Nenn mich Daddy: Wie ich für meinen vaterlosen Freund den Sohn spielte

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Nenn mich Daddy: Wie ich für meinen vaterlosen Freund den Sohn spielte

Ich verliebte mich einen einen Mann, der 20 Jahre älter war als ich. Dann wurde ich zu seinem „Sohn".

Mai 2013: Mit 21 lerne ich Tim* bei Grindr kennen. Er ist 47 und lebt in San Francisco. Ich wohne in Stanford, was mit dem Zug nur eine Stunde entfernt liegt. Er sieht aus wie die Werbefigur der Brawny-Papierhandtücher, aber mit seiner Glatze und seinem Bart hat er auch etwas vom Weihnachtsmann. Seine Nase ist groß und markant und seine Augen sind immer auf der Suche nach etwas, das ich noch nicht verstehe. Ich finde ihn attraktiv.

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Am zweiten Tag unseres ersten Treffens erzählt er mir, dass er mein Daddy sein will.

Während er mit seinem Handy herumspielt, schreibe ich an meiner Hausarbeit. Ich frage ihn, ob ich der jüngste Typ bin, mit dem er jemals ein Date hatte.

„Nun, ja", antwortet er. „Der Altersunterschied ist hier wohl schon am größten. Aber ich bin es inzwischen gewohnt, den Daddy zu spielen."

Daddy. Ein Typ, der mit 47 noch nicht den Partner fürs Leben gefunden hat und dazu noch nie Kinder hatte. Er sieht sich selbst gerne als „Vater".

„Ganz ehrlich", fährt er fort, „ich stehe drauf, wenn man mich Daddy nennt."

„Warum?"

„Ich selbst hatte niemals wirklich einen Vater. Meiner hat uns verlassen, als ich noch richtig klein war." Seine Stimme ist ruhig.

„Es ist schön, in diese Rolle zu schlüpfen und als der Vater aufzutreten, den ich nie hatte. Deshalb auch mein Aussehen."

Er deutet auf seine Muskeln und seine breite Brust. Jetzt verstehe ich alles. Während er ohne Vater aufwuchs, entwickelte sich Tim zu seiner eigenen Version einer Vaterschaft, die er selbst nie erlebt hat: ein stählerner Arnold-Schwarzenegger-Körper mit dem Herzen eines Dustin Hoffman.

„Ich will, dass du mich Daddy nennst", meint er. Er ist gierig, ich bin ängstlich. Er fängt an, meine Ohren zu massieren.

„Nenn mich Daddy. Ich würde mich gerne um dich kümmern."

Meine emotionale Verfassung ist nicht gerade die beste und ich kann einfach nicht Nein sagen. Außerdem klingt das Ganze recht lustig. Ich nicke und willige im Stillen ein: Ich werde seinen Sohn spielen.

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Bei Tim ist die ganze Sache etwas einfacher: Er hatte nie wirklich einen Vater und deswegen will er jetzt einer sein. Tim ist nicht so wie die anderen „Daddys", die ich mit Hilfe der bekannten Homo-Dating-Apps kennengelernt habe. Er gehört nicht zu der Subkultur von Typen, die sich für weise, alte Männer halten. Die sind anders drauf—für die ist das Dasein als „Daddy" nicht in der schmerzlichen Erfahrung verwurzelt, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Meiner Meinung nach versuchen sie oft einfach verzweifelt, sich sexy zu fühlen, wenn ihre ergrauenden, erschlaffenden und aufgebenden Körper ein anderes Bild abgeben. Vielleicht haben sie ja auch wirklich einen Vaterkomplex, aber normalerweise interessiert mich das nicht.

Tim war drei Jahre alt, als sein Vater die Familie verließ. Er ist auf einer Farm in der Nähe der südkalifornischen Stadt Bakersfield groß geworden. Ich weiß nicht genau, warum sein Vater ging, weil Tim mir das nie erzählt hat. Ich kann also nur Vermutungen anstellen: eine andere Frau, krankhaftes Fernweh, eine Männlichkeitskrise zum falschen Zeitpunkt oder eine Eingebung, dass er eigentlich kein Vater sein wollte.

