Am 21. Dezember 2015 postet der Minecraft-YouTuber LionMaker Nacktbilder von einem seiner minderjährigen Fans auf Twitter. „Ich habe euch alle an der Nase herum geführt und dabei eine Menge Kohle verdient”, kommentiert der YouTuber mit über 600.000 Abonennten seinen Post. In einem anderen Tweet wird er deutlicher: „Seit sie 15 ist, hatten wir immer wieder Kontakt sexueller Art über Skype.” Als die Tweets endlich gelöscht wurden, hatten eine Menge Menschen sie bereits gesehen—darunter ebenfalls viele minderjährige Fans.
Minecraft, das sich allein in der PC-Version über 22 Millionen Mal verkauft hat, erfreut sich insbesondere unter Jugendlichen großer Beliebtheit. Mehr als die Hälfte aller Spieler sind unter 15 Jahre alt. Seinen Erfolg hat das Spiel zum Großteil einer wachsenden Community von YouTubern und Twitch-Nutzern zu verdanken, die kommentierte Gameplay-Videos hochladen und live mit Fans chatten oder skypen.
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Ein genauerer Blick auf die Geschichte um LionMaker zeigt jedoch nicht nur, wie der YouTuber seinen Ruhm nutzte, um Nacktbilder seiner minderjährigen Opfer zu verbreiten. Schnell ist klar: Es ist nicht das erste Mal, dass ein Erwachsener das Spiel nutzt, um Jugendliche sexuell zu belästigen.
„Er ist ein Raubtier. Er sitzt da am Rechner, nimmt seine Beute ins Visier und schlägt zu.”
LionMaker, der eigentlich Marcus Wilton heißt, ist 27 Jahre alt und lebt in Belgien. Seine Clips wurden über 200 Millionen Mal angeschaut. Jeden Tag verbringt er Stunden damit, bei Minecraft und in Skype-Chats mit seinen minderjährigen Fans abzuhängen. Wer an diesen Privatchats teilgenommen hat, weiß zu berichten, wie launisch der nach außen hin so vergnügt wirkende LionMaker sein kann. Es kommt vor, dass er plötzlich Spieler anblafft, weil sie seinen Ansprüchen nicht gerecht werden oder in eine Litanei über seine eigene mentale Instabilität verfällt. Nichts davon findet einen Weg in LionMakers öffentliche Clips.
Das junge Mädchen, dessen Nacktbilder der YouTube-Star auf Twitter postete, ist im Netz als „Paige Thepanda” bekannt. Ihre Familie ging polizeilich gegen LionMaker vor. Sie sei überzeugt, dass der Belgier die mittlerweile 16-Jährige ausgenutzt hat, so ein Familienangehöriger, der nicht namentlich genannt werden möchte, gegenüber Motherboard. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie mitgenommen sie ist. Was er mit ihr gemacht hat, gleicht einer Gehirnwäsche. Wir wollen einfach, dass er sich von ihr fern hält.”
Doch Paige war nicht die einzige Minderjährige, mit der LionMaker „befreundet” war.
Die 12-jährige Chantelle Wiseman chattete im Jahr 2014 das erste Mal mit LionMaker, berichtet ihre Mutter gegenüber Motherboard. Sie hätten sich insbesondere dann geschrieben, wenn einer von ihnen down gewesen sei und sich über ihr Leben ausgetauscht. „Worüber Kids eben so schreiben”, erklärt Chantelles Mutter, Suzie Wiseman.
