese Professionalität, die leider schon vor langer Zeit verloren gegangen ist", schwärmt Ryan. „Gleichzeitig wirkt er so gelassen—er versprüht einfach eine eigene Aura. Monsieur Masson ist mysteriös und unglaublich effizient. Ich habe viel von seiner Arbeit im L'Express lernen können.

Ähnliches sagt auch Dave McMillan, Chefkoch und Miteigentümer von Joe Beef: „Er geht in seiner Arbeit auf. Er ist einfach professionell und versteht, dass dieser Beruf auch eine gewisse Klasse abverlangt. Er weiß, wie man Gäste richtig bedient und versteht sein Handwerk. Es geht dabei nicht um ihn als Person. Er hat die Kunst des Unsichtbarseins gemeistert—anwesend sein und doch irgendwie nicht. Das ist die Kunst des Kellners."

Auch für Claude Masson ist dieses Handwerk eine wahre Kunst, die ihre Wurzeln in den Bistros von Paris findet, wo man nicht versucht, den Gästen zu imponieren. Stattdessen konzentriert man sich auf die kleinen, unsichtbaren Dinge: Das Glas sollte immer gefüllt sein, Gespräche werden nicht unterbrochen. Der Kellner ist wie ein Chamäleon, das sich perfekt an die Umgebung anpasst und nicht bemerkt wird.

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Die Bar im L'Express.

Claude Massonkam 1976 in die Gastronomie, als er im Hotel Old Montréal arbeitetE. „Damals wusste ich ehrlich gesagt nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll", erzählt er uns. „Ich wollte nicht von Sozialhilfe leben, aber ich konnte auch keinen Job in meinem alten Beruf als Lehrer finden. Eines Tages fragte mich das Hotel, ob ich nicht hinter der Bar arbeiten möchte und ich meinte nur: ,Klar, warum nicht…'. Ich konnte damals Gin nicht einmal von Wodka oder Scotch unterscheiden. Als ich als Barkeeper angefangen habe, war ich schon über 30. Ich suchte nach einem Sinn im Leben. Ich hätte sicher auch etwas anderes machen können. Aber ich war ein guter Schüler, wenn auch kein außergewöhnlich guter."

Er belegte Wein-Kurse bei der Tourismus- und Hotellerieschule ITHQ in Quebec und arbeitete in diversen Hotels. Nachdem er 1981 zufällig einen Freund im Bus traf, landete er im L'Express—anfangs nicht als Kellner sondern als Commis de Cuisine. „Selbst damals als einfacher Jungkoch dachte ich: Ich werde der Beste in ganz Montreal! [lacht]". Das hat ihm wieder eine Aufgabe gegeben: „Es ist zwar nicht der wichtigste Posten, aber wenn man den Job ordentlich macht, gibt dir das einen gewissen Sinn im Leben."

Mit genau dieser Einstellung ist Claude Masson dann hinter dem Tresen von L'Express gelandet. Ab da nannten ihn die zahlreichen Stammgäste wie Dave McMillan Monsieur Masson: „Für mich ist er Monsieur Masson, nur Claude wird ihm nicht gerecht. Ich nenne nur wenige Leute Monsieur, aber er hat sein gesamtes Leben der Barkunst und dem Service gewidmet. Er hat Montreal zum Besseren verändert. Ein wahrer Adliger, vor dem so ich den Hut ziehe."

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Die ellenlange Weinkarte.

Wie viele in Montreal ist auch Dave oft abends zum Essen beim L'Express eingekehrt und hat sich an der Weinkarte erfreut, die eine der vielfältigsten und günstigsten der Stadt ist. „Hier bekommt man eine Flasche Wein für 19 Dollar [circa 13 Euro] und einen Salat für 4 Dollar [circa 3 Euro]. L'Express ist nicht nur das beste, sondern mitunter auch das günstigste Restaurant in ganz Montreal. Man kann es sich einfach leisten."

