Musikreviews des Monats mit Nick Cave & The Bad Seeds, DMX, Ellen Allien, Apparat und und und…

JULIA KENT

THEME PARK

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NICK CAVE & THE BAD SEEDS

MEKON

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DMX
Undisputed
Seven Arts/Intergroove

Wenn das neue DMX-Album eine Message hat, dann wohl die, dass wir alle keinen Plan haben. Von „Y’all Don’t Really Know“ bis zu „What They Don’t Know“ reicht zumindest das Spektrum an Songtiteln. Es scheint fast, als ob sich der Darkman in letzter Zeit etwas unverstanden fühlt. Kaum vorstellbar, wo er doch letztens erst in den Bau gewandert ist, weil er einen Polizisten verprügelt hat, der ihm sein Koks wegnehmen wollte. Völlig nachvollziehbare Aktion, wenn ihr mich fragt. Nur bei den etwas cheesy wirkenden Radio-Tunes, die sich vermehrt auf Undisputed eingeschlichen haben, setzt hin und wieder unser Verständnis aus. Aber was wissen wir schon?

BABO FETT

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DEPTFORD GOTH
Life After Defo
Merok/Cooperative Music
Wenn man sich in ein paar Jahren an die Zeit erinnert, in der Popmusik ins Schneckentempo herunternarkotisiert wurde, dann werden einem James Blake und The xx einfallen, mit Sicherheit aber nicht dieser Zeitlupenseufzer hier. Das liegt zum einen daran, dass Life After Defo seinen grauen Langeweilenebel so selten verlässt, dass es kein Erinnerungsvermögen mit dieser amorphen Klangknete aufnehmen könnte. Zum anderen ist natürlich der Markt für solcherlei kuscheligen Milchbrötchensoul längst gesättigt. Es ist Zeit für eine Trendwende. Wo bleibt das Happy Hardcore Revival?

RUDI RUFFNECK

AUTRE NE VEUT
Anxiety
Software
Ein auf jedem Schulhof zu beobachtendes Phänomen: Streiten sich zwei Mädchen, beginnen sie irgendwann zu schreien, sich gegenseitig in der Schrillheitsfrequenz sukzessive überbietend, bis die erste aus den Ohren blutet. Der Falsettextremsport, den Arthur Ashin auf seinem neuen Album anbietet, legt nahe: Er war mit Sicherheit die Königin seines Schoolyards. Weitere Erkenntnisse: Anxiety ist viel poppiger als seine bisherigen schlagseitigen Angebote, aber noch nicht poppig genug, um Pop zu sein. Trotzdem gelungener als vieles, was derzeit in den Sektor geseufzt wird.

HOW TO LESS SMELL

BRANDT BRAUER FRICK
Miami
K7!
Verhält sich zum minuziös durchgeplanten Hirnlego der ersten beiden Alben wie Sonic Hedgehog zu Megatron. Quirliger, beweglicher und organischer, ganz ohne Materialschlacht und dafür mit begnadeten Sängern wie Jamie Lidell; so klingt das Trio erstmals wie eine richtige Band, die richtigen Techno spielt—richtig im Sinne von: gar nicht mal so scheiße. Untypischer Höhepunkt ist das instrumentale „Miami Drift“, das in gut zwei Minuten mehr Spannung ausbrütet als eine ganze Staffel Walking Dead. Die Tracks mit den Frauen wollen besonders küüünstlerisch wertvoll erscheinen—aber nur Gudrun Gut klingt gut wie immer …

KEITH STENGEL

AUTECHRE
Exai
Warp
Das längste Autechre-Album der Geschichte, nur ihre notorischen 12-stündigen DJ-Sets sind noch länger—für die Gilde der Beat-Programmierer ist Exai ein Monster, für den modernen Playlist-Abonnenten bestenfalls ein Mysterium, eher noch ein Relikt aus vergangenen Tagen—unberührt von der um sie herum herrschenden Buntheit in all ihren manischen Zügen, entziehen Rob Brown und Sean Booth weiterhin jedem Groove die Farbe. Das ist zwar konsequent ungemütlich aber spätestens mit ihrem elften Album stehen die beiden Briten wie viele Ikonoklasten im Verdacht, den Bildersturm nur noch als Selbstzweck fortzuführen.

