Thea sitzt mit ihrer Tasse Tee am Küchentisch. Es ist einer dieser langweiligen Ferientage: In der Ecke liegt die Mutter und liest. Die drei Jahre ältere Schwester bewegt sich mühsam aus ihrem Zimmer und lässt sie sich auf den Stuhl neben Thea fallen: “Ich würde mir da unten am liebsten alles rausschneiden”, sagt sie. Ihr Uterus zieht sich gerade zu einem Periodenkrampf zusammen.
Thea starrt ihren Tasse an, als würde der Teesatz ihr eine akzeptable Antwort offenbaren. Thea wird nie erfahren, wie sich Menstruationskrämpfe anfühlen. Und ihre große Schwester weiß nicht, warum Thea mit 18 noch nie ihre Tage hatte.
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Thea sagt, andere Frauen würden sie ständig darum beneiden, dass ihr Unterleib von monatlichen Krämpfen und Blutungen verschont bleibt. Sie sage ihnen dann nicht, warum das so ist. Nur: “Das hat auch Nachteile.” Und mit dieser Erklärung geben sich die meisten zufrieden.
Am letzten Donnerstag im März dieses Jahres, kurz bevor sie 18 wird, diagnostiziert eine Frauenärztin bei Thea das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKHS). Theas innere Geschlechtsorgane sind nicht vollständig entwickelt: Sie hat keine Gebärmutter, ihre Vagina ist eine Einbuchtung zwischen ihren Beinen, die so flach ist, dass Thea nicht einmal ein Wattestäbchen einführen kann, ohne Schmerzen zu haben.
Thea hat keine Periodenkrämpfe und keine blutverfärbten Baumwoll-Unterhosen in ihrer Schublade. Aber sie wird auch niemals schwanger werden. Und wenn sie je vaginalen Penetrationssex haben will, müsste sie ihre Vagina in einer schmerzhaften OP dehnen lassen.
“Bei mir ist da unten alles verkrüppelt”
Thea wohnt in einem Dorf in einer Gegend Österreichs, von der Travel-Instagrammer feuchte Träume kriegen: Unter schneebehangenen Berggipfeln schlängeln sich moosgrüne Flüsse, die mit dem richtigen Filter plötzlich türkis schimmern. Wo genau Thea lebt, will sie nicht sagen. Eigentlich heißt sie auch anders. Aber Thea möchte nicht, dass die Instagrammer und die Nachbarinnen aus ihrem Dorf wissen, was mit ihren Reproduktionsorganen los ist. Sie sagt: “Bei mir ist da unten alles verkrüppelt.”
Genaue Zahlen darüber, wie viele Mädchen wie Thea mit dem MRKH-Syndrom geboren werden, gibt es nicht. Schätzungen zufolge ist weltweit eine von 5.000 Frauen betroffen. Die Entwicklung der inneren Geschlechtsorgane der betroffenen Frauen setzt aus, wenn sie noch ein Fötus im Frühstadium sind und noch kleiner als eine Limette.
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“In Deutschland gibt es schätzungsweise 10.000 bis 20.000 Fälle”, sagt Thomas Hildebrandt. Er ist leitender Oberarzt im Fortpflanzungszentrum der Uniklinik Erlangen. Die meisten der Frauen erfahren erst in der Pubertät, dass an ihrem Körper etwas anders ist, erklärt Hildebrandt. “Zum Beispiel, wenn sie zum ersten Mal Geschlechtsverkehr haben wollen.”
Thea dachte, sie sei mit ihrer ersten Menstruation einfach spät dran
Als Thea in der Hauptschule ist, erwarten ihre Klassenkameradinnen die erste Menstruation so sehnsüchtig wie ansonsten nur eine Freistunde. Mit 14 teilen sie regelmäßig ihre Uterus-Updates miteinander. Thea denkt, sie sei einfach etwas später dran. Ihre Eierstöcke sind vorhanden und produzieren Hormone. Als Thea in die Pubertät kommt, wachsen ihre Brüste. Sorgen, sagt sie, habe sie sich nicht gemacht.