Die nächtliche Drohung
Für viele Teenager ist LionMaker ein Idol. Als ihre Tochter sich mit ihm anfreundete, beunruhigte das die 52-Jährige nicht weiter. „Er ist berühmt. Also dachte ich, das ist schon in Ordnung. Ist doch süß, wenn er den Kids eine Freude macht.” Aber dann, am 12. Juni des vergangenen Jahres, bat der YouTuber Chantelle um Nacktfotos. Suzie berichtet, LionMaker habe ihrer Tochter zunächst Direktnachrichten über Twitter geschickt, später dann Kontakt über Skype zu ihr aufgenommen und darum gebeten, sie möge das geheim halten. „Das war ein klares Zeichen, eine Warnung”, sagt Suzie. Die Mutter mischte sich ein und gab sich zu erkennen. „Tust du häufiger so, als wärst du deine Mutter?”, soll der 27-Jährige geantwortet haben. „Kannst du mir Nacktbilder schicken?”
Suzie Wiseman ist mittlerweile überzeugt, dass LionMaker gezielt die Unsicherheit von Kindern ausnutzt. „Er ist ein Raubtier. Meine Tochter hat keinen Vater mehr. Sie ist lieb und verletzlich. Er sitzt da am Rechner, nimmt seine Beute ins Visier und schlägt zu.”
„Die anderen YouTuber wissen was los ist. Aber sie schweigen, weil sie mit ihm arbeiten und Kohle machen wollen.”
Und auch Stephen Cheenks gibt an, seine Gespräche mit dem YouTuber hätten eine unangenehme Wendung genommen. Der 16-jähriger Minecraft-Fan aus Kalifornien hatte im Alter von 15 Jahren begonnen, mit LionMaker zu chatten.
„Er ist sehr geschickt darin, Mitleid zu erregen und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen”, so Stephen gegenüber Motherboard. „Ich hatte mit Depressionen zu kämpfen und er erzählte mir, dass es ihm einmal genauso gegangen sei. Wir haben rumgealbert. Naja, wie Bros eben. Dann sagte er, er würde in mein Haus einbrechen und mich vergewaltigen. Ich habe einen Riesenschreck bekommen, aber nicht weiter darüber nachgedacht.”
In derselben Nacht, in der LionMaker auch Chantelle Wiseman bedrängt haben soll, habe er ihm 500 Dollar für Frontalaufnahmen seines nackten Körpers geboten, sagt Stephen Cheenks. Der Jugendliche lehnte ab, aber da habe LionMaker das Geld bereits überwiesen. Ein aufgezeichnetes Gespräch mit einem PayPal-Mitarbeiter, das inzwischen nicht mehr bei YouTube auffindbar ist, schien diese Schilderung zu bestätigen.
Als Opfer auf der Anklagebank der YouTube-Follower
Als Wiseman, ihre Tochter und deren Freunde begannen, Screenshots zu posten und die Geschichte öffentlich zu machen, da lautete die vorherrschende Meinung im Netz, LionMaker müsse gehackt worden sein. Der YouTuber selbst sprang auf den Zug auf. Er habe die Nacht im Gefängnis verbracht—weswegen gab er nicht an—und sei zur selben Zeit von Hackern erpresst worden. Doch Suzie Wiseman wurde misstrauisch und stellte LionMaker auf seinen zahlreichen Kanälen nach.
Die Polizei nahm sich des Falls an. Die Beamten kamen jedoch zu dem Schluss, es lägen keine ausreichenden Beweise vor, um einzugreifen. Irgendwann blockte LionMaker Suzie Wiseman auf Twitter und Skype—eine Kontaktaufnahme war nun unmöglich. Auch als sie einmal Zeuge wurde, wie der Gamer bei einem virtuellen Meet & Greet auf Twitch mit Minderjährigen interagierte, war sie auf stumm geschaltet. LionMakers Fans beschuldigten ihre Tochter Chantelle inzwischen, die Twitter-Nachrichten gefakt zu haben. Das, so die Mutter, habe das junge Mädchen mindestens genauso verstört, wie der Missbrauch selbst.
