Mit meiner Mutter kann ich über fast alles reden. Nur beim Thema Sexualität halten wir es wie der DFB mit schwulen Fußballern: Es gibt sie nicht. Das heißt, es gibt sie natürlich schon, aber wir reden nicht darüber. Bei ihr nicht, bei mir nicht, Punkt.
Warum ich mein kindliches Schamgefühl bei “diesem Thema” und “solchen Dingen” auch mit 23 Jahren nicht ablegen kann, weiß ich nicht. Meine Mutter ist weder prüde noch verklemmt.
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Doch bahnt sich beim gemeinsamen Tatort-Gucken Geschlechtsverkehr an, oder im Theater zieht ein Schauspieler auf offener Bühne blank, ist mir das hochnotpeinlich. Momente spontaner Religiosität: “Oh Herr, bitte lass es ganz schnell vorbei sein.”
Zum Glück sind gemeinsame Theaterbesuche selten. Und Sexszenen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen enden in der Regel, wenn sich Gesichter in Bauchnabeln vergraben. Trotzdem ist es ja albern, sich ein Leben lang auf das Feingefühl der Programmchefs zu verlassen.
Damit meine Mutter und ich wie erwachsene Menschen über Sex reden können, braucht es einen Eisbrecher: Serotonin, den neuen Roman von Michel Houellebecq. Ein kleines Kind, das Angst vorm Schwimmen hat, sollte man ja auch vom Zehnmeterbrett schubsen.
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Der französische Autor beschreibt die Fähigkeiten der Frauen beim Sex so präzise, als müsste er ein Gutachten für die Stiftung Warentest anfertigen. Houellebecq tastet sich jedenfalls nicht vorsichtig an gesellschaftliche Tabus heran. Er stürzt sich mit einem Kopfsprung in unangenehme Tiefen: am liebsten in die sexuellen Qualitäten seiner weiblichen Figuren, von der Kraft ihrer Scheidenmuskeln bis zur analen Aufnahmebereitschaft.
Ich erinnere mich an mein erstes Buch von Houellebecq, Plattform. Das habe ich nicht in der Öffentlichkeit lesen können, vor allem wegen Stellen wie dieser: “Ich steckte ihr einen Finger in den Arsch, schob den Mund heran, küßte das Lustknöpfchen und walkte es mit den Lippen durch.”
Das Gute an Houellebecqs Gedankenwelt, ob man sie nun ekel- oder erregend findet, ist ja, dass man beim Lesen mit ihr alleine ist. Bis jetzt. Bis ich auf die hirnrissige Idee kam, sie mit meiner Mutter zu teilen und mit ihr in Houellebecqs vulgärste Fantasien einzutauchen.
Wie soll ich meiner Mutter von einem Gangbang berichten, in dem ein Dobermann eine Frau penetriert, die zeitgleich einem Bullterrier einen Blowjob verpasst?
Seitdem ich Serotonin das erste Mal aufgeschlagen habe, beschleicht mich das Gefühl, meine Mutter würde mir über die Schulter schauen. Von Lippen umschlossene Eicheln und spermabedeckte Gesichter lassen mich immer wieder zusammenzucken.
Die Angst liest mit, sie blättert vorsichtig um. Und auf Seite 50 ziehen sich meine Eingeweide zusammen. Wie soll ich meiner Mutter von einem Gangbang berichten, in dem ein Dobermann eine Frau penetriert, die zeitgleich einem Bullterrier einen Blowjob verpasst?
Ich schaffe es ja noch nicht einmal, ihr eine ernsthafte Auskunft über mein Liebesleben zu geben. Und das kommt bisher ganz ohne tierische Beteiligung aus.
Vielleicht lässt sich Peinlichkeit mit guter Vorbereitung abfedern. Ich sortiere die Sexszenen nach Härtegraden, von Stufe eins wie die “Sexy Sport Clips” im Sport1-Nachtprogramm bis Stufe fünf: “Two Girls one Cup”. Ich überlege, was ich fragen kann, um Sekunden schmerzhafter Stille am Ende einer Passage nicht zuzulassen. Als Medizinerin könnte mir meine Mutter zum Beispiel erklären, wo die gesundheitlichen Risiken beim Geschlechtsverkehr mit Tieren liegen.
Wir sitzen uns am Wohnzimmertisch gegenüber. Kurzes Vorgespräch wie bei einem professionellen Interview: Ob sie vorhatte, Serotonin zu lesen?
“Nein, in den letzten Tagen habe ich unzählige Besprechungen im Radio gehört. Das ist pure Pornografie und hat mich schon bei Elementarteilchen befremdet.”
Also keine positiven Erwartungen?
“Nein. Ich habe mir nur vorgenommen, es für dich durchzuziehen. Gegenfrage: Bist du dir sicher, dass es das wirklich wert ist?”
Keine Ahnung.
