1978 reiste der Fotograf Mitch Epstein mit 26 zum ersten Mal nach Indien, um dort seine damalige Freundin und spätere Frau zu treffen, die preisgekrönte indische Regisseurin Mira Nair. Bis dahin kannte der US-Amerikaner das Land nur aus Filmen und Büchern.
“Mit seiner spirituellen Andersartigkeit hatte sich Indien in meiner Vorstellung als Zufluchtsort von einer durch Frustration geprägten amerikanischen Jugend eingenistet”, schreibt Epstein in der Einleitung zu seinem Fotobuch In India, das 2021 im deutschen Steidl Verlag erschienen ist.
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Als er dort ankam, wurde ihm schnell klar, dass das Land fast unmöglich in Worten oder Kunst zu fassen war. Die Folgen der Kriege mit Pakistan waren noch immer zu spüren, die politische Lage turbulent und das Land geprägt von extremer Ungleichheit. Trotzdem waren die Straßen voller Leben. Religiöse Feste sorgten für ein fröhliches Gemeinschaftsgefühl. Wer etwas auf sich hielt, besuchte die dekadenten Cabaret-Clubs mit ihren Striptease-Shows.
“Ich arbeitete inmitten dieser äußerst komplexen Kultur mit dem großen Privileg einer Doppelperspektive. Durch meine Heirat und mein Familienleben bekam ich eine indische Perspektive – niemals ganz natürlich, aber mehr als wenn ich nur Tourist gewesen wäre”, sagt Epstein in einem Videocall. “Gleichzeitig war ich als Amerikaner größtenteils unbelastet, was die komplexen und politisch aufgeladenen Codes von Kaste, Klasse und Religion anging, die die Leben der meisten Inder bestimmten.”
Mit seiner Mittelformatkamera hielt Epstein seine Eindrücke im Laufe von acht Indienreisen fest. In India gibt einen Einblick in den indischen Alltag zwischen 1978 und 1989.
“Indien ist so ein komplexes Land, wo so viele Kulturen zusammenkommen”, sagt der Fotograf. “Ich hatte nicht die Ambition, etwas Endgültiges zu tun. Ich sah mich auch nicht als Dokumentarfotograf, aber ich entschloss mich, mich für diese Bilder von der Dokumentarfotografie inspirieren zu lassen.”
1987 veröffentlichte er seine Bilder in einem Fotoband mit dem Titel In Pursuit of India. Als er während des Corona-Lockdowns durch sein Foto-Archiv ging, entdeckte er jedoch eine Reihe Bilder, die damals nicht veröffentlicht worden waren.
“Ich hatte damals nicht die emotionale und intellektuelle Distanz, um die wahre Bedeutung meiner Arbeit zu erkennen”, sagt er. Sein erstes Fotobuch über Indien sei ein romantisiertes Loblied an das Erlebte gewesen. Als er allerdings knapp 35 Jahre später die Fotos noch einmal in der Hand hielt, war es ihm möglich, eine Serie mit einer authentischeren, raueren und vielschichtigeren Perspektive auf das Land und die Menschen darin zusammenzustellen.
“Jemandem nahezukommen war für mich keine Voraussetzung für ein starkes Foto. Aber indem ich eine Beziehung zu einigen meiner Subjekte wie den Tänzerinnen des India Cabaret aufbaute, konnte ich intimere Momente einfangen”, sagt Epstein.
Einige der bemerkenswertesten Bilder seiner Sammlung sind dann auch die, die er von den Cabaret-Tänzerinnen gemacht hat.
“Rekha, die Frau in dem Foto, war eine der Tänzerinnen, die ich fotografiert habe”, sagt Epstein. “In diesem Bild von ihr, das ein paar Tage nach dem tödlichen Attentat auf Indiens Premierministerin Indira Gandhi entstand, sieht man gerahmte Bilder von Göttern neben einem Foto von Gandhi. Mir gefällt an ihr, dass sie eindeutig ein Mensch in seiner häuslichen Umgebung ist und nicht wie eine Tänzerin aussieht, aber gleichzeitig etwas Selbstzufriedenes ausstrahlt. Sie ist ein religiöser und spiritueller Mensch, aber sie raucht.”
Ein weiteres Foto, das aus der Serie heraussticht, ist von Rosy, einer Cabaret-Künstlerin, deren Geschichte Epstein besonders bewegt hat.
“Rosy war unerschrocken, ein bisschen provokativ und vielleicht sogar melodramatisch, was ihre Auftritte anging. Aber sie trug auch eine Menge Schmerz in sich”, sagt Epstein. “Sie hatte ihr Dorf verlassen, um nach Mumbai zu ziehen, und ihre Familie fand das, was sie tat, blasphemisch und hatte sie verstoßen. Sie war so selbstzufrieden und frei während ihrer Auftritte, aber dieser Schmerz, den sie in sich trug, war sehr stark.”
Die Serie zeigt auch die extreme Ungleichheit, die das Land damals durchzog. “Ich wollte mich mit diesen Extremen beschäftigen, während sie sich vor meinen Augen abspielten”, sagt er. Am deutlichsten sieht man das vielleicht auf einem Foto von einem Fünf-Sterne-Hotel am Juhu Beach, Mumbais bekanntesten Strand. Eine Gruppe Männer steht unter einer Mauer und schaut hinauf zu Frauen der Oberschicht, die sich am Hotelpool entspannen.
Ebenso geschickt fing Epstein die persönlichen Safe-Spaces ein, die Menschen zum Schutz vor gesellschaftlicher Ächtung aufsuchten. Ein solches Bild zeigt ein Pärchen in einem öffentlichen Park.
“In Neu-Delhi waren die Mogulgärten mein Rückzugsort, eine Erholung vom Chaos des Lebens”, sagt er. “Dieses Bild spricht dieses Gefühl der Ruhe an, insbesondere weil es für viele Paare in Indien nicht erlaubt war, in der Öffentlichkeit intim zu sein, was solche Augenblicke umso kostbarer gemacht hat. Ich konnte das vor allem nachempfinden, weil Mira und ich als gemischtes Paar häufig angefeindet wurden.”
Durch die Serie versucht Epstein seine vielen Erinnerungen, Emotionen und Beobachtungen zu zeigen, die seine Zeit in Indien charakterisiert haben.
“Ich bin unfassbar dankbar dafür, dass so viel von dem, was ich als gegeben wahrgenommen hatte, durch meine Erfahrungen infrage gestellt wurde. Es hat mir ein tieferes Gefühl von Demut gegeben”, sagt der Fotograf. “In Indien, fernab meiner Komfortzone zu sein, hat es mir wirklich erlaubt zu sehen, wie einfachste Dinge den Menschen echte Liebe und Freude bereiten können.”
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