“Wofür zum Fick lebe ich überhaupt?”, denke ich, als mir der Über-Minimalist Matt D’Avella in einem YouTube-Video erklärt, dass die meisten Menschen nicht das richtige “Commitment” haben, um ihre Träume zu verwirklichen. In seinen Videos gießt er in langsam kreisenden Bewegungen heißes Wasser in einen Kaffeefilter, als wollte er sich selbst hypnotisieren. “Wenn du Erfolg nicht selbst definierst, wird es jemand anderes für dich tun”, sagt D’Avella auf Englisch und hypnotisiert dabei auch mich.
Als hauptberuflicher Minimalist hat der Filmemacher und Selbsthilfe-Coach D’Avella vor allem eine Botschaft für mich: Ich soll mein Leben besser machen, indem ich weniger besitze. Er selbst lebt in einer Wohnung, die so karg und unpersönlich aussieht wie ein Airbnb-Apartment, das zwölf Monate im Jahr allein von Feriengästen genutzt wird. Der Weg zu meinem “meaningful life” nach D’Avella lautet: fokussierter Konsum.
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Während ich darüber nachdenke, wie wichtig fokussierter Konsum für jeden einzelnen ist, kommt mir in den Sinn, wie Koalabären durch die Erderwärmung in Australien verkohlen; wie Mikroplastik in den Tiefen des Ozeans zuerst Shrimps und dann Wale und irgendwann vielleicht auch meine inneren Organe zerreiben; wie täglich Menschen an Durchfall sterben, weil sie einfach kein sauberes Trinkwasser finden. Auf den Abfuck der Zeit außerhalb des eigenen Kleiderschranks hat der Minimalismus offenbar keine Antwort.
Doch D’Avella beruhigt mich, ich soll mir darüber offenbar keine Sorgen machen: “Viel zu oft lassen wir uns von aktuellen Ereignissen mitreißen. Wir übersehen oft, was wirklich wichtig ist”, sagt D’Avella in einem YouTube-Video mit dem Titel “Wozu das alles?”. Und “wirklich wichtig” ist es seiner Meinung nach, sich die Maßstäbe für Erfolg nicht von großen Unternehmen diktieren zu lassen. Fragt sich nur, woher die Maßstäbe eines Minimalisten stattdessen kommen.
Minimalismus ist die Ästhetik der großen Konzerne
Was ich in meinem Leben offenbar dringend brauche, ist die perfekte Kaffeetasse. Die vollendete Bratpfanne mit Antihaft-Beschichtung, sie brät Eier sogar ohne einen Tropfen Öl. Ich brauche auch sechsmal das gleiche T-Shirt in der Schublade, sorgsam gefaltet, duftend nach Feinwaschmittel. “Wirklich wichtig” ist also ein Konsum, so konzentriert und rein, dass er meinem Leben endlich einen Sinn gibt. Während sich Matt D’Avella in kreisenden Bewegungen heißes Wasser in das einzige Trinkgefäß seiner sterilen Airbnb-Küche gießt, scheint er mir zu sagen: Ich habe mich unter Kontrolle, und der Rest dieser chaotischen Welt kann mir egal sein.
Natürlich darf ich mir in meinem Leben weiterhin Dinge erlauben, lehrt mich mein Guru. Aber nur, wenn ich sie durch Decluttering, Detox und Verzicht legitimieren kann. Erst dann habe ich mir meine Konsum-Sophistication verdient. Dahinter steckt so viel Arbeit, dass D’Avella damit ein ganzes, selbstgerechtes Influencer-Leben füllen kann. “Ich habe 30 Tage lang auf Zucker verzichtet“, heißt ein Video von D’Avella. Ein anderes: “Ich habe 30 Tage lang kalt geduscht“. D’Avellas Lebensstil scheint eine unerschöpfliche Quelle für Content zu sein – den man natürlich konsumieren kann. Wenn es um die Menge seiner Videos geht, ist D’Avella alles andere als minimalistisch.
Hinter seiner Lehre steckt in Wahrheit das ultimative neoliberale Dogma: Verändere nicht die Gesellschaft, sondern decluttere dein Leben. D‘Avella predigt damit eine glatte Welt, wie große Konzerne sie lieben. Ich stelle mir vor, wie D’Avella mit einem Blazer überm Muskelshirt in Apples Firmenzentrale einen Kreis auf ein Flipchart malt, um die Einfachheit seines Minimalismus zu symbolisieren. Die Apple-Executives applaudieren – samt Apple-Chef Tim Cook, der sich wünscht, D’Avella würde mal bei ihm den Badezimmerschrank ausmisten. Gewiss hofft auch Elon Musk, dass D’Avella ihm dabei hilft, den Mars minimalistisch zu besiedeln.