Tims Mutter war eigentlich Hausfrau, musste dann allerdings als Sekretärin arbeiten, um die Familie durchzubringen. Jetzt wartet sie in einem Altersheim, das sich ganz in der Nähe ihres alten Zuhauses befindet, auf den Tod.

Tim studierte dann Mitte der 80er Jahre Musik an der UCLA. Heute ist er für die Gestaltung von Theater-Sets verantwortlich. Er hat rote Haare, war in jüngeren Jahren allerdings blond. Das weiß ich, weil er mir kurz nach dem Beginn unserer Beziehung ein Foto von sich im Alter von 11 oder 12 Jahren zeigt. Darauf strahlt er bis über beide Ohren und ist umgeben von Ballons, die wie Penisse anmuten.

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„Genau da ist mir klargeworden, dass ich schwul bin", meint er schmunzelnd. „Mein Vater wäre total ausgerastet."

Die eine Hälfte des Jahres verbringt Tim in Prag, die andere Hälfte in San Francisco. Er arbeitet vielleicht am Theater, aber er kleidet sich Gott sei Dank nicht so. Riesengroße Plugs zieren seine Ohrläppchen—einer schwarz, der andere grün—und sie fallen beim Schlafen immer raus. Oft trägt Tim nur ein langweiliges orangenes Flanell-Hemd. Außerdem ist er kaum 1,70 Meter groß.

Tim fährt kein Automatikauto und lässt das Schalten wie einen Tanz aussehen. Bei unserem ersten Date fährt er uns zu einem Thai-Restaurant, das sich nur ein paar Blocks von seiner Wohnung entfernt befindet. Wir haben viel zu bereden. Ich bin fasziniert von seinem facettenreichen Leben und ihm gefallen die netten und lustigen Geschichten meiner berühmten Universität. Tim ist in der Ära großgeworden, in der auch meine Lieblingsfilme gedreht wurden. Deshalb kann ich mit ihm über Dinge reden, von denen Typen meines Alters keine Ahnung haben: Zum Beispiel darüber, wie Liza Minelli vor ihrer Entwicklung zur Schwulen-Ikone eine talentierte Schauspielerin war oder wie Mickey Rourke vor seinem Zerfall ebenfalls einiges zu bieten hatte. Nach dem Essen gehen wir zurück in seine Wohnung. Wir teilen uns eine Flasche Wein und er fragt mich, ob er mich küssen darf. Er darf.

Es ist sehr verlockend, diesen Charakter zu spielen und so zu tun, als wäre ich nur ein unkultivierter, junger Homosexueller.

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Ich wecke ihn am nächsten Morgen auf und wir verbringen gemeinsam den Tag. Um die Ecke trinken wir einen Kaffee. Wir gehen einkaufen. Er schenkt mir neue Ohrringe—ich habe mir vor ein paar Monaten Ohrlöcher stechen lassen, die sich jetzt entzündet haben. Er bereitet mir ein Hausmittelchen zu, mit dem ich die Wunden behandeln soll. Er kümmert sich um mich.

Wir sehen uns quasi jedes Wochenende und unsere Dates laufen immer gleich ab: Er lädt mich zum Essen ein und danach hören wir uns in seinem Apartment seine Lieblingsopern oder Essays von Renata Adler an. Ich stelle mich dumm und tue so, als hätte ich davon noch nie etwas gehört.

„Also den Namen habe ich natürlich schon mal irgendwo aufgeschnappt", sage ich jedes Mal, wenn er von ihr redet. „Aber wirklich gelesen habe ich von ihr noch nichts. Ich weiß nur, dass sie ziemlich schlau ist."

„Renata ist ein Muss", schießt es aus ihm heraus. „Ich höre sie immer, wenn ich nach Half Moon Bay fahre. Ich bin mir sicher, dass es dir gefallen wird."