Auch dann nicht, als auch die letzte ihrer Freundinnen zum ersten Mal ihre Tage bekommt. Oder als ihr auffällt, dass nicht einmal ihre Fingerspitze in ihre Vagina passt. Und auch dann nicht, als Theas Schulärztin nach einer Kontrolluntersuchung Anfang dieses Jahres dazu rät, einen Termin bei der Gynäkologin auszumachen.
Aus etwas später ist inzwischen, mit fast 18, extrem spät geworden.
Beim ersten Termin sieht die Frauenärztin beim Ultraschall dort, wo eigentlich Theas Gebärmutter sein sollte, eine schwarze Fläche. Beim zweiten untersucht sie Thea vaginal. Vor dem dritten Termin ruft die Gynäkologin Theas Mutter an und bittet sie, ihre Tochter zu begleiten. Bevor die beiden Frauen an diesem Tag aus dem Sprechzimmer gehen, schiebt die Ärztin Thea einen Zettel über den Tisch, darauf die Buchstaben: MRKHS.
“Alles Weibliche funktioniert bei mir nicht”
Thea packt den Zettel zwischen Bücher und Hefte in ihre Tasche und geht in den Chemie-Unterricht. “Ich dachte: ‘Gut, dann kann ich halt nicht schwanger werden’”, sagt Thea. Dann schiebt sie in breitem österreichischem Dialekt hinterher: “Das passt scho.”
In den folgenden Tagen liegt Thea nachts trotzdem wach und tippt die fünf Buchstaben in das Google-Suchfenster ein. Sie findet Artikel von universitären Fortpflanzungszentren englischsprachige Foren, stößt auf Fotos, auf denen Hände mit weißen Gummi-Handschuhen ein Spekulum an eine blutige Scheidenöffnung halten. Weil Thea kaum Berichte anderer Betroffener findet, schreibt sie eine E-Mail an VICE, um ihre Geschichte zu erzählen.
“Nach der Diagnose kam eine Zeit, in der es mir schwer fiel, mich als echte Frau zu sehen”, sagt Thea. “Weil, alles, was typisch weiblich ist, bei mir nicht funktioniert. Und ich niemals meine Periode oder Kinder bekommen kann.” Sie habe Angst, später einmal die verbitterte kinderlose Frau aus der Nachbarschaft zu werden, erzählt Thea. “Ich konnte deswegen nicht schlafen. Und ich habe das alles nicht richtig realisiert.”
Die meisten Betroffenen bekommen einen Schock, wenn sie von ihren Fehlbildungen erfahren, schreibt die Kinder- und Jugendgynäkologin Marlene Heinz. Viele Mädchen zweifelten an ihrer Weiblichkeit, weil sie nicht schwanger werden können. “Deshalb ist eine adäquate psychologische Unterstützung durch den behandelnden Arzt dringend erforderlich, bevor der Versuch einer Behandlung unternommen wird”, so die Ärztin.
Thea sagt, sie brauche keine psychologische Unterstützung. Sie hat stattdessen recherchiert, was eine Adoption kosten würde und ob sie ihre Eizellen später einmal einer Leihmutter einpflanzen lassen könnte, wenn sie das wollte. In Österreich und Deutschland ist das aktuell verboten. Dennoch sei es grundsätzlich möglich, die Eizellen einer Patientin mit funktionierenden Eierstöcken außerhalb ihres Körpers zu befruchten, erklärt Thomas Hildebrandt. “Es gibt aber mittlerweile eine Strategie, wie man Patientinnen auch anders zu einem Kind verhelfen kann.”
Nächstes Jahr wollen Hildebrandt und sein Team einer MRKHS-Patientin die Gebärmutter einer anderen Frau transplantieren. Im Idealfall sei das eine Familienangehörige mit abgeschlossener Familienplanung, sagt er. 2014 hatte eine Schwedin ein eigenes Kind bekommen, der zuvor die Gebärmutter ihrer Mutter transplantiert worden war. “Womöglich kann unsere Patientin am Ende auch eigene Kinder bekommen”, sagt Hildebrandt.
