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The Outta My Way, I’m Walking Here Issue

Mit Bulldozern auf die Familien mutmaßlicher Terroristen schießen

Die israelische Strategie, Wohnhäuser zu zerstören, soll Menschen dazu bewegen, potenzielle Terroristen aus der eigenen Familie ans Messer zu liefern. Alice Speri hat sich angesehen, wie grandios das funktioniert.

Ein Haufen Schutt ist alles, was von der Wohnung der Schaludis noch übrig ist. An einer der wenigen verbliebenen Wände zeigen die Fetzen babyblauer Tapete mit Mickey und Minnie Mouse, die in einem Heißluftballon fliegen, dass hier einst die beiden Jungen schliefen. An der zerbröckelnden Wand des Zimmers der Mädchen steht in krakeliger Kinderschrift das englische Wort „Love," aber von rechts nach links, als wären es arabische Buchstaben.

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Die winzige Wohnung befindet sich in dem armen und dicht besiedelten Silwan-Viertel in Ostjerusalem, wo sich wie in einer Favela die Häuser übereinandertürmen, ganz in der Nähe eines der umkämpftesten Stückchen Erde der Welt: dem Tempelberg.

Der Wohnsitz der Schaludis wurde hier letzten November von den israelischen Behörden als Vergeltung für ein vom ältesten Sohn verübtes Attentat in die Luft gejagt. Abdel Rahman Schaludi war im Oktober mit einem Auto in einem anderen Stadtviertel in eine Ansammlung von Fußgängern gerast, wobei ein drei Monate altes Mädchen und eine junge Frau aus Ecuador ums Leben kamen.

Die Bestrafung von Angehörigen durch die Zerstörung ihrer Häuser ist seit Jahren ein fester Bestandteil der israelischen Strategie gegen den palästinensischen Widerstand—eine Praxis, die ihren Höhepunkt während der Zweiten Intifada in den frühen 2000ern fand. Nach 2005 wurde sie fast völlig eingestellt, da eine Studie des israelischen Militärs ergeben hatte, dass das Vorgehen so gut wie keine abschreckende Wirkung auf potenzielle Gewalttäter hatte.

Die Befürworter der Strategie hatten angenommen, dass die Furcht vor der Zerstörung ihrer Häuser Familienangehörige dazu bewegen könnte, potenzielle Angreifer bei den Behörden zu melden. Die Kommission muss­te aber feststellen, dass dies lediglich in 20 Fällen passiert war—während in derselben Zeit 660 Häuser abgerissen wurden. Wenn überhaupt, so die Kritiker, führe die Praxis nur dazu, die Ressentiments noch weiter zu schüren, Unschuldige zu bestrafen und verbitterte Geschwister oder gar ganze Familien in die Radikalisierung zu treiben.

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Zudem macht sich Israel mit der Praxis, die laut Genfer Menschenrechtskonvention verboten ist und von der internationalen Gemeinschaft geächtet wird, auch international keine Freunde. Menschenrechtsgruppen auf der ganzen Welt haben sie als eine unrechtmäßige Form der „kollektiven Bestrafung" verurteilt und­—in besetzten Gebieten wie Ostjerusalem—als „Kriegsverbrechen". Das US-Außenministerium nennt die Praxis „kontraproduktiv".

Trotz des Widerspruchs der internationalen Gemeinschaft und sogar innerhalb des israelischen Militärs, hat Benjamin Netanjahu die Praxis wiederbelebt.

Das Haus der Schaludis war das dritte, das es im November erwischte.

„Netanjahu glaubt, dass er mit Gewalt gegen die Palästinenser Frieden erreichen wird", sagte mir Enas Schaludi, Abdel Rahmans Mutter letzten Monat. „Er versteht nicht, dass Gewalt zu mehr Gewalt führt."

Die Polizei erschoss Abdel Rahman am Tatort des Anschlags—den seine Familie für einen Unfall hält. Sie meinen, dass er sich nach mehreren Begegnungen mit Shin Bet, dem israelischen Inlandsgeheimdienst, in einem verwirrten und deprimierten Zustand befand. Ein paar Tage nach dem Anschlag tauchten Offiziere in der kleinen Wohnung auf, die er sich mit seinen Eltern und fünf Geschwistern geteilt hatte. Sie vermaßen die Wohnung und gingen wieder. Dann, wenige Wochen später, erhielten die Schaludis eine Vorwarnung, die ihnen 48 Stunden gab, ihr Haus zu verlassen und ein neues zu finden.

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„Der Vater der Familie lehnte es ab, vor Gericht zu gehen oder sich vertreten zu lassen", sagte mir Lea Tzemel, eine israelische Anwältin, die Palästinenser vor Militärgerichten verteidigt und der Familie Hilfe angeboten hatte. „Er glaubte nicht an das israelische Rechtssystem." Wobei die Familie wohl auch auf rechtlichem Wege kaum eine Chance gehabt hätte. Seit die Praxis vermehrt angewendet wird, war nur ein einziger Widerspruch erfolgreich—im Jahr 1993.

Am darauffolgenden Mittwoch trafen mitten in der Nacht Dutzende bewaffnete Offiziere am Haus der Schaludis ein.

„Sie befahlen allen im Gebäude, das Haus zu verlassen, einschließlich der Babys und der alten Männer und Frauen", sagte Enas. „Sie gaben uns nur fünf Minuten, um uns anzuziehen. Sie ließen uns noch nicht einmal auf die Toilette gehen."