Im Weinkeller von L'Express lagern 11.000 Flaschen Wein, die alle selbst importiert und so ausgewählt wurden, dass sie das Essen der Gäste noch besser machen. „Unsere Weinkarte ist Teil unserer Philosophie: Eine vielfältige, große Auswahl zu guten Preisen", erklärt Monsieur Masson. „Wenn Angestellte anderer Restaurants bei uns essen, sind sie immer über die Preise erstaunt. Seitdem es L'Express gibt, waren die Preise und die langen Öffnungszeiten unser Alleinstellungsmerkmal."

Als Restaurant, in dem man sich einen guten Wein auch leisten kann und in dem man noch zu später Stunde bewirtet wird, ist L'Express zum Treffpunkt für alle aus der Gastronomie geworden. Hier können sie ihrem Dampf ablassen und werden von jemandem bedient, der nicht nur eine Show abzieht. „Wir verstehen, wie es ist, in langen Schichten zu arbeiten. Das allein hilft schon. Unser Kundenstamm ist sehr speziell. Wir passen uns an die Kunden und ihre Bedürfnisse an."

Aber nicht nur Köche lungern hier gerne rum.

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„Einmal hatten wir ein Pärchen, das unbedingt einen Tisch haben und nicht an der Bar sitzen wollte", erinnert sich Monsieur Masson. „Und wir haben alles getan, damit sie an der Bar bleiben. Nach dem Essen sagten sie uns dann, wie toll sie es an der Bar fanden. Das ist viel besser als ein noch so großes Trinkgeld. Das meinte ich vorhin mit dem Sinn im Leben… [mit Tränen in den Augen]. Das macht mich richtig emotional. Le sens de la vie, c'est ça. Darum geht es doch im Leben."

Das heißt für Monsieur Masson auch, wie ein Seiltänzer ein Gleichgewicht zwischen Gelassenheit und Detailtreue bewahren zu können.

„Das ist eine Kunst, an der auch ich ständig arbeite und die ich regelrecht pflegen muss. Das muss ich mir immer selbst sagen. Für mich ist nichts selbstverständlich. Wenn man vor Publikum spricht, sagen ja auch viele, dass es gut ist, ein bisschen nervös zu sein, um die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen. In der Gastronomie ist das ähnlich. Es gibt immer eine gewisse Anspannung, aber meine Arbeit wird auch geschätzt. Und deshalb mache ich meinen Job gut. Eine gute Leistung ist entscheidend, egal in welchem Job man arbeitet."

Ein Geheimnis seiner Kunst liegt darin, seine Gäste nicht verdursten zu lassen. Das macht er ganz unbemerkt. „Wir zwingen die Leute ja nicht zum Trinken", betont Monsieur Masson. „Aber wir wollen auch nicht, dass es ihnen an etwas fehlt. Hier im L'Express darf kein Gast mit leerem Glas dasitzen. Unsere Gäste sind aber auch erwachsen genug und wissen, wann sie genug getrunken haben."

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Deswegen sind Gäste, die ihren Alkoholkonsum nicht im Griff haben, auch nicht gern gesehen. „Ab und zu hatten wir schon ungehobelte Gäste, aber meistens beruhigen die sich schnell. Wer das nicht kann, ist nicht mehr unser Gast. Aber selbst dann müssen wir mit ihnen freundlich umgehen. Das ist wirklich entscheidend."

Ob Monsieur Masson sich auch mal zur Ruhe setzen will, frage ich ihn:„Viele denken, dass die Rente etwas Tolles sei. Ich nicht. Urlaub ist natürlich wichtig, aber ich werde meinen Beruf solange ausüben, wie ich es gesundheitlich kann. Solange ich gut und effizient arbeiten kann und solange ich hier noch bleiben darf. Ich hätte auch in jedem anderen Beruf landen können. Aber wenn man sich einmal für eine Sache entschieden hat, dann sollte man die auch bis zum Ende durchziehen." Berufsehre und Effizienz also—typisch Monsieur Masson.