Also kontaktierte Suzie den YouTube-Kanal „Drama Alert”. Es kam zum Schlagabtausch zwischen dessen Betreiber Keemstar und LionMaker. Der Belgier blieb bei seiner Story, behauptete sogar, er leide unter einer psychischen Erkrankung und dass man ihm beim Militär rausgeworfen habe, nachdem er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Außerdem würde er erpresst werden: Sein Erpresser versuche mit dieser Geschichte, Geld von ihm zu bekommen und habe Chantelle die anzüglichen Nachrichten geschickt, um ihn weiter zu kompromittieren und unter Druck setzen zu können. Die meisten Fans schienen LionMaker die Geschichte abzukaufen. Der Fall des Kaliforniers Cheenk war zu dieser Zeit noch nicht publik.
Der verzweifelte Befreiungsschlag
Am 21. Dezember schließlich, als mehrere Drama Alert Clips ihn immer wieder als Pädophilen an den Pranger gestellt hatten, meldete sich LionMaker mit einer schockierenden Twitter-Tirade zu Wort: „Ich bin ein perverser Pädo, der sich selbst umbringen sollte.” Ein anderer Tweet lautete: „Ich habe euch alle an der Nase herum geführt und dabei eine Menge Kohle verdient.” Weitere Statements erklärten, Drama Alert habe die ganze Zeit richtig gelegen. Es folgten zwei pornografische Fotos eines jungen Mädchens; eines in Unterwäsche, eines ganz nackt. Die Bilder wurden wieder entfernt, aber Paige bestätigte über Twitter, das sie es sei, die darauf zu sehen war.
Lion Maker tauchte unter, lud aber hin und wieder Clips auf seinem YouTube-Channel hoch. Zwei Wochen später veröffentlichte er eine Video-Erklärung—es sollte ein Befreiungsschlag sein, der seinen Namen wieder reinwäscht. In dem Video stritt er nicht etwa ein Verhältnis zu der minderjährigen Paige ab, vielmehr betonte er, dass es sowohl in Belgien als auch im Vereinten Königreich, wo Paige lebt, für einen 27-Jährigen legal sei, eine Beziehung zu einer 16-Jährigen zu führen. Dass es illegal ist und als Kinderpornographie unter Strafe steht, das Nacktfoto eines jungen Mädchens zu verbreiten, kommentierte er nicht.
LionMaker behauptete zudem, es sei erwiesen, dass die Nachrichten, mit denen er angeblich die Nacktfotos von Paige angefordert habe, von einer fremden IP stammten. Dabei kann eigentlich nur Twitter selbst einsehen, von welcher IP-Adresse Tweets und Nachrichten kommen. In beiden Fällen, also sowohl am 12. Juni—als Chantelle und Stephen unsittliche Nachrichten erhielten—als auch am 21. Dezember—als Nacktfotos von Paige im Netz auftauchten—sei er gehackt worden, so der Gamer. Des Weiteren warf er Chantelle vor, sie habe die Screenshots gefälscht. Aber wie kommt es, dass die angeblichen Hacker über Nacktfotos eines Mädchens verfügten, mit dem LionMaker tatsächlich Kontakt hatte?
LionMaker: Kein Einzelfall
Auch weitere Fälle geben Grund zu der Annahme, dass die YouTube Community für Kinder nicht sicher sei. So wurde beispielsweise Lee Carson, alias „L for Leeeeee” des sexuellen Missbrauchs überführt und verurteilt. Als er Drohnachrichten und obszöne Fotos über seinen Kanal mit 350.000 Abonnenten verschickte, war er selbst erst 16 Jahre alt. Carson brach damals sogar in das Haus einer Frau ein, um sexuelle Handlungen an ihrer Unterwäsche vorzunehmen. „Ich weiß, du und ich würden alles tun, um dich zum Schreien zu bringen”, schrieb er einer 18-Jährigen.
„Sie tat mir leid. Also habe ich mich eine Weile mit ihr unterhalten. Sie WILL das Opfer sein.”