SKRP50403

MEKON
Piece of Work
Wall of Sound
Die Nacht der tanzenden Leichen. Das Remake vom dritten Teil der Originalserie aus dem vorletzten Jahrzehnt. Rhythmisch umherwandelnde Rokokozombies im Trockennebel, vorsichtiges Fußwippen, gefälliges Kopfnicken, die Beats nie zu kräftig, alles könnte sonst auseinanderfallen, die letzten Fasern Dörrfleisch splissen, die Knochen … zu Schutt. Zu Asche. Zu Staub. Keine großen Momente. Kein ekstatisches Fiebern. Es geht nur noch um: Durchhalten. Bis zum garstigen Finale die unerbittliche Mittelmeersonne den Spuk durchscheint und alles … pfffrttttt … sofort vorbei ist. Nicht unbedingt schlechter als schon vor 20 Jahren.

JENS C. ROMEO

SPACE DIMENSION CONTROLLER
Welcome to Mikrosector-50
R&S
Um die ganze Hintergrundgeschichte dieser SciFi-Oper mal extrem zu vereinfachen: Das hier ist die Musik der Zukunft. Ich hatte eigentlich einen schwer dekodierbaren Audiosalat aus Binärsignalen erwartet, aber das hier klingt wie eine Mischung aus E-Funk, Spandexmetalgitarrensolos, Carpenter-Scores, Cosmic Disco und einem laufenden Diktiergerät, das jemand in Chromeos Studio vergessen hat. Neben der ganz geilen Mucke an sich ist also eines an diesem Album besonders zu loben: Es ist nimmt einem die Angst vor allem, was da kommen mag, denn statt das menschliche Gehirn vor neue Herausforderungen zu stellen, dürfte die Zukunft eigentlich nicht anspruchsvoller sein, als Donkey Kong durchzuspielen.

STEVE WIBBE

OLIVER DEUTSCHMANN
Out Of The Dark
Vidab
Schätzungsweise erntet man mit so einem Familiennamen im Antifa-Plenum eine solide Grundskepsis. Als Würstchenverkäufer oder beim internationalen Representen hiesiger Technokultur fährt man dagegen umgehend einen Vertrauensvorsprung ein. Out Of The Dark ist dann auch ein Musterbeispiel standorttypischer Trademarkverdichtung. Kontinuierlich im Deepnesshochofen köchelnd, sich selten aus der abgespaceten Ruhe bringend, sich jeglichen billigen Techhousemumpitz oder Vocaleinsatz verbittend. Sein kosmischer Projektionsraum kommt zwar auf Dauer etwas überaufgeräumt und steril daher, aber so ist es eben mit den Landesstereotypen—auch dieser Deutschmann hier hat noch lange nicht genug Dreck gefressen.

INTO THE LEID

JEANS TEAM
Das ist Alkomerz
Staatsakt/RTD
Jeans Team hatten ja schon immer einen leichten Hang zum NDW-Dadaismus, aber diesmal gehen ihnen endgültig die Pferde durch. Ich würde behaupten, dass 90% dieses Albums nicht mit einem auch nur einigermaßen gesunden Gehirn kompatibel sind. Da ich weiß, dass JT keine Idioten sind, bleibt eigentlich nur der Schluss, dass sie ihre Fans für Idioten halten und ihnen hiermit eine Freude machen wollen. Vielleicht spekulieren sie auch auf ein hyperironisches Hipsterpublikum, das sich schlicht nicht eingestehen kann, wie scheiße diese Platte tatsächlich ist, oder aber sie genau deshalb kaufen wird. Was ja wiederum ein ziemlich raffinierter Winkelzug wäre. Soll ich diese Platte also gut bewerten, weil sie schlecht ist? Da werde ich noch mal einen meiner Kollegen mit Studienabschluss fragen müssen. Herrje, wir leben schon in komplizierten Zeiten.