Die Hauptfigur in Serotonin heißt Florent-Claude, ein griesgrämiger Mann jenseits der 40. Wenn er sich nicht gerade über das Rauchverbot in Hotels aufregt, zieht er über seine japanische Freundin Yuzu her. Houellebecqs dritte Ehefrau ist übrigens Chinesin. “Weiß ich doch alles, jetzt sieh zu”, fordert meine Mutter.
Alles klar, du hast es nicht anders gewollt. Erste Szene: Florent liegt am Strand und hat eine Sexfantasie mit einer Spanierin, die ihm bei der Anreise an der Tankstelle begegnet ist: “Die Brünette” würde sich nicht an den “Wülsten der fetten deutschen Rentner” stören, sondern Florent das “gloriose Spektakel ihres perfekt gerundeten Hinterns, ihrer arglosen, aber nichtsdestoweniger epilierten Muschi” darbieten.
Ich schaue hoch. Meine Mutter wirkt gefasst. Ihr Gesicht zeigt keine Regung. Ich lese weiter. Florent und die “gehorsame Tochter Israels” haben sich in der Zwischenzeit vom Ufer und den anderen Badegästen entfernt. Sie gibt ihre “feuchten Weichteile” seinem “triumphalen Phallus” hin. Danach gibt es im Restaurant “Arroz con Bogavante” (Reis mit Hummer), lecker!
“Schrecklich plump”, sagt meine Mutter. Klischeehaft, die Beschreibung Yuzus: die japanische Porzellanhaut, ihr “scharlachroter” Lippenstift. Der Kontrast zwischen den fettleibigen deutschen Rentnern und der knackigen Spanierin. Ich stimme ihr zu. Und bin erleichtert, dass wir lieber über die Stereotypen von Urlaubern als über die “epilierte Muschi” diskutieren.
Die nächste Passage macht mir wirklich Angst. Ich druckse ewig herum.
Also: Florent kommt aus dem Urlaub zurück, er entdeckt Videos in Yuzus E-Mail-Postfach. “Das wird jetzt echt hart”, sage ich. “Das kann ich schon aushalten”, sagt meine Mutter.
“Jedenfalls masturbierte Yuzu auf einer Ottomane, bevor sie sich auf den mit einem irgendwie persisch gemusterten Teppich bedeckten Boden gleiten ließ, wo sie ein Dobermann mittleren Alters mit der seinen Rasse eigenen Energie penetrierte.”
Kurzer Blick zu meiner Mutter. Sie schaut mich nicht mehr an, sondern malt beschämt kleine Kringeln in einen Notizblock. Unser Hund Uwe liegt nicht wie üblich mit seinem Kinn auf meinen Füßen, sondern hat sich in seinen Korb zurückgezogen.
“Dann änderte sich der Kamerawinkel, und während der Dobermann es ihr weiter besorgte (Hunde ejakulieren von Natur aus sehr schnell, aber die Möse einer Frau muss erhebliche Unterschiede zu der einer Hündin aufweisen, er kam damit nicht so gut zurecht) streichelte Yuzu die Eichel eines Bullterriers, bevor sie sie in den Mund nahm.”
Sekundenlanges, hilfloses Schweigen. Dann endlich eine Reaktion meiner Mutter: “Das ist einfach nur ekelhaft und widerwärtig. Dieses Triebhafte, die Sprache, die kalkulierte Provokation, alles.”
Meine Mutter leidet und mir fällt nichts mehr ein. Komplette Leere. “Was ist eigentlich eine Ottomane?”, frage ich irgendwann. “Ein Liegesofa”, erklärt meine Mutter. Achso. Wir starren aneinander vorbei an die Wände.
Es konnte aber ja auch keiner ahnen, dass Serotonin selbst für Houellebecqs Verhältnisse vulgär ist. Trotzdem, hätte ich mich nicht einfach an den Straßenkodex halten können – und die Mutter aus dem Spiel lassen?
Schnell in die nächste Szene retten, bevor mich mein schlechtes Gewissen erdrückt. Nach Yuzus hündischen Eskapaden trennt sich Florent still und heimlich von ihr. Er denkt darüber nach, wie Yuzu wohl ohne ihn als Versorger überleben würde und welchen Stundentarif sie als “Nutte” veranschlagen könnte. Schwachstellen, so sieht es Florent, hat Yuzu vor allem beim Deepthroat:
“Wenn man will, dass der Schwanz komplett von Fleisch umschlossen ist, gibt es ja immer noch die Möse, die ist dafür gemacht. Die Überlegenheit des Halses, die in der Zunge besteht, wird in der geschlossenen Umgebung des Deepthroats, in welcher die Zunge ipso facto jeder Handlungsmöglichkeiten beraubt ist, ohnehin aufgehoben (…).”
Der Schock über Yuzus Tierliebe motiviert mich, die Flucht nach vorne anzutreten.
