Wegen seines Nachnamens wurde Andreas Kraniotakes als Kind in der bayerischen Provinz auf seinem Schulweg regelmäßig vermöbelt. Heute tritt, boxt, schubst er seine Gegner unter dem Kampfnamen “Big Daddy”. Im Mixed Martial Arts (MMA) schlägt er auf am Boden liegende Gegner ein, kniet auf ihrer Brust oder würgt sie zum K.O., die Fäuste nur in dünne Handschuhe gehüllt. Der 36-Jährige bearbeitet seine Gegner mit erlaubten Techniken aus allen Kampfsportarten, von Boxen über Judo, Taekwondo und Karate bis Ringen und Brazilian Jiu-Jitsu, Muay Thai, Kickboxen und Sambo. Seit 2009 lebt der aktuelle Schwergewichtschampion in der German MMA Championship (GMC) davon.
Auch wenn die Kämpfe zum Teil nach willkürlicher Gewalt aussehen, untersagt das Regelwerk insgesamt 49 Techniken, darunter Beißen und Stiche ins Auge. Deutsche Politikerinnen und Politiker versuchten trotzdem immer wieder, MMA-Veranstaltungen zu verbieten, einer verglich die Sportart mit “Gladiatorenkämpfen im alten Rom”. Bis Oktober 2014 herrschte im deutschen TV sogar Sendeverbot. “Wir machen eine Sportart, bei der man zweimal hinsehen muss”, sagt Kraniotakes. Er entspricht nicht dem Klischee eines Schlägertypen: Neben seinem Sozialpädagogik-Studium jobbte Kraniotakes als Türsteher in Köln und Koblenz. Heute trainiert der Familienvater zwölfmal die Woche, ernährt sich ausschließlich vegan, hat zwei Kinderbücher geschrieben und promoviert. Nebenbei tritt er in Dokumentationsfilmen wie Fighter auf und Gamer können seine Figur bei EA Sports MMA spielen.
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Wir haben Fragen.
VICE: Wurdest du MMA-Kämpfer, um dich legal prügeln zu können?
Andreas Kraniotakes: Wäre das schlimm? Wenn sich jemand legal prügeln möchte, soll er oder sie zum Kampfsport gehen. Da ist der Raum dafür.
Ich habe noch keinen erlebt, der gesagt hat: Boah geil, ich hau jetzt allen richtig auf die Fresse. Denn die Schläge kommen ja auch wieder zurück. Wenn jemand deswegen den Sport macht, ist das für mich OK. Mir persönlich ging es eher darum, etwas über mich selbst zu lernen: Wie reagiere ich in einer Extremsituation, wenn ich unten bin? Ich habe gelernt, dass ich immer weiter mache, auch wenn ich am Boden liege.
Wie fühlt es sich an, jemandem den Kiefer zu brechen?
Das habe ich noch nie getan. Kieferbrüche sind gar nicht so häufig. Schädel-Hirn-Traumata hat man bei einem klassischen K.O., also wenn das Licht ausgeht. Das passiert schonmal. Ansonsten eher Kratzverletzungen, Risse in der Haut, die bluten. Leute hatten wegen mir Blutergüsse am Auge oberhalb des Jochbeins, Prellungen, Stauchungen, vielleicht habe ich mal jemandem die Nase gebrochen. Das ist ein ziemlich unangenehmes Geräusch. Wir haben aber alle gute Protektoren im Mund. Da muss jemand schon einen krassen Fehler machen, damit der Kiefer bricht.
Mir ist schon öfter jemand in meinem Würgeggriff eingeschlafen. Das ist eine Schutzfunktion des Körpers und passiert, wenn derjenige nicht früh genug abklopft. Die meisten Würgegriffe schnüren nicht nur die Luft-, sondern auch die Blutzufuhr ab. Dadurch schaltet das System ab, man wird ohnmächtig. Wenn man den Griff löst, ist der Gegner schnell wieder da.
Haben die vielen Schläge auf den Kopf dich dümmer gemacht?
Wenn ich viel Sparring, also Übungskämpfe, mache, merke ich schon, dass ich in den Tagen danach mit dem Denken mehr Schwierigkeiten habe als sonst.
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Werden MMA-Kämpfer wie du gezielt von Kriminellen angeworben?
Dass jemand aktiv Werbung macht, habe ich noch nicht erlebt. Natürlich stand ich schon Gangstern oder Rockern auf der Matte gegenüber. Ich finde es gut, dass diese Leute in dem Moment mit einem Polizisten, Rechtsanwalt, Biologie-Studenten trainieren. Wir sind alle da, weil wir Sportler sind. Wir haben alle denselben Kodex. Es geht nicht darum, willkürlich jemanden zu verprügeln. Diesen “Raum der Wahllosigkeit” oder “Zügellosigkeit” gibt es einfach nicht – weder im Training noch im Kampf.