Es ist sehr verlockend, diesen Charakter zu spielen und so zu tun, als wäre ich nur ein unkultivierter, junger Homosexueller. An der Universität versuche ich ständig, meinem Umfeld zu beweisen, wie intellektuell ich doch bin. Ich habe immer Angst, dass alle schlauer sind als ich—dass alles nur Fassade ist. Tim gegenüber muss ich jedoch nichts beweisen. Er geht davon aus, dass ich quasi keinen Geschmack besitze. Für ihn bin ich einfach nur ein weiteres Immigranten-Kind, das einen guten Schulabschluss gemacht hat. Vielleicht bildet er sich ein, dass ich mich eines Tages zu einem Menschen mit ausgereiften Vorlieben entwickeln werde. Ihm gefällt, dass er in mir Potenzial sieht und er derjenige ist, der es rausbringen wird. Ich spiele mit. Immerhin habe ich mir diese Erholung vom ganzen Uni-Stress redlich verdient.

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Für ihn bin ich der süßeste Twink der Welt. Wenn er mich als „wunderschön" bezeichnet, dann muss ich ihm das einfach glauben. Seine Gefühle scheinen bedingungslos—eben genau so, wie die Liebe eines Vaters sein sollte.

Wir schlafen zusammen ein und wachen zusammen wieder auf. Während ich meine Hausarbeiten schreibe, kocht er für mich. Wir gehen zusammen in den Supermarkt und kaufen auf dem Bauernmarkt unser Obst und Gemüse ein. Er gibt mir Anweisungen. Er tut dann so, als sei er wütend, wenn ich die einfachsten Dinge nicht hinbekomme—wie zum Beispiel den Gang mit den Seifen zu finden. Wenn ich etwas richtig mache, ihm beim Einpacken der Lebensmittel helfe oder seiner Idee zustimme, den schwulen Nachbarn am Abend „mitspielen" zu lassen, dann bin ich für ihn ein „guter Junge".

Ein paar Wochen lang fühlt es sich angenehm und zugleich surreal an, den Sohn eines Mannes zu spielen, der nicht mein echter Vater ist—vor allem, wenn der echte Vater am anderen Ende des Landes wohnt. Es macht auch mit 21 noch richtig viel Spaß, so zu tun, als ob. Außerdem lenkt mich das Ganze vom stressigen Rhythmus des Uni-Lebens ab. Es ist allerdings offensichtlich, dass es sich hier nur um ein Rollenspiel handelt. Er kann nicht mein echter Vater sein, denn im Gegensatz zu ihm habe ich dunkle Haut. Es ist fast wie an Halloween: Er geht als Daddy, ich als Sohn.

Wenn ich mit meinen Freunden auf dem Campus abhänge, dann schwärme ich wie ein verliebter Teenager von Tim. Ich erzähle davon, wie er in mir das Gefühl aufkommen lässt, ich sei etwas Besonderes. Er ist der erste Mann, der mich seit meiner Kindheit mit seiner vollen und unverfälschten Aufmerksamkeit fast schon überschüttet. Andere Typen sind da eher das genaue Gegenteil: Sie finden mich zwar süß, aber gegen die umwerfenden weißen Homo-Adonisse vom Campus kann ich einpacken.

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Tim sind solche Typen egal. Für ihn bin ich der süßeste Twink der Welt. Wenn er mich als „wunderschön" bezeichnet, dann macht er das mit einer solchen Ehrlichkeit, dass ich ihm einfach glauben muss. Seine Gefühle scheinen bedingungslos—eben genau so, wie die Liebe eines Vaters sein sollte.

Den Sommer verbringen wir an unterschiedlichen Orten. Ich mache ein Praktikum in Washington D.C., während er in San Francisco seinem Erwachsenen-Job nachgeht. Mit der Zeit und mit der Entfernung zwischen uns wird Tim in meinem Kopf so etwas wie mein fester Freund. Er zieht es in Erwägung. Er behandelt mich wie ein Haustier.

Wir treffen uns auch mit anderen Männern. Zwar nennt mich Tim einen „bösen Jungen", wenn ich ein Date habe, aber ich weiß, dass er es nicht ernst meint. Wir erzählen uns dann immer, wie es gelaufen ist—manchmal OK, meistens beschissen. Keiner der Typen, mit denen ich ausgehe, ist so alt wie er. Keiner der Typen, mit denen er ausgeht, sieht aus wie ich. Sie sind alle weiß und mindestens 30. Wenn ich wieder an die Westküste ziehe, dann haben wir uns ja wieder.