In Deutschland wurde einer MRKHS-Betroffenen im Oktober 2015 erstmals eine Gebärmutter transplantiert, zuvor hatte sie eine künstliche Scheide bekommen. Im Dezember vergangenen Jahres kündigte die behandelnde Ärztin Berichten zufolge an, der Frau eine zuvor entnommene, befruchtete Eizelle einsetzen zu wollen.
In einer Beziehung müsste Thea erklären, was mit ihrem Körper los ist
Bevor sie ihre Diagnose bekam, hatte Thea einmal Sex mit einer Frau. Sie haben nur ihre Klitoris gegenseitig stimuliert, sagt sie. Theas Vulva ist normal entwickelt. Aber so richtig, sagt sie, habe sie sich eigentlich nie mit ihrem Körper auseinandergesetzt: “Ich fand, dass bei mir alles sehr eng unten ist. Aber ich hatte ja keinen Vergleich”, sagt sie. “Für mich war das normal.”
Bis zu dem Termin bei der Gynäkologin schläft Thea mit keinem Mann. Im Nachhinein, sagt sie, sei sie froh darum: “Es wäre schlimm gewesen, wenn beim Sex mit einem Mann zum ersten Mal aufgefallen wäre, dass es buchstäblich nicht passt.”
Im Sommer hat Thea einen One Night Stand – kurz, nachdem sie ihre Diagnose bekommen hat. Sie kennt ihn nicht gut. “Das war unangenehm.” Zwei Mal kommt der Typ mit seinem Penis sehr nah an ihre Vagina. Er versucht, in Thea einzudringen. Es reicht, sagt sie, sie möge das nicht. Dann hört er auf. “Ich habe danach gegrübelt, ob er deswegen keine richtige Befriedigung hatte”, sagt Thea.
Sie denke schon darüber nach, wie alles sein wird, wenn sie sich mal verliebt und in einer Beziehung sein will. “Mein Sexualleben ist noch nicht sehr ausgeprägt”, sagt die 18-Jährige. “Es wird schwierig sein, mich einem Partner oder einer Partnerin zu öffnen”, sagt sie. “Wenn ich eine Beziehung mit einem Mann haben wollen würde, müsste ich ihm wohl erklären, dass wir nie Vaginalsex oder eigene Kinder haben können.”
In einer Operation könnte Thea ihre Vagina dehnen lassen
MRKHS-Betroffene können sich Transplantate einsetzen lassen, um ihre Vagina schrittweise zu dehnen. Manche Ärzte und Ärztinnen empfehlen sogar regelmäßigen Sex. Das sei allerdings von der Tiefe des Vaginalgrübchens abhängig – und unter Umständen sehr schmerzhaft. Wie viele Frauen sich für die Operation entscheiden, ist nicht bekannt. “Ich kenne aber kaum Betroffene, die sich langfristig gegen den Eingriff entscheiden”, sagt Fortpflanzungsmediziner Thomas Hildebrandt.
Thea sagt, sie habe darüber nachgedacht, sich aus Darmgewebe eine künstliche Vagina anlegen zu lassen. Diese Operationsmethode wird auch bei Geschlechtsangleichungen durchgeführt. “Gerade habe ich mich aber mit der Situation abgefunden”, sagt sie. Sie kennt ihre Diagnose nun seit einem halben Jahr. “Außerdem weiß ich nicht einmal, ob die Darmvagina richtig feucht wird.”
Wenn Thea über ihren Unterleib spricht, wirkt sie pragmatisch. Manchmal fast stoisch. Gerade sei sie auch ohne Vagina zufrieden, sagt sie. Vor einigen Monaten hat sie ihr Abi bestanden. Im August ist sie für ein freies soziales Jahr in ein anderes EU-Land gezogen.
Manchmal bedrücke es sie noch, wenn sie schwangere Frauen und Babys sieht, sagt Thea. Aber sie wolle ihr Frausein auch nicht daran festmachen, ob sie Kinder bekommen kann. “Ich kann eine Frau sein, wenn ich für mich entscheide, dass ich das bin”, sagt sie. “Auch wenn meine Vagina nur ein Gewebestrang ist.”
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