In Hamburg ist der Alltag zurück zur Normalität gekehrt – die Staatschefs sind mitsamt ihren hundertköpfigen Delegationen abgereist und mit ihnen die rund 100.000 Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen Widerstand gegen das umstrittene Treffen geleistet haben. Mit dabei war auch mein alter Freund Avi, der mit seiner Geige nach Hamburg gereist ist, um den G20-Protest musikalisch zu unterstützen. Zusammen mit Ahmed – seinem bärtigen Partner in Crime und Bandkollegen von Bukahara – nahm er den Besuchern ihres Konzerts im Gängeviertel, ein kultureller Freiraum in der Innenstadt, für kurze Zeit den Helikopterlärm aus den Ohren und kreierte so mitten im Tumult einen temporären Ort der Erholung. Wir wollten vom Exilschweizer aus Berlin wissen, wie er den Protest erlebt hat, was er in seiner Rolle als Musiker zum Protest beitragen kann und welche Erinnerungen bei ihm an das Wochenende nachhallen werden:
Noisey: Wie hast du die Proteste selber erlebt?
Avi: Ich habe im Zuge der Proteste vier Tage in Hamburg verbracht. Es war eine intensive Zeit. Es war krass zu sehen, wie stark die Stadt militarisiert wurde. Überall waren Polizisten in Ganzkörperschutz stationiert und Helikopter kreisten pausenlos über der Stadt. Das Versammlungsrecht wurde für die Zeit des Gipfels grossflächig aufgehoben. Am Boden spielten sich die unterschiedlichsten Protestformen ab, die von verschiedenen Gruppierungen getragen wurden. Besonders beeindruckt hat mich unter anderem die Performance der “1.000 Gestalten”, die Rave-Demo “Lieber Tanz ich als G20”, an der über 20.000 Menschen teilnahmen und an der es 15 Lautsprecherwagen und Glitzerkanonen gab, sowie die ansatzweise erfolgreiche Blockade der Anfahrtsstrecken der Gipfelteilnehmer am Freitag. Ausserdem bewundernswert fand ich die komplexe Infrastruktur, die in Hamburg von Freiwilligen organisiert wurde und Zehntausenden einen Schlafplatz und Verpflegung bot.
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Weshalb bist du überhaupt nach Hamburg gefahren?
Der G20 Gipfel ist eine Versammlung von mächtigen Politikern, die zusammen für unglaubliche Schweinereien stehen. Wenn sich Kriegstreiber und Diktatoren wie Erdogan, Trump und Putin mitten im linken Szeneviertel Hamburgs treffen, um dort eine hunderte Millionen teure Versammlung abzuhalten und dafür eine ganze Stadt durch 20.000 Polizisten in den Ausnahmezustand versetzt wird, dann macht mich das sauer. Deswegen hatte ich mich schon früh entschieden, dass es nach längerer Abstinenz mal wieder Zeit wäre, an eine Demo mitzufahren, um dort gemeinsam ein Zeichen gegen die Politik der G20 zu setzen. So ging es übrigens auch vielen meiner Freunde, von denen die meisten nicht unbedingt für jede Demo quer durchs Land fahren.
Was kannst du in deiner Rolle als Musiker zum Protest beitragen?
Es geht mir nicht darum, Leute zu belehren, aber Musik ist ein Ausdruck davon, wer du bist. Und da gehört auch dazu, was du über gesellschaftliche Themen denkst und dazu fühlst. Musik kann Leute in ihren eigenen Gefühlen ansprechen und dadurch ein Gefühl von Gemeinschaft schaffen. Musik kann auch den Soundtrack für eine Grundstimmung liefern. Ich finde auch, dass jeder, der an einem Ort steht, an dem seine Stimme besser gehört wird, eine moralische Verpflichtung hat, ehrlich zu seiner Haltung zu stehen.
Das habt ihr auch mit eurem Song No! gemacht. Was hat euch zu der Nummer inspiriert?
Der Song ist entstanden, als sich die Stimmung in Deutschland vor einer Weile verändert hatte und rechte Parolen wieder öfters zu hören waren. Der Song schleudert dieser Entwicklung ein kräftiges Nein entgegen. Jetzt, da sich die rassistische Minderheit im Aufwind wähnt, wird es Zeit, dass auch wir alle unsere Stimme erheben und zeigen, wieviele wir sind!
Welche Bedeutung kommt dem musikalischen Rahmenprogramm innerhalb einer Protestbewegung zu?
Bei einer mehrtägigen Protestbewegung müssen sich die Leute auch mal erholen. Ich denke, unser Konzert hat die Leute aufgelockert, und ihnen nach einigen stressigen Tagen Raum für etwas Ruhe von den Sirenen und Rotoren bereitet. Aber das war nur ein kleiner Beitrag zu einer umfangreichen Organisationsstruktur. Wenn du dir überlegst, wie viele Leute übers Wochenende freiwillig gearbeitet hatten, um für andere zu kochen, oder sie sonst wie zu versorgen, dann merkst du, wieviel Liebe und Einsatz in so einer grossen Versammlung stecken.
Ein Grossteil der Medien fokussiert sich jedoch auf die Krawalle. Wie hast du diese selber miterlebt?
Die Krawalle, die in den Medien so riesig dargestellt werden, habe ich in Hamburg nur am Rande wahrgenommen. Was mich nachdenklich stimmt, ist, dass verschiedene Politiker diese Bilder nutzen, um den ganzen Protest zu kriminalisieren und von der Kritik abzulenken.
Lenken die Krawalle von den Anliegen der Demonstranten ab?
Das würde ich so nicht sagen. Als früher noch in Zürich gegen das WEF demonstriert wurde und es auch zu Krawallen kam, hat man sich in der Schweiz erst zwei, drei Tage lang über die unpolitischen Krawallmacher aufgeregt. Aber danach kam es auch in bürgerlichen Medien zu einer kritischen inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem WEF. Einige Jahre später, wurden die Proteste von der Polizei dann massiv unterbunden, die Leute wurden schon auf dem Weg nach Davos in Landquart eingekesselt, ihr Versammlungsrecht wurde aufgehoben. Also haben sie im Folgejahr zu zahlreichen dezentralen Aktionen in Bern aufgerufen. Tausende haben mit kreativen Protestformen wie Strassentheater und Konzerten auf die Problematik aufmerksam machen wollen. Und obwohl diese Proteste eigentlich so abgelaufen sind, wie es die Kritiker der Proteste immer gefordert hatten, war das Thema in den Medien nur noch eine Randnotiz wert: “Die Proteste sind friedlich verlaufen.” Doch meiner Meinung nach geht es bei solchen Protesten eben nicht in erster Linie darum, wie die Presse danach darüber berichtet, sondern um die Vernetzung und Ermächtigung der Menschen, die etwas verändern wollen. In dem Sinne finde ich Blockaden und zivilen Ungehorsam wichtig, das Abfackeln von Autos hingegen sinnfrei. Die Menschen, die wegen der Krawalle nun von “Mordversuchen” und “Terrorismus” reden, haben jedoch nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Was hast du von dem Erlebten mit nach Hause genommen?
Mich hat es gefreut, wie viele Menschen gekommen sind und wieviel Kreativität in dem ganzen Protest steckte. Das Wochenende hat mich inspiriert, darüber nachzudenken, wie ich mich in Zukunft stärker politisch engagieren kann und mir gezeigt, dass du viel erreichst, wenn du dich mit anderen verbündest.