JOHNNIE STALKER

APPARAT
Krieg und Frieden (Music For Theatre)
Mute/Goodtogo
OK, ganz ehrlich: Wie 99 Prozent aller Menschen haben wir nie Krieg und Frieden gelesen, obwohl wir das gern behaupten, um andere zu beeindrucken, und uns dann in inhaltslose Diskussionen verstricken, bei denen keiner so richtig weiß, worum es geht. Das ist aber auch nur halb so schlimm, da Sascha Ring es für eine moderne Inszenierung vertont hat, und die haben mit dem Original ja meistens eh nicht so viel zu tun. Insofern kann man, auch wenn das natürlich ungemein kulturbanausig ist, das hier auch als separate Einheit sehen, die, Romanvorlage hin oder her, die auf Black Water vorgelegte Soundverspieltheit mit Hang zu mittelgroßen Abgründen ausbaut und abstrahiert. Klang das jetzt intelligent? Ansonsten vielleicht mal im Internet nachschlagen, irgendjemand hat bestimmt schon eine Masterarbeit darüber geschrieben.

LEO TOI TOI TOI

ELLEN ALLIEN
LISm
BPitch Control / RTD
Bei Ellen Alliens Plattenfirma BPitch Control muss so etwas wie Aufbruchsstimmung herrschen. Die Chefin gibt mit ihrem neuen Album eine (fragwürdige) Richtung vor, die weg vom Dancefloor, hin zu assoziativ-experimentellem Filmscoring führt. Anders gesagt: LISm klingt wie das Empfehlungsschreiben an Raster-Noton mit der Bitte um Übernahme des gesamten Ladens, bestenfalls noch im laufenden Quartal. Vor diesem Hintergrund wirkt die Arbeit der Grafikabteilung geradezu aufrührerisch, denn wenn die BPitch-Artworker hören, dass ein neues Albumcover für die Hausherrin kreiert werden muss, legen sie sich erstmal wieder hin—der schwierigste Teil der Arbeit, die Konzeption nämlich, ist schließlich schon getan: Einfach ein furchtbar ausgeleuchtetes Urlaubsbild (Ibiza, Poolsituation) hernehmen, Farbinformationen verwerfen und dann so lange mit zufällig gefunden Photoshop-Funktionen anmorschen, bis vor lauter Furchen und Gruben auch der letzte Funke Weiblichkeit verblichen ist.

DOLLY BUSTER

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BLACK REBEL MOTORCYCLE CLUB
Specter At The Feast
Abstract Dragon Records
Da ist nichts auf diesem Album, das BRMC nicht schon mal besser gemacht hätten. Liegt wohl in der Natur der Sache, wenn die nach Kippenrauch müffelnde Lederjacke die Harmonielehre einzwängt, die Röhrenjeans so eng sitzt, dass halt irgendwann mit etwas Fruchtbarem nicht mehr zu rechnen ist, und sich der halbstarke Träumer im Mann die kuschelige Outlaw-Romantik so weit über die Nase zieht, dass er von außen einfach ein bisschen lächerlich aussieht. Auch dieses sechste Album beansprucht das Haltbarkeitsdatum eines Wüstenhighways und ist maximal genau so abwechslungsreich.

SPEEDY GONZALES

TERROR
Live By The Code
Century Media
Auf ihrem neuen Zyklus widmen sich diese Westküstenscholastiker einmal mehr der feingeistigen Analyse schwelender Kalamitäten auf Mikro- und Makroebene. Dabei umweben sie erneut die mächtigen, an Hegel und Sartre geschulten Existenzfragen mit einem herausfordernd locker wallenden Klanggewand, mit jedem Streich an ihren Hymnen ein neues Pantheon errichtend … Keine Ahnung, was das soll, aber die Tatsache allein, dass Terror mal wieder den besten Anreiz liefern, deinem Leben ins Gesicht zu treten, hätte mich nicht auf erforderliche Zeichenzahl gebracht. Beschwert euch beim Herrn Redakteur.

