Der Zaubertrank
Hamburgs psychoaktive Szene trifft sich im Zaubertrank. Normale Öffnungszeiten gibt es nicht. In der Regel wird um 24:00 Uhr geschlossen.

Kaufen darf man erst, wenn man eine etwa zweistündige Einweisung erhalten hat. Schließlich muss jeder Kunde wissen, worauf er sich im »Zaubertrank« einlässt.
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Der Chef mit einer Flasche Mampe
Gottseidank gibt es eine Ausnahme: der Erwerb einer alten Alkohol-Rarität. Sie bekommt man bereits, wenn man persönlich beim Chef vorspricht. Wer sich diesen freilich wie einen leicht trotteligen älteren Herrn vorstellt, irrt gewaltig. Hans-Georg Schaaf wäre eher die Idealbesetzung in »True Blood«, Staffel zwei—hätte es die Rolle eines etwas schwerfüssigen Dionysos gegeben, welcher im Kreise schmiegsamer Mänaden weibliche Besessenheitskulte zelebriert.
Womit wir schon beim Hopfen wären, Schaaf kann ihn nicht ausstehen. »Er dämpft das sexuelle Verlangen des Mannes, deshalb wird bei mir prinzipiell ohne Hopfen gebraut.«, betont er. Wer bei ihm einen Kurs in mittelalterlicher Braukunst bucht, wird mit Haferbieren belohnt, die leicht anregend, aufputschend und sexuell stimulierend wirken. Aber deswegen sind wir nicht hier. Oder doch?

Noch besser: Absinth
Vor mir steht eine Likörschale von Mampe Berlin, in dem ein ein Zentimeter hoher Spiegel alten Mokkalikörs steht. Das Aussehen der Flasche lässt vermuten, dass sie den 1930er Jahren entstammt. Ehrfürchtig hebe ich das federleichte Glas. À votre santé. Es folgt eine Geschmacksexplosion an Gaumen, in Nase, Rachen und Seele. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich hier das Beste von Kaffee und einer reifen Spirituose zu etwas Einzigartigem vermählt.

Blue Mountain Coffee Liqueur
Beim Feuern der Synapsen verschalten sich die Neuronen neu und ich verstehe plötzlich, warum man mit der Besessenheit eines Hedgefonds-Managers nach altem Alkohol jagen kann.

Mit Mandrágora kann man fliegen. Echt!
Auf die unterschiedliche Rauschigkeit von Bittern, Schnäpsen oder Bränden angesprochen, sagt Schaaf: »Es geht doch nicht ums breit sein, sondern um den Genuss.» Wie bitte? In diesem mit Wissen über spirituell nutzbare Substanzen (Entheogene) vollgestopften Raum, der sich in einem monströsen 70er-Jahre-Betonbau in der Hamburger City Nord verbirgt, zählt allein der Genuss?

Der Zaubertrank in Hamburg
Im Schweinwerferlicht inquisitorischer Fragen lässt sich Schaaf, von Haus aus Diätkoch, schließlich eine der Pflanzenbotschaften seiner Lieblingsspirituose entlocken: »Der Absinth läßt den Mann die Schönheit der Frau noch mehr bewundern und hilft der Frau ihre Freude am Mann zu steigern.» Na also.

Wacholderschnaps
Der Wermutstropfen: »Das gilt lediglich für Absinth aus eigener Herstellung oder für jenen aus pontischem Meeresbeifuss hergestellten, der nicht vom Absinth-Verbot des Jahres 1915 betroffen war.« Mit anderen Worten: Die ganze Industrieware, die man uns Otto Normalverbrauchern vorsetzt, kannst du in die Tonne treten.

Preis Verhandlungssache
Es sind Sätze wie diese, die den Magnetismus erklären, welchen der Zaubertrank auf eingeweihte Kunden ausübt.

In seinen schummrigen Hallen, zu unbestimmbaren Anteilen Bar, Kelterei, Brauküche, Heilpraxis, Bibliothek und Hafenbasar, bieten Schaaf und seine Frau Antje in jeder Hinsicht Raritäten – auch unter dem Namen »The Real Thing« bekannt.

Magendoktor aus der Apotheke
Wer einmal das Bier unserer Vorfahren gekostet hat, kehrt mit Sicherheit in den »Zaubertrank« zurück. Grund: sowas gibt’s nirgendwo sonst.
Wir aber kehren zurück zum raren Alkohol. Mänadengleich folge ich dem Meister in die Untiefe eines Lagerraums. Myriaden kleiner und großer Flaschen warten in grob geschreinerten Regalen auf ihre Wiederentdeckung.

Maurerschweiss
Sie stammen aus Haushaltsauflösungen, vom Flohmarkt oder werden von Freunden vorbei gebracht. Ich lerne, wass eine Rarität am attraktivsten macht: wenn nichts Konkretes drauf steht. Schaaf reicht mir eine Flasche »Maurerschweiss«.
Ausser dass der Inhalt irgendwann von Bauunternehmer Peter Graue destilliert wurde, erfährt man lediglich: »Rum muss, Zucker kann, Wasser braucht nicht.« Vermutlich ein Rum – aber um das auszuprobieren, müsste man die Flasche kaufen. Das wäre wie teuer? Der Preis ist Verhandlungssache.

Pelinkovac aus Istrien
Auf seiner Website schreibt Schaaf, dass »ein alter, guter Brandy gelegentlich 250,00 Euro und ein alter Absinth schnell mal eine vier- bis fünstellige Summe» wert sei.
Davon angestachelt erbeute ich eine Miniflasche Absinth aus dem ehemaligen Jugoslawien.
»Am besten gleich morgens auf nüchternen Magen trinken«, empfiehlt er«
Ähnlich wie Spanien und Portugal war das Land niemals von dem europäischen Absinthverbot betroffen. Schaaf schätzt, dass das Fläschchen etwa 70 Jahre alt sei. »Am besten gleich morgens auf nüchternen Magen trinken«, empfiehlt er.

Ich gestehe: Ich habe noch nie Absinth getrunken. Jetzt bietet sich mir die einmalige Gelegenheit, mit dem ersten Schluck Absinth in ein vorindustrielles Alkoholzeitalter einzutauchen. Die Mampe-Erfahrung hat gezeigt, dass ein alter Alkohol wirklich etwas Besonderes ist. Deshalb bin ich bereit, für das Minifläschchen zwanzig Euro zu zahlen. Schaaf, ein gewiefter Verhandler, willigt blitzartig ein. Aber da er ein netter Dionysos ist, gibt er mir ein Fläschen Absinth aus eigener Herstellung zum Vergleichen mit. »Grüne Fee«, ich komme! Mal sehen, ob das mit den Männern und den Frauen stimmt.

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