Die Familie und die Nachbarn wurden zu einem Zelt gezerrt, dass die Offiziere in der Nähe aufgebaut hatten, und dann hörten sie eine laute Explosion und sahen Licht und Staub aus Richtung ihres Hauses kommen. Als sie endlich zurück durften, war ihre Wohnung verkohlt und die ihrer Nachbarn komplett verwüstet, wie Enas sagt.

Tage später war der Betonbrocken, der auf dem vor dem Haus geparkten Auto eines Nachbarn gelandet war, immer noch da.

Hunderte jüdische Israelis sind in den letzten Jahren auf die palästinensische Seite der Stadt gezogen, wo sie Häuser bauen oder kaufen, obwohl das Territorium von der internationalen Gemeinschaft als besetzt angesehen wird. Die Palästinenser nennen sie Siedler, aber sie selbst sind der Meinung, nur ihr vorbestimmtes Schicksal zu erfüllen, wobei sie große Unterstützung von den israelischen Behörden erfahren.

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Zwei palästinensische Männer wurden im letzten Jahr hingerichtet und ihre Häuser zerstört, nachdem sie drei junge Siedler entführt hatten, was eine intensive Fahndung zur Folge hatte, die den Konflikt in der Westbank und Jerusalem erneut entfachte, und letztendlich einen neuen Krieg auslöste.

Die Israelis, die Mohammed Abu Chdeir, einen palästinensischen Jungen aus Ostjerusalem, entführten und ermordeten, wurden lediglich verhaftet.

„Ihre Häuser wurden nicht zerstört", sagte Enas. Das Gesetz zur Zerstörung der Häuser gilt nicht für jüdische Israelis, die für Angriffe auf Palästinenser schuldig gesprochen werden.

Israelische Beamte, die behaupten, die Maßnahmen dienten zur Abschreckung und nicht zur Bestrafung, sagen, dass auf jüdischer Seite die Gewalt nicht in einem Maße verbreitet sei, das derartige Maßnahmen rechtfertige. „Abu Chdeir war ein scho­ckierender Fall. Aber solche Vorkommnisse treten nicht oft genug auf, um im jüdischen Sektor auf Abschreckungsmaßnahmen zurückgreifen zu müssen", sagte Aner Hellman, ein israelischer Staatsanwalt, nachdem die Wiedereinführung der Strategie von acht Menschenrechtsgruppen vor Gericht angefochten worden war.

Enas, die wenig von einem System erwartet, von dem sie sagt, das es nicht zu ihrem Schutz gedacht sei, nahm den Verlust ihres Hauses ebenso stoisch hin wie den ihres Sohns. Sie verteilte die wenigen Besitztümer der Familie unter ihren Verwandten und fand bei ihrem Bruder Unterschlupf.

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Während die Strafabrisse von Häusern in Jerusalem gerade erst wieder eingeführt wurden, ist die Zerstörung von Häusern aus anderen, bürokratischeren Gründen in den letzten Jahren gnadenlos fortgesetzt worden. Einen neuen Höhepunkt erreichte die Praxis vor wenigen Monaten mit dem neuerlichen Vorstoß der städtischen Behörden gegen das Erbauen von Wohnhäusern ohne Baugenehmigung.

Obwohl die meisten Palästinenser in Ostjerusalem keine israelischen Staatsbürger sind, fallen sie unter die Gesetzgebung der israelischen Behörden und die komplexen und—aus Sicht der Palästinenser—diskriminierenden Baugesetze der Stadt.

Anträge auf Baugenehmigung können bis zu 3.700 Euro kosten, ihre Bearbeitung kann Jahre dauern und sie werden zudem in den meisten Fällen abgelehnt. Aber die Bürokratie kann die demografischen Entwicklungen nicht verhindern und während die palästinensischen Familien weiter wachsen, haben die Leute begonnen, ohne behördliche Genehmigungen zu bauen oder weitere Stockwerke zu existierenden Gebäuden hinzuzufügen. Die Behörden schicken nun in regelmäßigen Abständen Warnungen und wenig später Bulldozer und schließlich Rechnungen an die Familien, da diese für die Kosten des Abrisses nicht genehmigter Bauten haftbar sind.

In Silwan ist das bei vielen Häusern der Fall gewesen. Chaled Zeer, ein Vater von sechs Mädchen, musste innerhalb von zwei Jahren zwei Mal mitansehen, wie sein Haus auf einem grünen Hügel mit einem fantas­tischen Blick auf den Felsendom zerstört wurde und seine Familie in einer nahegelegenen Höhle unterkommen musste. Zeer sagte mir, dass die Hausabrisse ein vorsätzlicher Versuch seien, die Palästinenser aus ihren Wohnvierteln zu vertreiben, während sich weitere Siedler unbehelligt hier niederlassen.

Wie sein Heim sind auch viele andere Häuser in Ostjerusalem dem Abriss geweiht. Die als Strafmaßnahmen durchgeführten Abrisse verärgern die Anwohner, aber verblassen angesichts der methodischen und sterilen Brutalität anderer städtischer Strategien: Jerusalem hat seit dem Jahr 2000 über 3.000 palästinensische Häuser dem Erdboden gleichgemacht.

„Sie verstehen unser Schicksal, weil sie in Silwan wohnen", sagte Enas im Bezug auf ihre Kinder und zeigte auf einen Hügel auf der anderen Straßenseite voller Häuser wie dem ihren. „Sie haben viele Häuser gesehen, die in dieser Gegend abgerissen worden sind. Auch diese Häuser werden von den Israelis zerstört werden."