Sonntag ist Familientag. Das gilt bei uns auch heute noch. Nicht mehr so oft wie früher, als ich und meine Schwester noch zuhause wohnten, zwar, aber ich nehme doch regelmässig den Regio-Zug hinaus aus der Stadt, zurück ins Dorf meiner behüteten Kindheit. Weil man das halt so macht. Weil Familien-Zeugs eine gute Ausrede ist (auch vor sich selber), mal nicht zu arbeiten. Und weil ich sonst sowieso nur verkatert zuhause vor mich hin siechen würde.
Familien-Zeugs bedeutet bei meiner Sippschaft vor allem eines: Essen. Essen zuhause oder Essen woanders und wenn es auch nur eine Gratis-Bratwurst mit Senf am Tag der Offenen Tür des Autohändlers im nächsten Dorf ist. Ich kann mich an einige dieser PR-Tage des heimischen Gewerbes erinnern. Oder an Kaninchen-Ausstellungen in Mehrzweckhallen. Oder an Ausfahrten aufs Land—Hägendorf, wo ich herkomme ist nicht wirklich Land, sondern Mittelland, also Agglo-Wüste—, zu einem Restaurant, von dem man gehört hatte, es sei ganz gut.
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Früher empfand ich solche Ausflüge, beziehungsweise Ausfahrten—wir nahmen immer, wirklich immer das Auto—als Zwang. Heute sehne ich mich allenthalben danach. Nach der Zeit, in der ich mich über ein Baseball-Cap mit dem Logo eines Transportunternehmens noch ehrlich freuen konnte. In der ich noch nicht verstand, dass Wettbewerb-Talons (Gewinne eine Woche Strandferien in Italien!) die analoge Form von Daten-Phishing darstellen und in welcher ich mir noch keine Gedanken dazu machte, ob das panierte Schnitzel wohl bio sei und dass man ja eigentlich sowieso kein Fleisch essen sollte.
Diese Sehnsucht nach kleinbürgerlichem Hedonismus, nach einem Schuss von der Droge Konsum, steckte wohl auch dahinter, als ich meine Eltern kürzlich fragte, ob wir nicht an eine Metzgete gehen wollten. Metzgete, damit meint man die Zeit im Herbst, in der es für die Schweine zuerst auf die Schlachtbank und danach als Schlachtplatte auf den Tisch geht. Metzgete, das bedeutet Schweinefleisch in Hülle und Fülle. Und für mich das bewusste Ignorieren jedwelcher moralischer Standards zu Gunsten des Genusses.
Also fuhren wir, Grossmutter inklusive, am Sonntag zu einem Restaurant ab vom Schuss, von dem meine Eltern gehört hatten, dass es gut sei. Im Auto fühlte ich mich wieder wie mit 17, auch wenn ich nun vorne sitzen durfte, der langen Beine wegen. Mein Vater fluchte und ich kämpfte mit meinem Tequila-Kater, als wir die Hauptstrasse verliessen, um in fiesen Kurven hoch zum Bergrestaurant Roggen oberhalb von Oensingen zu gelangen. „Hier wohnt Adrian Sutil”, sagte mein Vater. Der Umstand, dass ich den Formel 1-Piloten kenne, erstaunte mich mehr als die geschmacklose Villa mit mickrigen Palmen auf der Terrasse.
Im Herbstwald überholen wir Wanderer. Ich stelle mir vor, wie das Laub draussen duftet und raschelt, wenn man hindurch läuft. Und denke für einen Monent, dass sie falsch ist, verlogen ist, unsere motorisierte Stadtflucht. Auf der Anhöhe parken wir den silbernen Wagen meiner Grossmutter, auf dessen Heck ein „I Love My Car”-Sticker mit Teddy klebt. Beim Anblick all der anderen Autos verflüchtigt sich mein schlechtes Gewissen. Wo es Parkplätze gibt, darf man auch hinfahren.
Während draussen also fitte Mitt-Vierziger in Jack Wolfskin-Jacken die Herbstsonne durch ihre aerodynamischen Sonnenbrillen geniessen, herrscht drinnen das muntere Mampfen. Bei den einen gibt’s SchniPo, bei den anderen Fondue und an einem Tisch löffelt ein älteres Ehepaar zufrieden an seinem Banana-Split. Und als ich auf dem biederen Eckbank an unserem Tisch den vertrauten Werbe-Aufsteller für Sauser entdecke, fühle ich mich geborgen.
Mein Vater hatte schon im Vornherein für uns alle bestellt: Schlachtplatte. Also Bratwürste und Blutwürste und Leberwürste und Speck. Eine auf dem Silbertablett angerichtete Ladung Krebs, wie wir seit Neustem wissen. Als ich das in die Runde werfe, entgegnet meine dünne Mutter, dass sie schon längst tot sein müsste, bei all dem, was sie alles zu sich nehme: täglich Fleisch, mindestens einen Liter Kaffee und zwei Liter Coca Cola (auf Zimmertemperatur) und zwei Packungen Zigaretten. Meine Eltern glauben nicht unbedingt an Ernährungstipps.
Und so beginnt das grosse Fressen, ohne Zögern, ohne Skrupel. Ich schneide die Blutwurst auf und drücke das pudding-artige Innere aus der Darmhaut auf den Teller. Sicherlich gibt es Leute, die das Verspeisen von gekochtem und mit Schwarte, Rahm und Gewürzen angereicherten Schweineblut für archaisch, für widerlich halten, denke ich.
Sicherlich gibt es aber auch andere Leute, um nicht zu sagen vermeintliche Hipster, die das Ritual der Metzgete als aufrichtige, als nachhaltige Form des Fleischessens feiern. Weil man wieder saisonal denkt, weil man mehr vom Tier verarbeitet als nur das Filet. Weil vom Bauer um die Ecke. Weil irgendwie auch dekadent (das Wort Leber kommt drin vor). Oder weil irgendwo so gelesen.
Ja, man könnte es sich so zurecht legen. Mir ist es aber ganz egal, denke ich, als ich nach dem Gemetzel auf dem Teller mit meinem Vater draussen stehe und eine Zigarette rauche. Wir schauen aufs Mittelland, vor uns erstrecken sich Logistikcenter, Einfamilienhäuser, gehäuselte Landwirtschaftsflächen und die A2. „Die Leute tun immer so, als gäbe es in der Schweiz keinen Platz mehr”, sagt mein Vater, „dabei hat es ja noch viel. ”
Ich denke an Zersiedelung und die Agglo-Wüste Mittelland, daran, dass der Mensch immer mehr Platz braucht und dass die Grünfläche seit Jahrzehnten zurückgeht. Ich denke an das Auto meiner Grossmutter ein paar Meter neben uns. Aber das passt schon, denke ich, an Sonntagen meckert man nicht über Bünzli-Gärten und Formel 1-Villen. Am Sonntag fährt man mit dem Auto auf einen Hügel in der Nähe und stopft viel zu viel Fleisch in sich herein.
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