In diesem Sommer entwickeln wir uns zu Konzepten: Ich bin der Sohn, er der Vater—unsere Unterhaltungen beschränken sich auf Halbsätze, in denen der Tumor der Fantasie metastasiert. Unsere Dynamik ist im Gegensatz zu den meisten Liebesbeziehungen zweckmäßig und von logischer Natur.

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„Das Date gestern war ein Albtraum", erzähle ich ihm eines Nachts am Telefon. Ich rede dann ein bisschen über den Zionisten, der in Berkeley gerade seinen Abschluss macht. Er ist in meinem Alter und ich finde seinen Charakter abstoßend: Er wirkt immer nervös und flattrig—wie Diane Keaton, bloß ohne Charme.

„Du wirst in deinem Leben noch viele schreckliche Dates haben", beruhigt mich Tim. „Genauso wie schlechten Sex. Aber das ist OK. Das wirst du noch früh genug lernen."

Und so läuft es immer ab. Tim wartet darauf, dass ich den Tunnel meiner emotionalen Pubertät verlasse, und tut dabei so, als hätte ich das Ganze noch nicht durchlebt. Von mir aus kann er das gerne machen. Unsere Machtspielchen sind nur auf dem Papier total gestört. Wenn wir miteinander reden, dann werden wir zu einwandfreien Parodien von uns selbst und lösen uns von unseren vorhergegangenen Erfahrungen. Unsere wahren Probleme lassen wir unangetastet und öffnen uns auch weiterhin nur den Leuten, die wir wirklich lieben.

Als ich im September wieder nach San Francisco zurückkehre, hat er trotzdem höchste Priorität.

Er holt mich vom Bahnhof ab und wir gehen in ein indisches Restaurant bei ihm um die Ecke. Neben uns sitzt eine indische Großfamilie. Ich stelle mir vor, wie sie abfällig über mich reden, und das tut weh. Sie sind wahrscheinlich nur von Indien in die USA gezogen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Und dann müssen sie im beim Essen neben der Horror-Vision von dem sitzen, was dieses Land aus den Nachkommen machen kann, egal wie sehr sie sich in der Schule und im Studium auch anstrengen. Wenn deine Jungs nach Amerika kommen, dann werden sie zu Twinks mit Grübchen, die von ihrem Elfenbeinturm herabsteigen, um doppelt so alte Sugar Daddys zu daten.

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Tim wartet darauf, dass ich den Tunnel meiner emotionalen Pubertät verlasse, und tut dabei so, als hätte ich das Ganze noch nicht durchlebt.

In dieser Nacht erlebe ich zum ersten Mal, wie seine Fassade bröckelt. Nachdem wir gegessen haben, will Tim Punch-Drunk Love anschauen. Ich meine daraufhin, dass ich dank meines Jetlags wahrscheinlich sowieso einschlafen werde, aber er besteht darauf und ich gebe nach. Er sucht das Wohnzimmer nach der DVD ab und haut mehrere Filme auf den Glastisch. Dabei zittern seine Hände so stark, dass der Tisch komplett zerspringt. Ich kann das Ganze vom Schlafzimmer aus mithören und er schreit mir schließlich ins Gesicht, dass ich daran schuld sei, dass er sich die Hand aufgeschnitten hat. Ich verarzte ihn, bis er nicht mehr blutet.

Mein Scheinvater ist am darauffolgenden Tag total gereizt und sichtlich gedemütigt. Zum ersten Mal fühlt sich diese ganze Scharade wie eine echte Vater-Sohn-Beziehung an. Jetzt kümmere ich mich um ihn und frage, wie es ihm geht. Dabei wechsle ich auch ab und an den Verband und schaue, wie die Wunde an seiner Hand verheilt. Schließlich bringt er mich zum Bahnhof und ich frage mich, ob wir uns noch einmal wiedersehen werden.

Ein paar Wochen später beendet er unsere Beziehung per Mail.

„Ich sehe mich einfach nicht mehr als sexuell attraktiven Mann an", schreibt er. „Ich hatte das Gefühl, dass du mich fetischisiert hast. Ich bin für dich einfach nur der Daddy mit der attraktiven Brust—und das ist nicht schön."