ZEILENSKLAVE


ANCIENT WISDOM
Deathlike
Prosthetic Records

Zwischen Leben und Tod liegt ein Acker, der weit genug ist, um von diesen Texanern mit Integrity-Vergangenheit auch ein zweites Album lang durchgepflügt zu werden. Und nein, das hier ist weder Schicksalsbericht über Komapatienten noch künstlerische Anklage des verlängerten Renteneintrittsalters, es ist einfach nur weiteres Songgepansche im guten alten Vanitas-Brei. Die Instrumentierung gehorcht erneut jeder Neo-Folk-Etikette, wirkt aber noch weicher gezeichnet als auf dem Vorgänger. Damit lichtet sich der Nebel noch etwas mehr um den Ursprungsort VVisdom‘scher Melodien und Arrangements—den Kaugummiautomaten. Somit liefern sie ein weiteres guilty pleasure all denjenigen, denen Danzig nicht catchy genug ist und untermauern ihre Geltung als die Blink 182 des Gruftgeklimpers.

HANS GUCK IN DIE GRUFT

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PHOSPHORESCENT
Muchacho
Dead Oceans
Ich war mir sicher, Matthew Houck könne seinen Lebtag nichts Schlechteres mehr anstellen, als sich mit To Willie (2009), diesem frech vertonten Sakrileg, dieser Hölle aus wohlgemeintem Murks, an einen Halbgott in Grau heranzuwanzen, so als wäre dieser wirklich bereits tot und könnte sich nicht mehr wehren. Und ich sollte Recht behalten. Schlimmer wurde es hiernach nicht mehr. Auch Muchacho ist einfach nur weichgespülter Folk mit so viel Teufel in dem ganzen unnötigen Frickel-Frackel-Studio-Draufgekleister, dass alle Seele hier schon rausgefressen war, bevor das Album gepresst werden konnte. In seinen besseren Momenten ist Muchacho nun noch etwa so wie ein Schmalzbrötchen mit bittersüßer Marmelade.

WILLIE BLAZE

NICK CAVE & THE BAD SEEDS
Push The Sky Away
Bad Seed/Rough Trade
Eigentlich konnte ich Nick Cave nie besonders gut leiden. Wenn er nicht gerade mediokres Garagengeschrammel fabrizierte (Grinderman), erinnerte mich seine Mischung aus Extravaganz und Selbstmitleid immer an diesen Emo-Typen aus der Theater-AG, der in der Pause im Klassenzimmer blieb, um Gedichte zu schrei-ben. Mal ganz abgesehen davon, dass Cave einer der hässlichsten Menschen ist, die je einen Fuß auf diesen Erdball setzen durften. Aber Push The Sky Away ist tatsächlich ein aphrodisierendes Meisterwerk. Selbst mein steinalter Perserkater setzte nach nur wenigen Takten umgehend diesen „Hör auf zu reden und fick mich“-Blick auf. Damit ist heute wohl endgültig der traurige Tag gekommen, an dem ich die gleichen Platten gut finde wie die Fokus-Redaktion.

HELMUT MARKTSCHREIER

GIRLS NAMES
The New Life
Tough Love
Kann mal bitte jemand dafür sorgen, dass in der App für Customize-Shoegaze-Stangenware, die es offensichtlich irgendwo für ein ausgeleiertes Reverb-Pedal runterzuladen gibt, die Cure-Gedächtnisgitarren durch den Sound einer Fahrradklingel, der Leiereffekt auf den Vocals durch eine Glascontainerleerung und blubbernde Synthflächen durch Furzgeräusche ersetzt werden? Also nicht, dass die unaufhörliche Flut an Releases in diesem Sektor dadurch besser klingen würde, aber wenigstens hätte man dann ein bisschen was zu lachen.