Leider gibt es noch mehr Schauergeschichten. Yamimash wird beschuldigt, obszöne Nachrichten und Fotos an eine 14-Jährigen geschickt zu haben. Der 26-jährige YouTuber, der auf seinem Kanal mit 1,3 Millionen Abonnenten Minecraft und andere Spiele zockt, nutzte seinen Channel, um den Spieß umzudrehen. Ja, er habe zwar mit der 14-Jährigen geflirtet, aber sie sei manipulativ gewesen und habe ohnehin älter ausgesehen, als sie war. „Sie tat mir leid. Also habe ich mich eine Weile mit ihr unterhalten. Sie WILL das Opfer sein.” Nur ein netter Onkel also, ganz so wie LionMaker? Seine Fans zumindest scheinen Yamimash zu glauben, dass er der Minderjährigen aus reiner Nächstenliebe sextete.
Craig Thompson aka Miniladdd, 21 Jahre jung und 2,6 Millionen Abonnenten schwer, gestand, derselben 14-Jährigen Nachrichten geschickt zu haben. „Deine Brüste sind echt lecker”, schrieb er. Um sich zu verteidigen gab er später an, das Mädchen habe sich umbringen wollen. „Also versuchte ich ihr zu zeigen, dass das Leben lebenswert ist.” Auch hier zeigen die Kommentare seiner Fans, dass sie mit seiner Erklärung der Vorfälle zufrieden sind.
Die Gaming-Industrie ist ein Millionen-Business. Die besten Vlogger verdienen jedes Jahr siebenstellige Summen. Auf so großem Fuß lebt LionMaker vielleicht nicht. Dennoch hat er eine ungemeine Macht in der Community der Gamer. Wenn Stars wie er des Missbrauchs beschuldigt werden, schauen die Fans leider allzu oft demonstrativ in die andere Richtung.
Die Szene habe gewusst, dass LionMaker minderjährigen Fans nachstellte, behauptet Jason Leisure. Er ist ebenfalls Minecrafter und war einmal mit LionMaker befreundet. „Die anderen YouTuber wissen was los ist. Aber sie schweigen, weil sie mit ihm arbeiten und Kohle machen wollen”, erzählte er Motherboard via Skype. Zu derselben Schlussfolgerung kommt auch Stephen Cheenks, der 16-Jährige, dem LionMaker 500 Dollar für Nacktbilder angeboten haben soll. „LionMaker ist ein YouTube-Star. Er hat Connections. Er hat einen erfolgreichen Channel, er ist berühmt. Da geht’s um viel Geld. Die Leute halten dicht, weil sie wissen: Wenn er fällt, dann fallen wir auch.”
Auch Suzie Wiseman klagt: „Wo sind die großen Jungs? Warum gehen sie nicht dagegen an? Sie müssen Lion nicht einmal namentlich erwähnen, es reicht die Message [als Warnung] nach da draußen zu bringen.” LionMaker selbst hat zwei Mal die Gelegenheit verpasst, Motherboard seine Sicht der Dinge zu schildern. Er gab lediglich zu verstehen: „Mein Leben geht weiter. Solange YouTube es zulässt, werde ich meine Videos hochladen. Für mich liegt das alles in der Vergangenheit.” Wir baten LionMaker zudem um Belege für seine Erklärung, dass er die Nacht des 12. Juni im Gefängnis verbrachte. Auch dies lehnte er ab.
Ein Sprecher von Microsoft, das das Indie-Spiel Minecraft 2014 übernommen hat, erklärte Motherboard: „Die Sicherheit der Kinder und Jugendlichen zu schützen, die unsere Dienste nutzen, hatte für uns schon immer Priorität. Wir rufen alle Eltern dazu auf, aktiv darauf zu achten, was ihre Kinder online tun.”
Für Suzie Wiseman muss sich das wie ein Witz anhören. Sie war so aufmerksam, wie es eine Mutter nur sein kann und konnte trotzdem nicht verhindern, dass ihr Kind Opfer sexueller Belästigung wird. „Chantelle ist nicht mehr dasselbe Mädchen.”