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Eigentlich sollte meine spontane Reaktion von selbstgerechtem und jugendlichem Zorn geprägt sein—verdammt noch mal, immerhin wurde ich gerade zum Waisen gemacht! Ich stecke seine Worte jedoch problemlos weg. Er kennt mich nicht gut genug, um mich da zu treffen, wo es weh tut. Und das ist nämlich die Art Wunde, von der ein richtiges Beziehungsende abhängig ist. Irgendwann hätte das Ganze sowieso nicht mehr funktioniert, dieser liebliche Tanz zweier Menschen, die den Schmerz des jeweils anderen nicht verstehen. Nachdem es jetzt vorbei ist, schwöre ich mir, dass ich nie wieder eine solch komische Beziehung eingehen werde.

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Ein paar Monate später habe ich einen Freund, der nur ein paar Tage älter ist als ich—und nicht ein paar Jahrzehnte. Er ist genauso unreif wie ich. Genau das ist es, was ich an ihm so mag. Das macht unsere Streitereien viel intensiver und bedeutsamer. Seine Beleidigungen sind so präzise wie ein Schweizer Uhrwerk: Er weiß genau, was er sagen muss, damit ich mich hundeelend fühle. Und genau so muss es meiner Meinung nach auch sein.

Tim und ich halten währenddessen noch sporadisch Kontakt. Alle paar Monate schreibe ich ihm eine Mail und frage, wie es ihm geht. Die Antworten fallen immer recht kurz aus: „Gut. Kann mich nicht beklagen. Hoffe, bei dir auch." Die Zeiträume zwischen unseren Nachrichten werden immer länger und irgendwann wird sich das Ganze komplett im Sand verlaufen.

Dort, wo ich jetzt lebe, treffe ich ständig irgendwelche Typen, die wie Tim aussehen. Sie haben diesen gewissen „Look": ein frischrasierter Glatzkopf mit Vollbart. In den Ohrläppchen große Plugs. Ein markantes Gesicht. Diese Männer machen mich fertig. Sie sind nie jünger als 37. Sie haben all das, was ich an Tim so hasse. Diese übertriebenen Augen, immer auf der Suche nach einem Sinn, der nicht da ist. Das sind die Augen von Kindern in Männerkörpern: Diese Menschen versuchen verzweifelt, sich um jemand anderes zu kümmern, um sich nicht um sich selbst kümmern zu müssen.

Inzwischen schreibt Tim nur noch selten einen Facebook-Post. Ich glaube, er ist gerade in Prag. Vielleicht kommt er bald wieder zurück nach San Francisco. Wer weiß, ob er sich derzeit mit jemandem trifft oder ob er wirklich ein abstinentes Leben führt—so wie er es geschworen hat. Vielleicht ist er immer noch auf der Suche nach einem Sohn, dem er die Liebe geben kann, die er selbst nie bekommen hat. Wahrscheinlich hat er diese Suche jedoch schon aufgegeben.

Über Tims Vater mache ich mir öfter Gedanken als über Tim selbst. In meinem Kopf ist die Vorstellung herangereift, dass Tims Vater ebenfalls ein richtiger „Daddy" ist.

Ich stelle ihn mir muskulös vor. Genau wie Tim kommt er „machohaft" und nicht verweichlicht rüber. Seine Stimme ist voluminöser als die von Tim, die ja eher ruhig und besorgt klingt. Vielleicht hat er ebenfalls rotes Haar. Vielleicht ist er aber auch blond. Ich habe keine Ahnung, wie es mit der Genetik bei roten Haaren läuft. Er hat allerdings keine Piercings. Vielleicht lebt er noch und geht mit viel jüngeren Frauen aus—genauso wie sein Sohn mal mit viel jüngeren Männern ausgegangen ist. Vielleicht kümmert sich jemand um ihn, aber vielleicht hat er auch gelernt, sich um sich selbst zu kümmern. Vielleicht ist er schon tot. Vielleicht ist er einsam gestorben.

Mit der Zeit ist Tim klargeworden, dass er sich einfach nicht als Vater eignet. Seine Vorstellung vom Dasein als Vater war naiv und bestand nur aus kleinen Portionen bedingungsloser Liebe ohne die harte und anstrengende Arbeit. Irgendwann werden wir eben alle wie unsere Väter.

*Namen wurden geändert.