Eigentlich war es Zufall, dass Miron Zownir mit dem Fotografieren anfing. Ende der 1970er war er von Karlsruhe nach Westberlin gezogen. Von zwei Filmhochschulen abgelehnt, lieh er sich die Kamera seiner damaligen Freundin aus und fing an, Sexclubs, Drogenabsteigen und das Nachtleben zu fotografieren. Zownir war beeindruckt vom Geist des Punk. Er hielt mit seinen Fotos eine utopische Vision von Anarchie und nihilistischer Selbstzerstörung fest.
1980 zog der “Poet der radikalen Fotografie”, wie ihn Drehbuchautor Terry Southern nannte, nach New York. Es war die Zeit, in der die Stadt zu neuen dekadenten Höhen auflebte. Die Mieten waren bezahlbar. Die weiße Mittelschicht war in die Vororte geflohen, Künstler und andere junge Menschen aus aller Welt hatten ihren Platz eingenommen. Niemand hatte von AIDS gehört.
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Zownirs Bilder zeigen Menschen vom Rand der Gesellschaft. Im Interview spricht Zownir über seine Zeit im East Village und warum man es früher einfacher hatte, sein Glück einfach woanders zu suchen.
Warum bist du 1980 nach New York gezogen?
Miron Zownir: Nachdem ich in Berlin und London gelebt hatte, verkörperte New York für mich alles, was eine Stadt einem bieten konnte. Im Gegensatz zu heute konntest du in den 1970ern und 80ern noch in fast jede Stadt der westlichen Hemisphäre reisen, ohne Kontakte oder substanzielle Rücklagen zu haben. Du musstest nur abenteuerlustig, mutig oder verzweifelt genug sein, um dein Glück zu versuchen.
Die Mieten waren bezahlbar und Charisma zählte mehr als akademische Expertise. New York hat mich sofort umgehauen. Es war schnell, wild, unvorhersehbar und verrückt; ein Dschungel, in dem ein rebellisch-hedonistischer Geist fast apokalyptischen Ausmaßes herrschte. Mit dem Ausbruch von AIDS änderte sich alles. Und ab Mitte der 80er setzte dann auch der rücksichtslose Gentrifizierungsprozess ein.
Wie war dein Leben in New York?
Ich habe achteinhalb Jahre im East Village gelebt, direkt hinter einem Hauptquartier der Hell’s Angels. Ich habe als Türsteher in der Danceteria gearbeitet, an der Tür vom Mudd Club, als Abrisshelfer, als Bodyguard, Model, Escort und vieles mehr. Einige meiner Jobs sind zu bizarr, um sie hier aufzuzählen.
Ich habe nie nach Auftrag gearbeitet, sondern immer nach meinen eigenen Regeln. Einige meiner frühen Arbeiten sind im Village Voice, East Village Eye und New York Native erschienen. Darüber habe ich Kontakte zur Kunstszene bekommen. Das East Village war damals eine der lebendigsten, exotischsten und aufregendsten Gegenden von New York. Aber die Menschen wurden dort auch ausgeraubt, drogenabhängig oder umgebracht. Es war keine Komfortzone.
Hattest du ein fotografisches Konzept für deine Arbeit?
Das brauchte ich gar nicht, die Geschichten erzählten sich von selbst. Ich musste nur ihren Geist und ihre Energie einfangen, ohne dabei den Respekt für die Protagonistinnen und Protagonisten zu verlieren. Mein Ansatz war immer schon intuitiv und subjektiv mit einem starken Sinn für einen ästhetischen Wert, auch in den absurdesten Situationen.
Was war die bizarrste Begegnung, die du beim Fotografieren hattest?
Es gab so viele. Da war zum Beispiel Lincoln Swaydos, der schlechteste und nervigste Straßenmusiker im ganzen East Village. Er hatte einen Arm und ein Bein verloren, als er vor einen Zug gesprungen war. Er spielte so aggressiv, als wolle er allen anderen das Leben zur Hölle machen. Da er in meiner Nachbarschaft wohnte, wurden wir Bekannte. Immer wenn ich ihn etwas fragte, diskutierte er die Antwort zuerst mit seinem Kater Satchmo.
Er lebte in einer heruntergekommenen, zugemüllten Wohnung und schlief in der Badewanne. Eines Tages bat er mich, als ich ihn fotografierte, meine Schuhe auszuziehen, und masturbierte, während Looney Tunes im Fernseher lief. Bevor ich nach L.A. zog, erzählte er mir, dass sein Vermieter ihn aus seiner Wohnung schmeißen wolle, er würde aber nie gehen. Als ich später bei ihm vorbeifuhr und seine Wohnung von außen versiegelt sah, sagte ich zu meiner damaligen Frau: “Lincoln ist tot.”
Zwei Tage später fand ich heraus, dass er sich geweigert hatte, die Wohnung zu verlassen. Er war erstickt, als Arbeiter das Gebäude sanierten. Einige Zeitungen spekulierten, dass der Besitzer des Gebäudes wahrscheinlich gewusst habe, dass Lincoln noch in seiner Wohnung ist.
Wie hast du die Veränderung von New York in den 80ern erlebt?
Ein Beispiel dafür ist ein Erlebnis mit dem deutschen Tenor Klaus Nomi, den heute viele vor allem durch David Bowie kennen. Ich kannte ihn von der Danceteria, dort war er Stammgast. Nomi meinte eines Tages zu mir: “Ich gehe für eine große Fernsehsendung nach Deutschland, die wird auf der ganzen Welt ausgestrahlt.” Er war sich sicher, kurz vor seinem internationalen Durchbruch zu stehen. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Bald darauf gab es in der Danceteria eine Benefizparty für ihn. Er hatte AIDS im Endstadium.
Kurz nach seinem Tod, 1983, waren die Straßen von New York voll von elektronischen Anzeigetafeln, auf denen die Zahl der AIDS-Toten stand. An einem Tag waren es 50.000, kurz darauf schon 70.000. Alle in New York hatten Angst und wurden paranoid. Dazu stieg die Zahl der Wohnungslosen und Cracksüchtigen an. Es gab immer mehr Raubüberfälle und Polizeirazzien.
Es war, als sei New York plötzlich von einem Fluch sinnloser Zerstörung heimgesucht worden, einem unsichtbaren Feind von allem, was optimistisch, sorglos und gewagt war.
Auf Miron Zownirs Homepage und der Seite der Kölner Galerie Bene Taschen erfährst du von anstehende Ausstellungen.