Ich biete meiner Mutter an, ihr zu erklären, was ein Deepthroat ist, wenn sie mir dafür bei “ipso facto” auf die Sprünge hilft. “Ich weiß sehr gut, was ein Deepthroat ist. Und du kannst es nicht mal aussprechen.” Mit dem englischen Th habe ich in der Tat ein kleines Problem.
Jetzt schmunzelt meine Mutter ein bisschen. Über meinen Sprachfehler und die Naivität, mit der ich ihre Sexkenntnisse unterschätzt habe. Über die Frage, woher sie das weiß, denke ich in diesem Moment gar nicht nach. Stattdessen will ich von ihr wissen, was ist eigentlich ein Schaft? Auch so eine Sexvokabel, die mir zuerst bei Houellebecq begegnet ist.
Meine Mutter, als Ärztin vertraut mit der männlichen Anatomie, hat eine Antwort parat: “Der Penisschaft ist der Teil zwischen Eichel und Peniswurzel”. Aha, hätten wir das auch geklärt. Dann können wir ja zu den Inhalten kommen.
Seit ich Serotonin aufgeschlagen habe, frage ich mich, was ich an den Romanen des Autors überhaupt mal geschätzt habe. Die männlichen Hauptfiguren, meistens ebenso einsame und verbrauchte Gestalten wie Florent, waren es nicht. Sondern die zynische, aber treffende Beschreibung ihrer Umgebung. Houellebecq hat einen guten Riecher für die Themen, die seine Leser umtreiben. In Unterwerfung entwirft er ein Untergangsszenario, in dem die Spaltung der Gesellschaft zur Abschaffung der Demokratie führt. Und eine Islampartei Frankreich in einen Staat nach dem Vorbild Saudi-Arabiens umbaut.
Auch Serotonin bietet eine politische Rahmenhandlung. Florents Studienfreund Aymeric hat den Milchbauernhof seiner Eltern in der Normandie übernommen, anstatt wie Florent für das Landwirtschaftsministerium und die EU zu arbeiten.
Die Geschäfte der Landwirte laufen schlecht, weil brasilianische und irische Milch den Markt überschwemmen. Um sich gegen die ausländischen Importe zu wehren, blockieren die Bauern die Zufahrtswege mit ihren Nutzfahrzeugen.
Im Zusammenhang mit den Protesten der “Gelbwesten” wird einem als Leser klar, dass hinter der Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung mehr steckt, als der bloße Unmut über Macrons Ökosteuer auf Benzin. Doch auch Houellebecqs brandaktuelle Kritik an Freihandel und EU wird unser Interesse an Serotonin nicht mehr wecken. Und eine Szene haben wir noch vor uns.
Florent, dessen seelischer Zusammenbruch mittlerweile nur noch die Höchstdosis des Antidepressivum “Captorix” aufhalten kann, wohnt inzwischen auf dem Bauernhof seines einzigen Freundes: Aymeric. In den anliegenden Ferienhäusern gibt es noch einen weiteren Gast. Ein in sich gekehrter Ornithologe, der täglich ein kleines Mädchen in seinem Waldhäuschen empfängt und auf dessen Festplatte Florent einen hausgemachten Kinderporno entdeckt.
Meine Mutter nimmt die Passage relativ gelassen auf, während ich mich schon bei dem Wort “Knospung” in das Buch übergeben möchte.
Am Inhalt des Videos stößt sich Florent nicht, er bemängelt lediglich die schlechte Kameraführung des Hobbyfilmers: “Es hatte fast keine Brüste, das heißt, man konnte eine leichte Knospung erkennen. (…) Das Mädchen (…) schob sich einen oder zwei Finger hinein, dann streckte sie sich die Finger in den Mund und lutsche ausgiebig daran herum (…).”
Meine Mutter nimmt die Passage relativ gelassen auf, während ich mich schon bei dem Wort “Knospung” in das Buch übergeben möchte. Houellebecq hat mal geschrieben: “Niemals liefert man sich in einem Gespräch so restlos aus, wie man sich einem leeren Blatt ausliefert.” Hätte er Serotonin seiner Mutter in die Feder diktiert, wäre dabei vielleicht ein jugendfreier Roman entstanden.
Trotz der vielen kaum erträglichen Augenblicke fällt uns beiden auf, wie leicht Eltern und Kinder über gewöhnlichen Sex sprechen können, wenn sie unter den Nachwirkungen von Houellebecqs hemmungslos übertriebenen Hardcorepassagen stehen. Und dass man auch über Sex sprechen kann, ohne jede Hautfalte an der “Muschi” der Sexualpartnerin in die Erzählung miteinzubeziehen.
Es gibt Sexpraktiken oder Fetische, über die müssen sich Eltern und Kinder nicht austauschen. Und es gibt Bücher, die so schamlos Skandale produzieren wollen, dass ihre dünne Handlung hinter der Krawallmacherei zurückfällt. Serotonin ist so eins.