BOYS NOISE

THEME PARK
s/t
Transgressive Records/ Cooperative Music
Worte können nicht beschreiben, wie hochgradig überflüssig, langweilig und banal dieses Album ist. Es sei denn, du stehst auf talentfreien Gitarrenschmusepop mit schlecht eingearbeiteten Beats und ekelerregend guter Laune, dann ist das hier genau deine Tasse Tee. Soll es ja geben. Ich für meinen Teil würde Miles Haughton allerdings gerne sein bescheuertes Grinsen, das in jedem beschissenen Wort, das er von sich gibt, vor meinem inneren Auge erscheint, aus der Visage prügeln, denn dieses Album ist eine mentale Zumutung für jeden, der wenigstens noch die Hälfte beisammen hat.

ST. FU

BEACH FOSSILS
Clash The Truth
Captured Tracks / Cargo Records
2010 erschien das Debütalbum, und es klang nach Lo-Fi und Reverb, und vor allem nach Gleichgültigkeit, und ordentlich fucked up auf so eine unabsichtliche Art. Im Prinzip wie ein chaotisches Teenie-Zimmer im Elternhaus. Clash The Truth nun klingt im Gegensatz dazu ungefähr so, als wäre Mutti eingebrochen und hätte mal ordentlich aufgeräumt. Plötzlich sieht alles netter aus, freundlicher, riecht gut und wirkt so harmlos, als könnte ab sofort auch mal fremder Besuch kurz reinkucken, ohne sofort in Schockstarre zufallen. Leider ist das Zimmer jetzt eher für ein IKEA-Fotoshooting geeignet als für Lässigkeit.

COLE SCHMIDT

CONNY OCHS
Black Happy
Exile On Mainstream
Fragte man meine Oma nach einem Treffen mit ihrer Schwester, ob sie sich denn amüsiert hätten, lautete die Antwort regelmäßig: „Oh ja, war schön, wir haben so geweint.“ Ich musste zum Mann werden, um diesen scheinbaren Widerspruch für mich aufzulösen. Ähnlich geht es mir heute, wenn ich in der Townes-Van-Zandt-Dokumentation Heartworn Highways sehe, wie er einem alten Schmied „Better Than Waiting Around to Die“ vorspielt und der am Ende still vor sich hin schluchzt. Und das ist auch die Art von „Schönheit“, die Conny Ochs unter dem mehr als passenden Titel Black Happy konserviert hat—bescheiden, aber epochal.

WEST-LB

INC.
No World
4AD
Seit es inc. gibt, ist Frieden in meine WG eingekehrt. Immer wenn ich vergessen habe, den Geschirrspüler auszuräumen/Klopapier zu kaufen/die Miete zu zahlen und meine Mitbewohnerin langsam Wutschaum vorm Mund entwickelt, lege ich diese Platte auf—das wirkungsvollste Weichspülmittel unter den aktuellen Neo-R‘n‘B-Designs. Sofort hört man nur noch Kätzchen schnurren. Auch der popkritischen Begutachtung kann No World einigermaßen standhalten. Wo die anderen urbanen Leisetreter wegen ihrer Variationshemmung Gefahr laufen, im Meer der eigenen Seichtness zu ersaufen, schaffen es inc. immer mal wieder, das Instrumentierungs- und Songwritingruder herumzureißen. Hey, How To Dress Well—das hätte dein letztes Album sein können!

SCHMUTZFINC.

SUUNS
Images Du Futur
Secretly Canadian/Cargo Records
Ein Album unter der Hintergrundbeschallung studentischer Proteste aufzunehmen, birgt per definitionem die Gefahr, in einem peinlichen, überdramatisierenden Potpourri starker Gefühle gegen Mensakürzungen und schlechte Stühle mit Zither, Bongo und Shakalaka zu enden. Ganz ehrlich: Das Klischee des ungepflegten, todlangweiligen Ethnologiestudenten ist wahr. In Kanada scheint mal wieder alles anders zu sein. Oder die Story, dass Suuns‘ zweites Album zeitgleich mit dem kitschigen Foto des kuschelnden Pärchens im Straßenkampf entstanden ist, läuft unter der Kategorie „PR, die funktionieren könnte“. Jedenfalls ist es bemerkenswert intensiv, aber trotzdem frei von peinlichen Revoluzzerparolen. So, liebe beknackte Studentenidioten, kann man auch reflektieren.