Natürlich gibt es Athleten, die im Kampf ihre Aggressionen rauslassen, aber das wird nicht zum Problem. Man willigt ein, dass bestimmte Tritte, Schläge, Techniken OK sind und andere nicht. Wenn ich zum Grappling gehe, bei dem wir Würgetechniken anwenden, willige ich ein, dass mich jemand würgt. Aber nicht erwürgt.
Wie viele MMA-Kämpfer sind Neonazis?
Auf der Matte sieht man einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Wir haben Idioten dabei, es kämpfen aber auch sehr intelligente Menschen. Wenn man die Sportart in einer Gegend betreibt, in der der Neonazi-Anteil relativ hoch ist, ist es klar, dass auch im MMA-Gym ein paar davon rumlaufen. Wie viele es gibt, kann ich nicht einschätzen. Ich habe einen Migrationshintergrund und sehe auch nicht wie ein Arier aus. Und trotzdem hatte ich bei MMA-Veranstaltungen im Osten nie einen Nachteil.
Es ist ein sportlicher Wettkampf. Politische Ansichten sind egal. Wenn jemand aber ganz offensichtlich volksverhetzende Symbole trägt, würde er bei Veranstaltungen, auf denen ich kämpfe, gar nicht zugelassen werden.
Lässt du dir wegen des Geldes auf die Fresse hauen?
Nein, für das Geld lohnt es sich nicht. Ich kann zwar davon leben, aber wenn ich ein halb so guter Boxer wäre, würde ich fünfmal so viel verdienen. Wie viel genau darf ich nicht verraten. Wenn man MMA wegen des Geldes macht, hat man den falschen Leistungssport gewählt. Das lohnt sich nur, weil man gerne kämpfen möchte. Und weil man den Sport liebt.
Wie kaputt ist dein Körper?
Durchschnittlich kaputt für jemanden, der über zehn Jahre lang Leistungssport betrieben hat. Aber ich fühl mich gut. Wir unterscheiden zwischen kalendarischem Alter und Ringalter. Wenn man 30 ist und gerade anfängt mit dem Sport, ist es was anderes, als wenn man 30 ist und schon 40 Profi-Kämpfe hinter sich hat. Wenn du jemand bist, der sich gerne prügelt und im Stand gut einstecken kann, dann hast du ein höheres Ringalter als jemand anderes. Ich höre dann auf, wenn ich mit den Jungen nicht mehr mithalten kann und nicht mehr besser werde. Schwergewichtsboxer bringen mit Ende 30 die beste Leistung.
Freust du dich über einen Sieg, wenn der Gegner danach im Krankenhaus liegt?
Man darf sich immer über den Sieg freuen. Aber nicht über die Verletzungen. Ich habe schon viele Kämpfe gesehen, habe aber noch nie erlebt, dass sich jemand freut, weil ein Gegner schlimm verletzt am Boden liegt.
Wie fühlt sich ein K.O. an?
Davon bekommt man nicht viel mit. Es wird dunkel, dann wacht man auf und hat eine Teilamnesie. Als ich das erste Mal k.o. gegangen bin, habe ich den Kampfrichter danach gefragt, ob ich gewonnen hätte. Ich wusste einfach nicht, was passiert ist. Das hab ich danach im Video gesehen – meine Deckung hat gefehlt, ich bin dem Gegner in die Faust gerannt. Ich habe erlebt, dass Kämpfer nach einem K.O. gefragt haben, wann es endlich losgeht.
Kämpfst du besser, wenn du aggressiv bist?
Ich glaube, dass wir Menschen, unabhängig von sozialem Status, Geschlecht, Herkunft, mit Aggression von der Natur ausgestattet wurden. Wenn wir diese Aggression nicht ausleben können, zum Beispiel über den Sport, kann das zu Problemen führen. Manche Menschen steigen sehr aufgeputscht, zähnefletschend und brüllend in den Käfig. Es gibt Leute, denen das hilft. Ich bin keiner davon. Unsere Kämpfe dauern dreimal fünf Minuten, wenn es keine Titelkämpfe sind. Das ist eine lange Zeit. Selbst wenn man gut trainiert ist, ist es super anstrengend, die ganze Zeit wütend zu sein. Wenn jemand das zwei Minuten lang durchzieht, ist er danach so fertig, dass ich gar nicht mehr viel zuschlagen muss. Den kann man dann umpusten. Blinde, unkontrollierte Aggression des Gegners erleichtert mir den Kampf.
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