“Die Welt ist Maximalismus”
D’Avellas Ästhetik ist die der großen Konzerne, die er eigentlich kritisiert. Der neue Look des Google-Logos zum Beispiel ist reiner Minimalismus und zugleich Ausdruck kapitalistischer Macht. Das Logo sagt: Es gibt keine Schatten und Kanten, wir haben alles unter Kontrolle, wir sind offen, transparent und verheimlichen nichts.
Minimalismus ist der Look and Feel eines scheinbar makellosen Lebens, hinter dem sich tatsächlich Serverfarmen, Tausende Kilometer Starkstromleitungen und fünf Megatonnen Codes verbergen. Alles, was ich als Minimalist tun kann, ist Oberflächen aufzuräumen. Mein Schreibtisch ist staubfrei, mein Homescreen ist leer, aber am Abfuck der Zeit habe ich nichts geändert. Ich habe meinem Leben ein glattes Design verpasst.
Dazu kommt aber: Dieses Design muss man sich erst einmal leisten können. Um überhaupt Minimalist sein zu können, brauche ich nämlich maximale Privilegien – vor allem genug Zeit und genug Geld. Denn nur dann kann ich mir eine neue, eine beste Kaffeetasse zulegen und den angesammelten, irgendwie funktionalen Klumpatsch der letzten Jahre leichtherzig wegschmeißen. Ich kann nur mal eben 30 Tage lang auf Zucker verzichten, wenn ich genug Geld habe, um mir meine Lebensmittel frei auszusuchen. Bei näherem Hinsehen sind Minimalisten vor allem elitäre Kinder einer kapitalistischen Konsumgesellschaft, die ihrem Konsum eine glatte Nutzeroberfläche verpassen.
Marie Kondo hilft mir, mein Zeug zu bewältigen
Aber die Welt ist Maximalismus, und auch die Konzerne, die Einfachheit predigen und die Minimalisten, die auf den Plattformen dieser Konzerne ihre Videos hochladen, sind von Maximalismus umgeben. D’Avella scheint das zu verdrängen. Doch in D’Avellas Hosentasche, eng an den achtsam durchtrainierten Oberschenkel geschmiegt, befindet sich sein Smartphone, und dieses Smartphone ist das Portal zum größten und schönsten Clusterfuck aller Zeiten.
Da sind die Cum-Ex-Files nur einen Klick von Blaubeeren-Pornos entfernt, da teilen sich rassistische Bots mit Hentai-Profilbildern denselben Raum wie SPD-Politikerinnen, und auf YouTube werden die drölfzig neuen Hit-Singles von Capital Bra mit der gleichen Routine gelikt, geteilt und kommentiert wie die Verschwörungsvideos von Flacherdlern oder mikroskopische Aufnahmen von sterbenden Einzellern, die Millionen Zuschauende über die Vergänglichkeit allen Lebens nachdenken lassen. Das ist ziemlich viel auf einmal – aber kann es nicht auch einfach höllisch Spaß machen?
Diese Frage stellt uns Aufräum-Göttin Marie Kondo über das Chaos in unseren Wohnungen auch immer wieder, und ihre Lehre führt uns nicht in die Hölle des minimalistischen Konsums. “Does it spark joy?”, fragt Marie Kondo. Und wenn meine liebevoll auf eBay zusammengestückelte Sammlung winziger Pokémon-Plastikfiguren aus den frühen Neunzigern bei mir Freude auslöst, dann kann sie ruhig auf meinem Schreibtisch verstauben.
Kondo will, dass ich mich geschickt mit dem Maximalismus der Zeit arrangiere. Aufräumen ist bei Kondo kein Selbstzweck, sondern es hilft mir, den Alltag mit all meinem Zeug zu bewältigen. Zeug, das Erinnerungen weckt und meinen Mitbewohnern im Weg liegt, unperfektes, lieb gewonnenes Zeug. Ich lümmele auf dem Bett vor meinem überquellenden, aber durchsortierten Kleiderschrank, während in der Küche Ketchup auf meinen Tellern eintrocknet, scrolle durch meine Social-Media-Feeds und frage mich: Does it spark joy? Die Antwort habe ich schon längst gespürt: Yes.
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