RIOT PUSSY

YOUNG DREAMS
Between Places
Modular

Ach, Indiepop. So mühsam wie mit dir war das auch noch bei keiner Genrebezeichnung. Nachdem du schon eine Weile als Spottzuordnung herhalten musstest, hättest du doch eigentlich elegant von der Bildfläche verschwinden können. Zielloses Herumgeeiere bezeichnend, ideenlose Weder-noch-Musik, deren Gehalt sich irgendwann auch nur noch mit „klingt wie …“-Floskeln beschreiben ließ, wenn hier wieder eine „neue“ Platte auf dem Tisch landete, die irgendwo zwischen Portland und Brooklyn und London von sorgenlosen Vollbartträgern hergestellt wurde. Aber da eben kein Nachfolger für dich in Sicht ist, musst du eben schon wieder ran: Diese Platte ist öder Indiepop, der, wenn er mal groß ist, vielleicht kurz an Animal Collective riechen darf, im präpubertären Stadium wie jetzt gerade aber nur einen sehr, sehr tristen Beach-Boys-Abklatsch mit Teenie-Weltschmerz darstellt. Kirchentagsmusik.

ART GARFIELDING



HETEROTIC
Love & Devotion
Planet Mu
Labelchef Mike Paradinas ist ein verdienter Mann. Mit seinem Label und als Musiker mit 100 Pseudonymen hat er in den 90ern wie nur wenige andere Briten dafür gesorgt, dass Elektronik nicht vorzeitig in Sophistication erstickt ist. In den Nullern wurde es um ihn als Künstler etwas stiller, wahrscheinlich haben ihm seine Teppichratten als Energievampire auch noch die letzte Kreativität ausgesaugt. Ist ja OK und niemand will ihm seine Vaterfreuden madig schreiben, aber: eine Pärchenplatte mit Engelschören und Kinderstimmen? Really?

RITCHIE JAMES

JULIA KENT
Character
Leaf
An positiven Tagen, wenn die Welt wie gemalt erscheint, wenn Ponys Regenbogen essen und Schmetterlinge pupsen, sehe ich eine goldene Zukunft für Musiker, die als schwierig oder eigen gelten. Das hilfreiche Konzept ist ein alter Hut, weniger Revolution als Regression: Mood-Music. Denn oft machen selbst Weirdos Musik, die man ohne Sekundärliteratur einfach besser genießen kann. Was interessiert dich auch der Überbau, wenn sich ihr drittes Soloalbum mit kleinen Streicherloops und zarten Fieldrecordings für dich zu einem Klassiker moderner Mood-Music entwickeln könnte: Music to watch days passing by (by (bye-bye)) …

MINNIE MALSTA


SCHORSCH KAMERUN
Der Mensch lässt nach
Buback

Der Mensch lässt nach nervt kolossal. Das ist natürlich Absicht, denn es ist ja gerade unser bequemes Streben nach nicht-nerviger Unterhaltung, das Schorsch Kamerun seinerseits nervt, weswegen er uns im Grunde nur unsere eigene Nervigkeit in ziemlich nerviger Weise zurückspiegelt. Spätestens hier sollte klar sein: Falls du mit Brecht’scher Dialektik nichts anfangen kannst, ist dieses Album nichts für dich. Der Rezensent selbst unterstützt das Vorhaben in der Theorie, hat es aber in der Praxis nicht geschafft, die Platte bis zum Ende anzuhören. Es ist doch immer das gleiche mit diesen marxistischen Weltverbesserern: Vermutlich haben sie mit allem Recht, aber sobald sie den Mund aufmachen, wird einem schwindelig.

SAD FREELANCER

**

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