Mini-Europa ist eine Touristenattraktion, in der die größten europäischen Wahrzeichen und historischen Ereignisse in Miniaturform bewundert werden können. Der Park liegt außerhalb von Brüssel, wurde teilweise von der Europäischen Union finanziert und stellt eine schäbige Imitation eines Ortes dar, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt: Europa, wie es sich ein paar Fantasten der EU vorstellen, harmonisch, wohlhabend und frei von Ideologie. Für den britischen Fotografen Lewis Bush—der kein großer Fan der EU in ihrer aktuellen Form ist—war es der perfekte Ort, um eine Reihe satirischer Postkarten zu fotografieren. In A Model Continent rückt er Mini-Europa—sowie die lebensgroße Version—in ein angemessen düsteres Licht.
Die utopischen Anwandlungen des Parks werden von seinem tatsächlichen Aussehen untergraben: ein verwelkender, verfallener Un-Ort. Bush hat sich einen grauen Dezembertag zum Fotografieren ausgesucht und den Postkarten keinerlei Informationen zum Kontext hinzugefügt, um so ein Europa abzubilden, das versucht, seine Widersprüche unter den Teppich zu kehren und kläglich daran scheitert. Zum Beispiel ist der Eurotunnel inzwischen bekannter für sterbende Flüchtlinge als für die großartige Leichtigkeit des innereuropäischen Tourismus. Dieses Symbol der rassistischen Doppelmoral erscheint als verrottende Plastikwanne voll algengrünem Wasser, unter der eine Modelleisenbahn hindurchfährt.
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Grundsätzlich ist das Erschaffen einer Miniaturwelt mit winzigen Menschen ein Symptom eines größenwahnsinnigen Geistes, der den Verstand verloren hat; es handelt sich um eine Macht, die sich legitimieren und ihre Mythen am Leben erhalten will. (Kein Wunder, dass der Trend der Miniaturdörfer etwa zur Zeit des Untergangs des Empires in Großbritannien aufkam.) Wie die großen Firmensponsoren und die ästhetischen Probleme Mini-Europas deutlich machen, offenbart uns der künstliche Kontinent all die Dinge, die er eigentlich verstecken will. Bei A Model Continent handelt es sich zweifelsohne um eine der komischsten Einmischungen in die EU-Debatte, die es je gegeben hat—auch wenn das, wie ich beim Interview erfahren habe, nicht die Absicht des Fotografen war.
VICE: Hi, Lewis. Wie hast du von diesem Ort erfahren?
Lewis Bush: Ich reiste 2012 durch Europa, weil ich an einem Projekt über ähnliche Themen arbeitete—es ging darum, dass die europäischen Staaten sich nicht angemessen mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben, dass es während der Eurozonen-Krise zwischen Ländern wie Deutschland und Griechenland diese unbewältigte historische Spannung gab.
Ich war für ein paar Tage in Brüssel und wollte mich mit etwas leichter Kost davon erholen, dass ich jeden Tag fotografierte. Der Freund, bei dem ich untergekommen war, sagte: “Warum siehst du dir diesen Ort nicht mal an? Die Sache ist irgendwie witzig.” Also ging ich hin und fand es total faszinierend. Es war die perfekte Metapher dafür, was ich in europäischen Ländern wie Griechenland und Spanien gesehen hatte: diese unbeholfene Unfähigkeit, der Vergangenheit ins Auge zu sehen.
Warum hast du eine Postkartenreihe daraus gemacht?
Als ich dabei war, es zu entwerfen, musste ich entscheiden, ob ich daraus einen richtigen Bildband oder ein Postkartenbuch zum Herauslösen machen wollte. Am Ende fand ich die Vorstellung, dass es vielleicht komplett auseinandergenommen wird, ziemlich gut. Mir gefiel auch die Vorstellung, dass manche vielleicht eine Postkarte an Freunde schicken würden, die extrem pro-Europa eingestellt sind.
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Wie waren die anderen Touristen dort so?
Es war ziemlich menschenleer, als ich dort war. Wahrscheinlich, weil es ein grässlicher Tag im Dezember war.
Und die Leute, die dort gearbeitet haben?
Davon gab es sogar einige. Wenn du reinkommst, wirst du erst einmal von einem Typen in einem riesigen Schildkrötenkostüm angefallen, ob du willst oder nicht. Das ist das Maskottchen des Parks; es sieht aus wie eine große orangefarbene Schildkröte. Ein großartiges Bild für die EU, denn was tun Schildkröten, wenn sie sich einer Gefahr gegenübersehen? Sie ziehen den Kopf in ihren Panzer und reagieren eigentlich gar nicht.
Dann gibt es da einen Mann mit einer Kamera, der rauskommt und dich fotografiert. Also habe ich jetzt zu Hause ein Bild von mir, in dem ich von einer Riesenschildkröte mit einem großen EU-Logo drauf umarmt werde.
Was war dein Lieblingsmodell?
Ich schätze, als Brite sollte ich jetzt wohl sagen, dass es die Klippen von Dover waren, mit diesem roten Mülleimer und dem Pfeil auf dem Boden. Ich war auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise ums Mittelmeer dort und in Großbritannien herrschte immer mehr die Einstellung “Macht die Grenzen dicht”. Es gab Leute, die sich ins Hemd machten, weil ein paar Leute durch den Eurotunnel krochen, als sei das eine Invasion oder so. Der Anblick der Klippen mit diesem Pfeil, der zu sagen scheint: “Bleibt in Bewegung, schön weitergehen, hier gibt’s nichts!” …. das fand ich ziemlich gut.
Irgendwie wirkt es nicht wie ein Zeichen eines gesunden Geistes, sich mit Miniaturwelten auseinanderzusetzen. Verliert Europa den Verstand? Dein Projekt wirkt wie existenzielle Kritik—als würde Europa gar nicht existieren.
Ich denke schon, dass es existiert. Viele Leute besitzen noch immer einen starken Willen, Europa zum Funktionieren zu bringen, was angesichts der vielen Probleme wie der Euro-Krise beeindruckend ist. Probleme werden die Europäische Union entweder auseinanderreißen oder sie auf lange Sicht stärken. Meine Hoffnung ist, dass die [diesjährige] britische Volksabstimmung zur EU-Mitgliedschaft am Ende dafür sorgt, dass Europa zusammenkommt und sich verbessert. Ganz gleich, wie es ausgeht, kommt aus Brüssel hoffentlich zumindest eine Reaktion wie: “Oh mein Gott, wir sind haarscharf an einem völligen Zusammenbruch vorbeigeschrammt. Wir müssen tatsächlich ernsthaft etwas ändern und auf die Kritik der Menschen hören.”
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